Liane Rothenberger, Martin Löffelholz und David H. Weaver haben kürzlich bei Palgrave MacMillan einen im wahrsten Sinne des Wortes gewichtigen Band zum Cross-Border Journalism (CBJ) vorgelegt – über 600 Seiten umfasst der Sammelband, zu dem über fünfzig internationale Autoren in 38 Kapiteln beigetragen haben. „The Palgrave Handbook of Cross-Border Journalism“ nimmt sich vor, das Phänomen CBJ von den verschiedensten Seiten kommunikationswissenschaftlich zu beleuchten: theoretisch-konzeptionell ebenso wie historisch, ökonomisch, technologisch – und vor allem länderübergreifend.
Damit eröffnet der Band einem Praxis-Konzept, das eng mit dem Namen der deutsch-dänischen Journalistin und Journalismusdozentin Brigitte Alfter verbunden ist, die Tür für eine umfassende kommunikations- und journalistikwissenschaftliche Debatte. Der breiten Öffentlichkeit ist CBJ durch die kollaborativen investigativen Recherchen internationaler Medien-Teams für die Panama Papers oder die Paradise Papers vertraut.
Insgesamt gliedert sich der Band in sechs Kapitel: Das erste Kapitel „Conceptualizing and Analyzing Cross-Border Journalism“ nimmt Modelle und Konzepte von CBJ sowie methodische Fragen in den Blick. Das zweite Kapitel widmet sich den Akteuren und Strukturen von CBJ – und zeigt hier u.a. Schnittstellen zur traditionellen Auslandsberichterstattung auf. Auch Brigitte Alfter steuert hier einen Beitrag bei. Anthony Fargo befasst sich in einem aufschlussreichen Beitrag mit den Wechselwirkungen zwischen internationalen und nationalen gesetzlichen Kontexten, innerhalb derer CBJ-Teams agieren müssen.
Im dritten Kapitel geht es um die Inhalte von CBJ. Mira Rochyadi-Reetz und Dan Teng’o gehen in ihrem Beitrag auf grenzüberschreitende Rechercheprojekte in der Berichterstattung über die Folgen des Klimawandels ein und können für dieses – für CBJ fundamentale – Thema eine vergleichsweise lange Historie zahlreicher, oft stiftungsfinanzierter Projekte feststellen. Diese von ihnen geschilderten Kooperationen schlagen Brücken zwischen Redaktionen im Globalen Norden und Süden; aber auch Süd-Süd-Kooperationen gewinnen an Bedeutung. Yi Xu diskutiert hier CBJ im Kontext von Public Diplomacy insbesondere auch restriktiver Regime, die CBJ zu unterbinden versuchen. Damit werden neben den Interessen der Redaktionen und Publika immer wieder auch die Interessen supranationaler Akteure an CBJ angesprochen.
Den „Spagat“ zwischen nationalen und internationalen – sowie nicht zuletzt diasporischen (Beitrag von Hanan Badr) – Öffentlichkeiten fokussieren die Beiträge des vierten Kapitels. Zu den spannendsten Kapiteln gehören sicher auch die Beiträge des fünften Kapitels, die CBJ in Journalismuskulturen beleuchten, die aus medienökonomischen, professionell-ethischen oder politischen vor extremen Herausforderungen stehen, wenn es um die Umsetzung von CBJ-Konzepten geht. So schildert beispielsweise Kioko Ireri eindringlich die eng begrenzte Anwendbarkeit zumal grenzüberschreitender investigativer Recherchen in afrikanischen Staaten – in verschiedenen Beiträgen setzt sich der Sammelband kritisch mit einer „De-Westernization“ des CBJ-Konzepts auseinander. Joseph M. Chan und Rose L. Luqiu diskutieren CBJ im Kontext der autoritären Medienlandschaft Chinas und vermitteln hier wichtige Einblicke in die gegenwärtige Praxis der internationalen Berichterstattung Chinas.
Das sechste Kapitel ist mit „The Future of Cross-Border Journalism“ überschrieben; hier finden sich Beiträge, die technologische, wirtschaftliche und professionelle Aspekte von CBJ berühren. Pamela Nölleke-Przybylski und Britta M. Gossel legen ein ökonomisches Modell für CBJ vor. John Pavlik zeigt die Relevanz von AI für CBJ-Projekte auf. Tina Bettels-Schwabbauer, Tabea Grzeszyzk, Nadia Leihs und Altaf Kahn haben die Curricula von Journalismus-Studiengängen komparativ untersucht und kommen zu dem Ergebnis, dass fest in den Lehrplänen verankerte Lehrveranstaltungen zum Cross-Border-Journalismus – trotz der wachsenden Bedeutung in der Medienpraxis – bislang eher eine Ausnahme darstellen und CBJ-Ausbildung vor allem in stiftungs- oder Drittmittel-finanzierten Workshops stattfindet. Fraglos hängt dies mit dem Organisationsaufwand und der Kostenintensität solcher Seminare, die über Ländergrenzen hinweg Studierende zusammenbringen, zusammen. Es wirft aber auch ein Schlaglicht auf den Internationalisierungsgrad vieler Journalismus-Curricula, bei denen Journalismus nach wie vor auf nationale Recherchen und Berichterstattung ausgerichtet ist.
Der Band geht auf eine von den Autoren mit DFG-Förderung initiierte internationale Konferenz „Journalism Across Borders. The Production and ‚Produsage‘ of News in the Era of Transnationalization, Destabilization and Algorithmization” zurück, die 2018 an der TU Ilmenau stattfand. Vor diesem Hintergrund sind fraglos eine Reihe von Beiträgen zu sehen, die das Thema CBJ eher streifen, aber dennoch sehr wertvolle Perspektiven zum größeren Themenkreis Transnationaler Journalismus/Global Journalism und Auslandsberichterstattung liefern.
Welches Modell für CBJ kristallisiert sich – als Synthese der hier versammelten, so unterschiedlichen internationalen Perspektiven – heraus? Welche Forschungsdefizite verbleiben – welche neuen Fragen ergeben sich mit Blick auf das hier zusammengetragene Wissen so zahlreicher internationaler ExpertInnen? Die einzige „Leerstelle“ dieses reichhaltigen und sehr lesenswerten Kompendiums ist das Fehlen einer Zusammenfassung, die die vielen in dem Band angerissenen Themen nochmals strukturiert und in einen größeren kommunikationswissenschaftlichen Zusammenhang hätte stellen können.
Schlagwörter:Buchrezension, CBJ, Cross-Border-Journalism, Journalismusforschung, Kommunikationswissenschaft