Weniger Print-Ausgaben, zusammengelegte Redaktionen, weniger Wettbewerb: Kann der Lokaljournalismus seine Funktion für die Demokratie heute noch erfüllen? Darüber diskutierten vier Gäste aus Politik und Medien mit Journalistik-Studierenden der TU Dortmund.
Eine ältere Person liest in der Bahn gemütlich ihre Zeitung. Gelegentlich ist zu hören, wenn diese eine Seite umschlägt und anschließend die Zeitung zurechtfaltet. Ein einzigartiges Knistern und Rascheln. Ruft man sich diese Szene vor Augen, stellt man fest, dass sie im Alltag immer seltener erlebt wird. Stattdessen sind die meisten Menschen in ihre Smartphones vertieft. Ob sie sich dort auch über die neuesten Nachrichten der Region informieren?
Die meisten Bürger interessieren sich für das, was in ihrem Ort und ihrer Region passiert. Deswegen haben lokale Medien bei vielen Menschen einen hohen Stellenwert. Dennoch steht der Lokaljournalismus vor großen Herausforderungen: Laut einer Langzeituntersuchung zur Konzentration der Zeitungsbranche in Deutschland sinkt die Pressevielfalt im Lokaljournalismus, da Redaktionen ausgedünnt und geschlossen und Lokalteile von anderen Medien zugekauft werden (Röper, 2020). Gleichzeitig haben Bürger immer mehr alternative Möglichkeiten, sich über lokale Themen zu informieren – zum Beispiel über die sozialen Medien.
Was bedeutet das für die Zukunft des Lokaljournalismus? Kann er seine Funktionen für das demokratische System noch erfüllen? Und wie müssen sich lokale Medien verändern, um mit den Möglichkeiten des Internets mitzuhalten? Darüber diskutierten Studierende der TU Dortmund mit Dr. Wolfram Kiwit (Chefredakteur der Ruhr Nachrichten), Ella Schindler (Vorstandsmitglied der Neuen Deutschen Medienmacher und Redakteurin bei der Nürnberger Zeitung), Prof. Dr. Frank Überall (Politologe und Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes) und Eliza Diekmann (Bürgermeisterin der Stadt Coesfeld).
Funktion und Rolle des Lokaljournalismus für die Demokratie
Was soll der Lokaljournalismus in einer Demokratie leisten? Idealerweise ist er dafür zuständig, die Bürger zu informieren, Missstände aufzudecken und eine pluralistische Meinungsbildung zu fördern. Eliza Diekmann bezeichnet den Lokaljournalismus als eine wichtige Basis für demokratische Strukturen und Bildung. Sie verweist auf Parallelen zwischen Lokalpolitik und Lokaljournalismus. „Nicht die Abgeordneten in Berlin oder Brüssel sind für die politischen Entscheidungen in einem Landkreis zuständig, sondern die Lokalpolitiker vor Ort“, meint Diekmann. Genauso findet sie, dass lokale Berichterstattung die Aufgabe von lokalen journalistischen Medien sei und nicht von überregionalen Medienschaffenden. Außerdem spielt „Nahbarkeit“ für Diekmann eine wichtige Rolle, sowohl im Lokaljournalismus als auch in der Lokalpolitik. Die Menschen hätten großes Interesse daran, zu wissen, was in der Nachbarschaft, im Dorfverein und in der Politik geschieht.
Um dieser Funktionen der gesellschaftlichen und demokratischen Stütze gerecht zu werden, setzt der Journalismus sich selbst hohe Ansprüche. Am wichtigsten sei eine „qualitative ordentliche Berichterstattung“, sagt Ella Schindler. Doch dies sei heutzutage aufgrund ausgedünnter Redaktion, vor allem im Lokaljournalismus, oftmals schwierig. Die Redaktionen seien kaum noch in der Lage, die benötigten Ressourcen wie Geld, Zeit und Personal aufzuweisen.
Ein-Zeitungs-Kreise und zusammengelegte Redaktionen
Fehlende Ressourcen führen dazu, dass in Deutschland immer weniger Medienhäuser zu finden sind. Laut Dr. Wolfram Kiwit gibt es noch über 300 regionale und lokale Zeitungstitel. Doch viele Medienhäuser, die sich „auf alten Zeiten ausruhen, in den gutes Geld verdient wurde“, seien gefährdet, vom Markt zu verschwinden. Die Folge: „Ein-Zeitungs-Kreise“, zusammengelegte Redaktionen und fehlender Wettbewerb. Aus Sicht der Leserschaft ist dies sicherlich ärgerlich, bedauert Dr. Kiwitt, aber der Wettbewerb ist für lokalen Medien kaum finanzierbar. Die Auflagenzahlen von Tageszeitungen gehen stetig zurück und die Bereitschaft in der Bevölkerung, für lokale Medienangebote zu bezahlen, ist häufig gering. „Auch hier in Dortmund, wo es drei Zeitungstitel gibt – Ruhr Nachrichten, WAZ und Westfälische Rundschau – herrscht kaum Konkurrenz.“
Auf die Frage, ob der Lokaljournalismus seine Funktion der demokratischen und pluralistischen Meinungsbildung nicht mehr vollständig erfülle, wenn der Markt immer konzentrierter und wettbewerbsärmer wird, antwortet Frank Überall: „Sicherlich kann man die Erfüllung der demokratischen Funktion in Gefahr sehen.“ Vor allem die Erfüllung eines pluralistischen Meinungsbildes sei in „Ein-Zeitungs-Kreisen“ kaum gegeben. Die fehlende Meinungspluralität wirke sich auf den lokalen politischen Diskurs aus.
Politische Kommunikation und die lokalen Medien
Die Kommunikation politischer Akteure findet heutzutage nicht mehr ausschließlich vermittelt über die klassischen Medien Zeitung, Hörfunk und Fernsehen statt. Soziale Kanäle werden immer häufiger als direkter Kommunikationskanal genutzt, ohne dass journalistische Medien involviert sind. Vor allem in Regionen, in denen kaum noch politische Themen in den Zeitungen zu finden sind, hat sich die politische Kommunikation und damit einhergehend auch der politische Diskurs verändert. Soziale Medien sind ein wichtiger Kommunikationsraum geworden, nicht nur für Politik und Medien, sondern auch für die Bevölkerung. „Dort könnten Aussagen und Meinungen zu gewissen Themen schnell und unkompliziert gepostet werden, ohne dass eine weitere Partei eingeschaltet werden muss. Vor allem junge Menschen lassen sich dank sozialer Netzwerke besser erreichen“, erklärt Eliza Diekmann. Sie verweist aber darauf, dass traditionelle Lokalmedien weiterhin benötigt werden. Wichtig sei dies, um vielfältige Meinungen einzuholen und den Teil der Bevölkerung zu erreichen, der sich nicht im Internet tummelt.
Dass öffentliche Einrichtungen und Politiker soziale Kanäle nutzen, um die Gesellschaft zu informieren, ist für Ella Schindler logisch und nachvollziehbar. Aber für sie erfolgt die Informationsvermittlung dabei meist einseitig, ausgehend vom Verfasser eines Posts. Die Redakteurin der Nürnberger Zeitung hinterfragt: „Wie gefärbt und einseitig werden Posts verfasst?“ Aus politischer Sicht versuche man sich so positiv wie möglich darzustellen, schließlich wolle man sich ja nicht selbst schaden. Ein großes Problem sei dabei, dass es oftmals nicht mehr um reine Informationsvermittlung gehe, sondern politisch gefärbte Inhalte gepostet werden. Wolfram Kiwit verweist hier auf die Stadt Dortmund, deren Online-Inhalte über reine Informationsvermittlung hinaus gingen. Für eine funktionierende Demokratie sei es elementar und wichtig, dass die Presse staatsfern ist. Diese Staatsferne kann nur der Journalismus bieten – ob auf lokaler, regionaler oder auf Bundesebene. Daher bedürfe es den Journalismus weiterhin als kritische staatsferne Instanz.
Die Aufgabe einer kritischen Instanz besteht laut Frank Überall darin, die Gesellschaft zu sensibilisieren und Medienkompetenz zu vermitteln. Vor allem jüngere Generationen konsumierten viele Themen im Internet, ohne sich Gedanken über die Quellen zu machen, so Ella Schindler. „Bei der Arbeit mit Schüler*innen stelle ich fest, dass die Erkennung und Unterscheidung von seriösen oder unseriösen Quellen kaum stattfindet.“ Auf Nachfrage, woher eine Quelle stammt, erhalte sie oft die Antwort „aus dem Internet“. Die Journalistin ist fest überzeugt davon, dass es mehr Vermittlung von Medienkompetenz in den Schulen braucht.
Vertrauen in Lokaljournalismus: Der „Lügenpresse“-Vorwurf
Die Diskussionteilnehmer sind sich einig: Der Gesellschaft muss bewusst sein, wie wichtig die kritische, unabhängige und pluralistische Berichterstattung für das gesellschaftliche Zusammenleben innerhalb einer Demokratie ist. Eine Voraussetzung dafür sei allerdings ein hohes Vertrauen in Journalismus. In den vergangenen Jahren hat dieser stark mit schwindender Glaubwürdigkeit zu kämpfen, symbolisch dafür steht der Begriff „Lügenpresse.“ Medienwissenschaftler Frank Überall sieht es als beunruhigend an, dass die Situation gerade in den letzten Monaten immer feindseliger wird, zum Beispiel bei Demonstrationen mit Beteiligung von Menschen aus dem rechtsextremen Milieu. Früher wurde man als Journalist „lediglich schief angeschaut und angeschrien. Mittlerweile ist immer mehr von gewaltsamen Übergriffen oder Stalking zu hören“.
Überall weist darauf hin, dass die Medien auch für ihre Rolle im demokratischen System kritisiert werden. Er machte auf den Begriff „Systempresse“ aufmerksam: „Die meisten Medienschaffenden sind Befürworter eines demokratischen Politiksystems. Der Journalismus hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Demokratie zu wahren. Somit wird und ist der Journalismus Teil des politischen Systems und jeder, der kein Freund von der Demokratie ist, sieht im Journalismus einen ‚Feind‘.“ Die Medaille hat jedoch zwei Seiten. In Gesprächen mit Bürgern höre Bürgermeisterin Eliza Diekmann immer wieder, dass diese sich immer weniger in lokalen Medien repräsentiert fühlen. Diese Wahrnehmung sei die Folge der inhaltlichen Entwicklungen der Medien, in deren Folge Themenvielfalt zurückgeht und die sich die Themenauswahl stark an Klickzahlen orientiert.
Bestimmen die Klickzahlen, über welche Themen berichtet wird?
Was gut beim Leser ankommt, können Journalisten mittlerweile – zumindest online – durch das Auswerten von Klickzahlen erkennen. Aber bestimmt somit immer mehr das Leser-Interesse, welche Artikel veröffentlicht werden, oder setzt die Redaktion auch unabhängig davon Themen? „Eine Mischung aus beidem“, sagte Ella Schindler. Sie meinte, dass man früher seiner „journalistischen Spürnase“ vertraut hat. „Heute orientiert man sich immer mehr an den Interessen der Rezipienten*innen.“ Schindler ist sich aber auch bewusst, dass der Journalismus hier einen Spagat finden muss. Denn nur weil ein Thema „wenig Klicks generiert“ sei es nicht unwichtig für die Gesellschaft. „Es gilt, themenvielfältig zu berichten, um Meinungsvielfalt zu wahren.“
Als Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten gibt Wolfram Kiwit zu, dass insbesondere das Leseverhalten der zahlenden Abonnenten bei der Themenauswahl wichtig ist. Schließlich muss die Arbeit der Redaktion refinanziert werden. Die Analysen des Leseverhaltens ergebe, dass das Themeninteresse der Bevölkerung weiterhin vielfältig ist. Die Themen würden allerdings konzentrierter angeboten, da man wisse, welche Themen in Ressorts ausgelassen werden können, ohne dass mit finanziellen Einbußen gerechnet werden muss. Eliza Diekmann sieht es kritisch, wenn Klickzahlen die Themen bestimmen. Sie ist der Meinung, dass das „nicht der Anspruch von guter journalistischer Arbeit sein kann.“ Für sie lautet der journalistische Auftrag, die gesellschaftlich relevanten Themen zu finden und aufzubereiten. Im besten Fall so, dass der Artikel durch seine Aufmachung Reichweite generiert.
Lokalredaktionen und Diversität: „Es tut sich was“
Nicht nur die thematische Orientierung an Klicks kann ein Problem darstellen. Bürgermeisterin Diekmann sprach bereits an, dass sich die Bevölkerung oft kaum in Medien repräsentiert fühlt. Fehlt es dem Journalismus an Vielfalt? Fest steht, dass in Deutschland ein großer Teil der Redaktionen aus gut ausgebildeten, älteren und weißen Männern besteht. Von besonders viel Diversität und gesellschaftlicher Repräsentanz kann also keine Rede sein. Wie kann es Lokaljournalismus schaffen, die Diversität der Gesellschaft abzubilden? Für Frank Überall besteht noch viel Verbesserungsbedarf, was die Vielfalt in der Besetzung der Redaktionen betrifft. Gleichzeitig sei es nicht erstrebenswert, dass beispielsweise eine Person mit „arabischem Hintergrund dann ausschließlich für Themen mit arabischen Akteuren“ beauftragt wird: „Was jedoch nicht passieren darf: Dass wir Redakteure stereotyp einsetzen.“
Eine Verjüngung der Redaktion finde in den letzten Jahren schon in vielen Medienhäusern statt. „Der Nachwuchs ist gar nicht so Mangelware, wie es oft dargestellt wird“, stellt Chefredakteur Kiwit klar. Jedoch trauten sich Medienhäuser nur zaghaft, neue Wege einzuschlagen. Diese Entwicklung stellt auch Ausbilderin Ella Schindler fest: „In vielen Medienhäusern tut sich was, um vielfältige und diverse Redaktionen aufzubauen. Doch wir sind hier gerade am Anfang“. Der Nachwuchs birgt anscheinend viele Chancen, gerade mit Blick auf die digitale Entwicklung. Digitales Know-How und damit einhergehend Ideen für neue Medienformate seien „Skills“, die ein alter, weißer Mann eher nicht vorweisen könne. Für eine kleine, ländliche Redaktion sei aber das große Problem, dass der Nachwuchs dort selten arbeiten möchte. Hier verweist Ella Schindler wieder auf die Schulen, denn gerade in ländlichen Regionen werde jungen Leute die Wichtigkeit der Arbeit eines Journalisten kaum aufgezeigt.
Wohin führt die Reise?
Der Journalismus ist insgesamt im Wandel, doch die schwierigen Entwicklungen scheinen an der Basis, dem Lokaljournalismus, am deutlichsten zu spüren zu sein. Die Auflagenzahlen sinken, die Redaktionen müssen einsparen, die Folge sind ausgedünnte Redaktionen. Zudem fusionieren immer mehr Zeitungstitel oder verschwinden manchmal sogar ganz. Dazu gibt es vermehrt Kritik aus der Bevölkerung. Schafft es der Lokaljournalismus unter diesen Vorzeichen, seine Funktionen für das demokratische System noch zu erfüllen? Die Diskussionsteilnehmer sind sich sicher, dass der Lokaljournalismus prinzipiell weiterhin seine Funktionen erfüllen kann. Die Rolle und Funktion von freien unabhängigen Medien bleibe für die Demokratie und Pressefreiheit unendlich wichtig, denn ohne einen kritischen und staatsfernen gesellschaftlichen Diskurs könne es keine Demokratie geben. Wichtig sei, dass der Lokaljournalismus wieder näher am Menschen ist. Er müsse am Puls der Zeit sein, vor allem digital, und deutlich vielfältiger und diverser geprägt als bisher.
Dazu ist scheint nötig, einige alte Strukturen und Gewohnheiten abzulegen und sich neuen Wegen und Möglichkeiten zu öffnen. Der digitale Wandel bietet viele Innovationsmöglichkeiten, sie müssten aber auch genutzt werden. Medienforscher Überall ist der Meinung, dass „Medienmixe“ eine Zukunftsperspektive sein können. Dieses Modell sieht vor, dass der digitale Auftritt von Tageszeitungen stark ausgebaut wird. Dagegen würde es anstelle täglicher Printausgaben nur noch zwei bis drei Printveröffentlichungen in der Woche geben. Einen Wermutstropfen hätte dieses Modell jedoch, das Ausbleiben vom täglichen Rascheln und Knistern von Zeitungen in der Bahn.
Quellen:
BDZV (2021). Zur wirtschaftlichen Lage der deutschen Zeitungen 2021. https://www.bdzv.de/fileadmin/content/7_Alle_Themen/Marktdaten/Branchenbeitrag_2021/BZDV_Branchenbeitrag_v18.pdf
Dinter, J., Korte, K. (2019). Bürger, Medien und Politik im Ruhrgebiet. Einstellungen – Erwartungen -Erklärungsmuster. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28069-7
Möhring, W. & Keldenich, F. (2015). Lokaljournalismus im Fokus der Wissenschaft. Zum Forschungsstand Lokaljournalismus – unter besonderer Berücksichtigung von Nordrhein-Westfalen. Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM).
Röper, H. (2020). Tageszeitungen 2020: Schrumpfender Markt und sinkende Vielfalt. Daten zur Konzentration der Tagespresse im I. Quartal 2020. In: Media Perspektiven, 2020 (Heft 6), S. 331-352. https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/2020/0620_Roeper_20-07-20.pdf
Beitragsbild via pixabay.com
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „Lokaljournalismus heute“ am Institut für Journalistik der TU Dortmund unter Leitung von Prof. Dr. Wiebke Möhring und Anna-Lena Wagner. Dieses findet im Wintersemester 2021/22 in Kooperation mit dem Regionalbüro Westfalen der Konrad-Adenauer-Stiftung statt, das bei der Organisation der Podiumsdiskussion maßgeblich unterstützt hat.
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