Soziale Medien zählen als Digitalstrategie mittlerweile zu einem festen Bestandteil vieler öffentlich-rechtlicher Medien europaweit. Social-Media-Kanäle bedürfen einer neuen Art Journalismus zu machen – dem plattformoptimierten Journalismus. Henning Eichler ist Journalist, Lehrbeauftragter an den Hochschulen Darmstadt sowie RheinMain und Verfasser der neuen Studie: Journalismus in sozialen Netzwerken. ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?. Im Rahmen dieser Studie hat er Interviews mit verschiedenen öffentlich-rechtlichen Anbietern in Deutschland geführt. Vor welchen Schwierigkeiten diese stehen und welche Lösungen es auch für den europaweiten Raum gibt, darüber hat er mit EJO-Stipendiatin Olivia Samnick gesprochen.
Samnick: Öffentlich-rechtliche Medien haben einen gemeinwohlorientierten Auftrag, um die Bevölkerung etwa ausgewogen mit Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung zu versorgen. Inwiefern lässt sich ein solcher Auftrag wirksamer durch digitale Plattformen als über klassische Medien, wie Fernsehen und Print, erfüllen?
Eichler: Digitale Wege, besonders soziale Medien, ermöglichen große Chancen sich mit dem Publikum auszutauschen und es einzubeziehen: durch ein Community-Management oder digitale Tools für Umfragen und Quizze. So kann man Menschen in den Diskurs einbeziehen, bekommt unmittelbar inhaltliches Feedback und Anregungen für neue Themen. Klar, war das auch vorher möglich: In Zeitungen gibt es Leserbriefe. Fast jedes Funkhaus hat eine Telefonhotline. Aber: Der unmittelbare Austausch ist auf sozialen Netzwerken viel besser umsetzbar. Grundsätzlich ist das eine Bereicherung.
Aber nicht jeder Mensch konsumiert Journalismus über soziale Medien.
Es gibt einen deutlichen Generationenabriss. Menschen ab Mitte vierzig nutzen eher lineare Medien, mit denen sie großgeworden sind. Die aber spielen für Menschen unter dreißig kaum noch eine Rolle. Journalistische Information und tagesaktuelle Berichterstattung empfängt diese Gruppe ganz stark über soziale Medien und in geringerem Umfang über non-lineare Angebote der öffentlich-rechtlichen Medien, wie Audiotheken. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen alle Menschen gleichermaßen ansprechen. Hier liegt das Problem: Redaktionen müssen neben traditionellen, linearen Medien gleichzeitig digitale Kanäle bespielen. Es braucht zwei verschiedene Arten von Journalismus: Traditionell lineare Formate, die sich an althergebrachten Konventionen orientieren und daneben Journalismus für soziale Netzwerke. Letzterer wurde in der Studie näher untersucht.
Von an Algorithmen angepassten Beitragslängen und -formaten erhoffen sich ihre Interviewpartner in der Studie zum Beispiel mehr Reichweite. Nach welchen genauen Regeln die Plattformen dabei funktionieren, scheint aber vielen unklar. Wie nehmen Sie das wahr?
Ich habe in vielen Interviews gehört, dass Redaktionen abhängig von der Distribution ihrer Inhalte sind und damit von Algorithmen, ohne zu wissen, wie diese im Detail funktionieren. Wer auf den Plattformen erfolgreich sein will, muss sich an deren Konventionen orientieren. Redaktionen sind also damit befasst herauszufinden, wie Algorithmen funktionieren – welche Inhalte diese priorisieren. Dabei laufen sie der Entwicklung hinterher, weil die Funktionsweisen nicht offengelegt sind und Veränderungen erst hinterher von den Plattformen kommuniziert werden. Das ist eine Herausforderung, vor der alle gleichermaßen stehen, der Journalismus genauso wie etwa der Kulturbereich.
In einem Interview Ihrer Studie hieß es: Die Inhalte sind schon irgendwie die, die zu unserem Ziel passen, zu unserer Zielgruppe und über die wir berichten wollen. Aber die Art und Weise, wie wir darüber berichten – das macht die Plattform. Nun könnte man denken, das sei eben der Lauf der Zeit: Heute passt man sich an Snapchat an, im nächsten Moment macht man Journalismus für Tik Tok. Wo genau liegt das Problem?
Von Redaktionen hieß es in den Interviews, sie müssten sich extrem schnell den neuen Algorithmen anpassen. Gelingt das nicht, ist im Extremfall ein journalistisches Format in Gefahr. Der Algorithmus priorisiert das Format so schwach, dass es keine relevante Reichweite mehr erzielt. Das zeigt die direkte Abhängigkeit von den Plattformen. Die Plattformen wiederum wollen ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht ausreichend wahrnehmen, obwohl sie inzwischen sehr wichtig für die Meinungs- und Willensbildung sind. Ein drastisches Beispiel ihrer Macht: Der Sturm auf das Capitol in den USA wäre ohne soziale Netzwerke wahrscheinlich so nicht möglich gewesen.
Welche Lösungsansätze gibt es für diese Herausforderungen?
Es muss eine Regulierung stattfinden. Die Politik ist hier in die Pflicht genommen. Algorithmen priorisieren Merkmale wie Oberflächlichkeit, Polarisierung, Emotionalität und Humor höher. Das sind häufig Merkmale die kaum bis gar nichts mit journalistischer Qualität zu tun haben. Dabei ist es technisch längst möglich auch sogenannte Public-Value-Inhalte durch Algorithmen sichtbarer zu machen. Public-Value-Inhalte müssen nicht nur von öffentlich-rechtlichen Medien kommen, es gibt selbstverständlich auch private Anbieter, die sehr guten Journalismus in diesem Sinne machen. Was wäre, wenn man den großen Plattformen auf europäischer Ebene vorschreiben könnte, Public-Value-Inhalte so zu markieren und durch Algorithmen zu priorisieren, dass diese möglichst viele Menschen erreichen?
Das hieße einheitliche Regeln für alle.
Ja, das ist ein dickes Brett. Ich sehe aber eine Option darin, dass die European Broadcasting Union sich auf gemeinsame Standards einigt und dann versucht diese in die europäische Politik einzubringen. Die EBU verfügt hier über eine sehr wichtige Rolle, da sie europaweit gemeinsame Standards für öffentlich-rechtliche Medien festsetzt.
In Medienhäusern gibt es einige Leitlinien für den Journalismus: Fast jedes Medienhaus hat etwa eine eigene Blattlinie und eine Stilbibel, wie Beiträge sprachlich und optisch umgesetzt werden. Wieso gibt es nicht längst auch ethische Standards für plattformoptimierten Journalismus?
Ich denke, das liegt daran, dass die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland lange in einer Schockstarre waren, als sie bemerkten, dass sie die junge Generation kaum über das klassische, lineare Programm zu erreichen vermögen. Als man dann darauf kam Journalismus für soziale Medien anzubieten und damit tolle Erfolge erzielte, wurden kaum grundlegende strategische oder ethische Fragen gestellt: In welche Abhängigkeiten bewegen wir uns hinein? Wie können wir unsere Grundwerte in digitalen Umgebungen gewährleisten?
Was würden denn solche ethischen Standards der einzelnen Redakteurin oder dem einzelnen Redakteur nutzen?
In den Interviews habe ich festgestellt, dass einige Journalistinnen und Journalisten gerne eine Orientierung hätten. Vieles passiert aktuell auf Basis eines geteilten Selbstverständnisses von öffentlich-rechtlichen Werten. Meistens klappt das auch ganz gut, aber es bleibt doch diffus. Das führt Journalist:innen immer wieder ins Dilemma: Baue ich meinen Beitrag so, dass er mehr Reichweite und mehr Interaktion erzeugt? Oder baue ich ihn inhaltlich ausgewogen, so dass er die Meinungsvielfalt möglichst objektiv abbildet? Das muss nicht immer ein Gegensatz sein, ist jedoch häufig der Fall. Eine Art digitaler Pressekodex für öffentlich-rechtlichen Journalismus auf kommerziellen Plattfirmen könnte Abhilfe schaffen.
Welche Fragen sollten sich öffentlich-rechtliche Medien außerdem stellen?
Es ist generell auch eine Frage des Managements: Wie viel Plattformisierung können sich öffentlich-rechtliche Anbieter leisten? Wie stark orientiert man sich an Analytics-Daten, die Plattformen zur Verfügung stellen? Sind diese Daten vollständig und zuverlässig? Wie sollen Angebote auf Grundlage dieser Daten angepasst werden?
Was können einzelne öffentlich-rechtliche Medienhäuser heute bereits tun?
Die Abhängigkeiten von kommerziellen Netzwerken verringern: Die ARD hat etwa seit einem Jahr ihre Plattformstrategie angepasst. Soziale Medien sollen zur Konversion genutzt werden, also dazu, Nutzer über kurze Teaser oder Trailer auf die eigenen Seiten und Mediatheken zu leiten. Die BBC versucht seit einigen Jahren vor allem die eigenen digitalen Infrastrukturen zu stärken, um sich aus der Abhängigkeit von kommerziellen Netzwerken zu lösen. Ob diese Strategie erfolgreich sein wird, ist allerdings noch völlig offen.
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