Community Radios – Die Stimme einer Mehrheit

26. August 2022 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

In Lateinamerika kommt Community Radios historisch gesehen und aktuell eine wichtige Bedeutung zu. Die Region gilt als die Wiege der Community Radios – in Argentinien erhalten sie seit 2009 rechtliche Anerkennung. In Deutschland fordern Freie Radios diese Art der Anerkennung ebenfalls. Ein Vergleich.

Angelehnt an die komparative Analyse „Community Radio in a Global Context“ von Erol Price-Davies und Jo Tacchi, werden die beiden Länder anhand verschiedener Kriterien verglichen. Sowohl Aspekte der Finanzierung, der Kontext der Medienlandschaft, soziale Charakteristika als auch rechtliche Definitionen und Regelungen spielen hierbei eine Rolle.

Die UNESCO definiert Community Radios als „grundsätzlich unabhängige, nicht kommerzielle Sender, die geführt werden von Vertretern einer Gemeinschaft als auch im Sinne eben dieser Gemeinschaft, der sie dienen.“ Community Radios bildeten neben dem privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine „dritte Säule“ der Medien und sind wichtiger Bestandteil eines pluralistischen Mediensektors. Während in der spanischsprachigen Literatur der Begriff „Community Radios“ in der Regel wörtlich mit „radios comunitarias“ übersetzt wird, ist eine Übersetzung im Deutschen nicht ganz eindeutig, wie Helmut Preiss und Otto Tremetzberger in ihrem Beitrag „Nichtkommerzieller Rundfunk“ deutlich machen. Vergleicht man die unterschiedlichen Formen des Nichtkommerziellen Rundfunk, wie beispielsweise in dem Infoblatt des Nachrichtenpool Lateinamerika aufgeführt, trifft die Definition der Community Radios im Deutschen auf am ehesten auf den Begriff der Freien Radios zu.

Tanja Bosch umreißt in ihrem Aufsatz „Community Radio“ die Ursprünge des Phänomens. Demnach sollen einige der ersten Community Radios beispielsweise in den späten 1940er-Jahren von Bolivianischen Minenarbeitern gegründet worden sein, die sich auf diese Weise an politischen Diskursen beteiligen wollten, von denen sie andernfalls ausgeschlossen waren. Bereits in den 1960er-Jahren haben 23 Community Radiosender in den Minenregionen gesendet und seien zu einer der wichtigsten Informationsquellen geworden und boten einen Platz für wichtige Debatten auf der Lokalebene. Davon ausgehend entwickelten sich laut Bosch auch in anderen Regionen der Welt verschiedene Formen von Community Radios. Dass Community Radios weltweit von Bedeutung sind, lässt sich am Beispiel der NGO World Association of Community Radio Broadcasters (AMARC) erkennen. Diese findet ihre Anfänge im Jahr 1983 und organisiert die Interessen von mittlerweile 4000 Mitgliedern in 150 Ländern unter ihrem Dach.
Auch die UNESCO stellt die Wichtigkeit von Community Radios, besonders für überwiegend isolierte und marginalisierte Gruppen, fest. So seien Community Radios beispielsweise in Nepal, Gambia, Burundi oder Myanmar von großer Bedeutung. Denn gerade in ruralen Gegenden stehen oftmals nicht die gleichen nationalen Informationskanäle zur Verfügung wie es in den urbanen Gegenden der Fall ist und somit sind diese eher benachteiligt. Zudem sind auch die Bedürfnisse der jeweiligen Communities andere – aus diesem Grunde kommt u.a. Community Radios als Informationskanal eine Sonderstellung zu, da die Community Sender sich nach diesen spezifischen Bedürfnissen ausrichten.

Die Besonderheit argentinischer Community Radios

Die Lateinamerikanische Geschichte ist geprägt von verschiedenen Diktaturen. Auch in Argentinien. Ab 1976 herrschte nach der Verhaftung der damaligen Präsidentin Isabel Martinez de Perón über sieben Jahre hinweg eine Militärdiktatur in Argentinien. Die entsprechenden Mediengesetze wurden in dieser Zeit hauptsächlich durch die repressive Miltärdiktatur angeordnet. 1980 wurde in Argentinien ein Rundfunkgesetz erlassen, welches noch bis 2009 Gültigkeit hatte. 2009 wurde dann das Gesetz No 26,522 zu Audiovisuellen Kommunikationsdiensten eingeführt. „Diese Änderung kam vielleicht spät, hatte aber eine immense Bedeutung für die Community Radios im Land“, erklärt María Soledad Segura, stellvertretende Professorin an den Fakultäten für Sozial und Kommunikationswissenschaften der Universidad Nacional de Cordoba. Denn das in 2009 eingeführte Gesetz erkennt „Community Media“ als dritte Säule des Mediensystems an und habe die Community Radios in Argentinien sowie die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Community Radios aus der Illegalität geholt. Aus dem Beitrag „The relevance of public policies for the sustainability of community media: Lessons from Argentina“ für das Journal of Alternative & Community Media (2019) von Segura et al. geht hervor, dass seit Erlass dieses Mediengesetztes, von 2009 bis zum Jahre 2017 insgesamt 138 neue Community Radios in Argentinien gegründet worden sind. Im Vergleich dazu: Im Zeitraum von 1980 bis 2007 waren es 67. Die Community Radios sind über das gesamte Land verteilt – mit 38 Stationen sind die meisten aber in der Center-Region Argentiniens beheimatet. Dieser positive Trend an Zuwachs an freien und unabhängigen Community Radiosendern nach der Gesetzesänderung, verdeutlicht die enorme Bedeutung einer rechtlichen Anerkennung von Community Radios und dient als Meilenstein und Katalysator in ganz Lateinamerika.

Tatsächlich ist Argentinien der Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht um einiges voraus. Zum einen zählt der Bundesverband für Freie Radios Deutschlandweit gerade mal 34 Freie Radios auf seiner Homepage auf und zum anderen hat der Rundfunkstaatsvertrag im Jahr 2020 eine neue Fassade erhalten und heißt nun Medienstaatsvertrag. In Deutschland besteht ein duales Rundfunksystem – es besteht also aus Privaten und Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkveranstaltern. Nicht- kommerzielle Radios zählen nach der Neuerung des Rundfunkstaatsvertrages (Freie Radios, aber auch Offene Kanäle) weiterhin zum privaten Rundfunk und sind nicht explizit als eigenständiger Pfeiler des Rundfunksystems anerkannt. Die Finanzierung ist somit weiterhin Sache der Bundesländer und weder garantiert, noch einheitlich geregelt. Genau das fordern aber sowohl der „Bundesverband Freie Radios“ als auch der „Bundesverband Bürgermedien“. Die rechtliche Anerkennung von Freien Radios als eigenständige Komponente des deutschen Rundfunksystems  würde nicht nur die Finanzierung insgesamt vereinfachen, sondern auch die Arbeit für die Medienschaffenden der Freien Radios und Offenen Kanäle. Da sie aktuell nicht als Vertreter der Presse anerkennt werden, können sie auch nicht den gleichen Gebrauch von bestehenden Presserechten machen wie der kommerzielle, private oder der öffentliche Rundfunk. Würde sich dies ändern, könnten sie durch ihre bürgernahe und partizipative Berichterstattung in der Folge einen besseren Beitrag zur Demokratisierung leisten.

„Auch wenn Community Media und somit Community Radios in Argentinien per Gesetz anerkannt sind, heißt es aber nicht, dass Medienschaffende ihre Arbeit ungehindert verrichten können“, macht María Soledad Segura deutlich. Körperliche Gewalt sei zwar nicht die Regel, doch nutze die Polizei immer wieder rechtliche Hintertüren, um die Arbeit zu behindern und Equipment zu beschlagnahmen. Solche Vorgehen spiegeln die allgemein eher angespannte Lage für Journalistinnen und Journalisten nicht nur in Argentinien, sondern in ganz Lateinamerika wider. Diese ist zwar auch innerhalb Lateinamerikas sehr divers, doch grundsätzlich geprägt von schlechten Arbeitsbedingungen, Korruption, einer hohen Medienkonzentration und eines in vielen Teilen der Länder schlechten Zugangs zu Informationen. Diese diverse, doch allgemein angespannte Medien-Situation spiegelt sich auch in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen wider. Argentinien landet auf der Rangliste der Pressefreiheit im Jahr 2022 beispielsweise auf Platz 29, während Brasilien Platz 110 belegt. Venezuela und Honduras wiederum belegen die Plätze 159 und 165 – von insgesamt 180.

Genau diese Situation macht Community Radios zeitgleich so unerlässlich für Lateinamerika und stellt deren unabhängige Berichterstattung als einen Beitrag zur Demokratisierung heraus. Auch wenn häufig davon gesprochen wird, Community Radios seien wichtig für unterrepräsentierte Minderheiten, macht María Soledad Segura klar: „Wir sprechen hier nicht von Minderheiten, die keine Repräsentation in den Mainstream-Medien finden. Wir sprechen in der Tat von einer Mehrheit.“ In Deutschland hingegen spiegeln die Programme der Freien Radios häufig die unterrepräsentierten Minderheiten im Land wider. So sei das Programm Freier Radios in Deutschland laut dem Verein Nachrichtenpool Lateinamerika stark interkulturell und vielsprachig geprägt. So bietet beispielsweise das Freie Radio für Stuttgart unter dem Namen Russisches KulturRoulette ein Programm über das kulturelle Leben aus Russland und Deutschland an. Radio Flora aus Hannover führt einige polnisch-sprachige Sendungen in ihrem Programm. Auch andere andernfalls weniger repräsentierte Gruppen können die Möglichkeit bekommen, Radio zu machen und ihre Themen auf die Medien-Agenda zu setzen: Das freie Radio coloRadio aus Sachsen hat mit Junges Radio beispielsweise eine Sendung von Kindern für Kinder geschaffen. Trotzdem: Viele unterrepräsentierte Minderheiten bilden letztlich auch eine unterrepräsentierte Mehrheit.

Dieses Perspektivwechsel als Grundlage nehmend, sieht Segura Community Radios nicht als zusätzliches Medienangebot, sondern als unerlässliches Sprachrohr für die allgemeine Bevölkerung. Ziel der Argentinischen Community Radios sei es nicht, ein Programm zu machen, dass ausschließlich eine bestimmte Zielgruppe angeht und auch nur innerhalb dieser konsumiert wird – Ziel ist es, die Masse der Bevölkerung zu erreichen. Denn genau dieser Masse fehle die Stimme, da Nachrichten von den wenigen großen Medien im Land beziehungsweise in der Region bestimmt seien. Denn in vielen Ländern dieser Welt befinden sich Medien häufig in den Händen weniger einflussreicher Familien, Politiker oder der Regierung, was eine unabhängige Berichterstattung oft unmöglich macht – dies trifft auf Deutschland grundsätzlich nicht zu.

Digitale Formen von Community Medien

Community Radios erscheinen an dieser Stelle als notwendiges und geradezu unerlässliches Mittel zur Demokratisierung. Aber: Es gibt auch andere Formen von Community Medien. Laut dem D21 Digital Index   von 2019 gaben 86% der über 14- Jährigen in Deutschland an, das Internet mindestens gelegentlich zu nutzen. Die Rolle von digitalen Medien darf also nicht außer Acht gelassen werden. Welchen Stellenwert haben Community Radios beziehungsweise die Freien Radios also im Vergleich zu digitalen und sozialen Medien?

María Soledad Segura erklärt, dass in Argentinien wie auch in weiten Teilen Lateinamerikas der Zugang zum Internet schlicht nicht vorhanden ist – Digitalisierung sei keine politische Priorität. Laut Heinrich-Böll-Stiftung nutzten 2021 zwar fast 70 Prozent der Bevölkerung in Lateinamerika das Internet, allerdings habe nur knapp die Hälfte der Haushalte einen festen Internetanschluss. Große Unterschiede gibt es in den meisten Lateinamerikanischen Ländern vor allem zwischen der Stadt- und Landbevölkerung. Sowohl das Einkommen als auch die Infrastruktur erschweren den Zugang häufig. Ein Radio hingegen besäße so gut wie jeder, bestätigt Segura. Und auch, wenn in Deutschland die Internetnutzung sehr hoch ist (s.o.), gibt es auch hier einen Digital Divide. So bestehen beispielsweise vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Generationen große Unterschiede im Nutzungsverhalten. Die wiederum sind unter anderem durch große Diskrepanzen im Hinblick auf das Verständnis mit dem Umgang digitaler Medien begründet.

Trotz des erschwerten Zugangs zum Internet, ist die durchschnittliche Nutzung auch in Lateinamerika hoch. Die Bedeutung von Community Radios werde dadurch aber nicht gemindert, findet Segura. Sie ist der Ansicht, dass sowohl digitale als auch auditive Medien ko-existieren und sich im besten Falle ergänzen sollten. So könnten letztlich möglichst viele Menschen mit unabhängiger und freier Berichterstattung erreicht werden.

Und genau das wünscht sie sich für die Zukunft von Community Medien: Dass sie die Stimme der Massen sind – die auch gehört wird.

Literatur:

Bosch, T. Community Radio (2013). https://www.academia.edu/11292221/ Community_Radio

Bundesverband Bürgermedien. Charta. https://www.bvbm.eu/aufgaben/
Bundesverband Freie Radios (2012). Charta. https://freie-radios.de/ueber-uns/charta.html

D21 Digital Index. Jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft. https://initiatived21.de/ app/uploads/2020/02/d21_index2019_2020.pdf

Heinrich-Böll-Stiftung (2021). Factsheet Digitalisierung in Lateinamerika. Demokratie und digitaler Wandel in Lateinamerika. https://www.boell.de/sites/default/files/2021-11/factsheet_digitalisierung2021_de_web-1.pdf

Nachrichtenpool Lateinamerika. Infoblätter Community Radio Deutschland (2012). https:// www.npla.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/04/ Infoblatt_Community_Radio_Deutschland.pdf

Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung. Digitale Teilhabe in Deutschland. Die Digitalisierung der Gesellschaft und das Recht auf Internet. https://www.politische- medienkompetenz.de/unsere-schwerpunkte/digital-divide/digitale-teilhabe-in- deutschland/

Price-Davies, E. & Tacchi, J. (2001). Community Radio in a Global Context: A comparative Analysis.

Segura, M.S. et al. The relevance of public policies for the sustainability of community media: Lessons from Argentina. https://comunicacionsfl.files.wordpress.com/2019/10/ articulopublicadojoacm.pdf

UNESCO. Community Media Sustainability Policy Series. https://en.unesco.org/ community-media-sustainability/policy-series/defining

Beitragsbild: Unsplash

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