In Ungarn gab es immer wieder Bedenken wegen des übermäßigen staatlichen Einflusses auf Universitäten und Schulen. In den letzten Jahren hat sich ein klarer Trend abgezeichnet: die schrittweise Umstrukturierung des öffentlichen Bildungssystems. Auch die journalistische Ausbildung ist besonders betroffen. Der ungarische Soziologe und Professor Dr. Ferenc Hammer hält dies für einen Angriff auf die akademische Freiheit und die Demokratie. Mit Leon Hüttel und Josiane Speckenwirth spricht er über seine Einschätzung der Situation und ihre langfristigen Folgen.
Leon Hüttel: Wie steht es derzeit um die akademische Freiheit in Ungarn?
Ferenc Hammer: Also, was in Ungarn passiert, ist außergewöhnlich. Der Grund, warum die akademische Freiheit in Ungarn in Gefahr ist, ist, dass die Regierung die Gesetze anwendet, die sie neu erlassen hat, um einen Großteil des Systems ihren Gunsten auszuhöhlen. Als würde ein Bankräuber ist sich nicht an einem Safe zu schaffen machen, sondern stattdessen ein Gesetz schaffen, mit dem er die ganze Bank ausrauben kann. Das ist viel eleganter.
Leon Hüttel: Das Gesetz, von dem Sie sprechen, beinhaltet die Verstaatlichung der Universitäten – welche Konsequenzen hätte das für die Universitäten und die Bildung?
Ferenc Hammer: Es geht dabei um die Autonomie der Universitäten. Wenn die Regierung an dieser Idee der Universitätsautonomie rüttelt , dann geht es um den Inhalt, den Lehrplan, die Lektüre, die Art der Wörter, die man im Titel seines Kurses verwenden darf. Das Wort „Gender“ ist in Ungarn aus dem Bildungsleben getilgt worden. Das ist ein Indikator dafür, was die Universitäten tun können und was nicht – im Jahr 2024 sprechen wir darüber. Sie können Ihnen vorschreiben, wer eine Prüfung ablegen darf, was vor kurzem an der Corvinus-Universität geschehen ist. Es ist ja nicht so, dass Professoren, die an einer verstaatlichten Universität lehren, von morgens bis abends Viktor Orbán predigen müssen. Es geht wirklich nicht darum, die ganze Regierungspropaganda, die überall im Lande zu sehen ist, auf die Universität abzuladen. Für mich liegt die wirkliche Zerstörung nicht darin, dass man dies und jenes nicht lehren kann. Die wirkliche Zerstörung besteht darin, dass dieses magische Dreieck aus Freiheit, Autonomie und Disziplin nicht mehr funktioniert.
Josiane Speckenwirth: Indem es verstaatlicht wird, richtig? Kurz gesagt, verstaatlicht zu werden bedeutet, dass man der Universität das wegnimmt, was eigentlich ihr Zweck sein sollte?
Ferenc Hammer: Sehr richtig. Es ist genau das, was die Universität ausmacht. Man nimmt ihr das Wesentliche weg. Es gibt nur noch wenige Universitäten in Budapest, die nicht von diesem Gesetz betroffen sind. Eine davon ist ELTE, die andere ist die Technische Universität.
Josiane Speckenwirth: Wie kommt es, dass diese beiden noch nicht verstaatlicht worden sind?
Ferenc Hammer: Weil es nicht nur um das Gesetz geht. Es geht auch um die Zusammenarbeit mit der Universitätsleitung, den Rektoren, den Dekanen usw. Der Rektor der ELTE und der vorherige Rektor der BUTE hatten ihre Positionen vor einigen Jahren erhalten. Aber seit kurzem hat die BUTE einen neuen Rektor, dessen Pläne mir nicht bekannt sind. Dier vorherigen Rektoren waren dem Hörensagen nach gegen eine Vereinnahmung durch die Regierung. Beide Universitäten haben also eine Art Widerstand gegen diese vorgeschlagene Umwandlung zum Ausdruck gebracht. Es ist absolut kein Zufall, dass es sich um die beiden größten Universitäten Ungarns handelt, und auch kein Zufall, dass sie sich in Budapest befinden. Ungarn entwickelt sich zu einem seltsamen, schmerzhaft interessanten Land. Ehrlich gesagt habe ich in meinem Leben noch nichts Vergleichbares erlebt. Am ehesten lassen sich Parallelen zu Romanen ziehen, vielleicht zu Kafkas Schloss, Buzzattis Tartarensteppe, Lightmans Einsteins Träume, Bodors Sinistra Zone, die alle von unheimlichen Landschaften handeln.
In den politisch kontrollierten Städten, Regionen oder Institutionen scheint auf den ersten Blick alles normal zu sein: Man sieht neu aufgebaute Stadtzentren mit ordentlichen Bänken und Eisdielen, es fehlt an nichts. Und nicht allzu viele Menschen erwähnen im lokalen Radio, in der Bezirkszeitung oder bei der Abschlussfeier am örtlichen College tabuisierte Themen. Dass Schulen geschlossen werden, Menschen monatelang auf eine ärztliche Untersuchung warten müssen und der Hauptplatz erneut von den Unternehmen der Orbán-Familie renoviert wurde, zum Beispiel. Oder dass seltsamerweise Russland wieder unser Freund und Europa der Feind ist.
Ich denke, die langsame Stagnation in den wenigen verbliebenen unabhängigen Institutionen, Universitätsfakultäten, Kulturinitiativen, die meist nur über ein geringes Budget verfügen, Medienkanäle, die langsame Stagnation, das kontinuierliche Ersticken inmitten austrocknender Mittel und gezielter Gesetzgebungen gegen die Freiheit sind sehr destruktiv.
Aber auch subtile Kollaboration, selektive Aufmerksamkeit für Dinge, das Senken der Stimme, wenn man den Namen des Bürgermeisters erwähnt, und der gelegentliche Verrat an Menschen oder Ideen sind gleichermaßen destruktiv, vielleicht auf längere Sicht. Ich habe das im Kommunismus vor 1989 erlebt. Neu ist, dass Menschen die Kontrolle verlieren, weil sie glauben, dass ihre einflussreichen Freunde alles für sie vertuschen. Man sieht Vertuschungen von Kindesmissbrauch, alles ist schrecklich. Diese neue Gesetzlosigkeit, in der die Zeit stillsteht, ist der schlechte magische Realismus von Mad Max Hungary.
Josiane Speckenwirth: Was ist der Grund für die Regierung, die Universitäten zu verstaatlichen?
Ferenc Hammer: Die Universitäten haben schon immer eine kontinuierliche Strukturerhaltungsarbeit benötigt und natürlich braucht es manchmal wirklich strukturelle Veränderungen. Aber ich weiß von verschiedenen anderen Beispielen, dass die Fidesz-Partei, wenn sie etwas verändern will, dies aus zwei Gründen tut. Der eine Grund ist, ein persönliches Einkommen für die Familie des Ministerpräsidenten zu generieren. Der zweite Grund: alle Anzeichen zu beseitigen, das Fidesz dafür verantwortlich sein könnte. Das Leben in Ungarn ist heute so einfach, weil es neben diesen zwei Gründen keinen Dritten gibt. Man wird früher oder später feststellen, dass es entweder ein Geld- oder ein Verantwortungsproblem gibt.
Im Falle der Universitäten ist das Geld in den Gebäuden der Universitäten. Unser schreckliches Schicksal mit ELTE ist, dass der Campus der geisteswissenschaftlichen Fakultät heute vielleicht eine der wertvollsten Immobilien in Ungarn ist. Die Regierung will sie haben. Außerdem; wenn es heute noch irgendeine Art von politischer Opposition in Ungarn gibt, ist diese irgendwie mit einigen Teilen der verbleibenden unabhängigen Universitäten verbunden. Wenn private Universitäten also verstaatlicht würden, wäre das sicherlich eine Katastrophe für diese Universitäten.
Leon Hüttel: Mit welchen konkreten Maßnahmen übt die ungarische Regierung die Kontrolle über die Universitäten aus?
Ferenc Hammer: Es handelt sich um eine Art Verwaltungsdiktatur, mit Hilfe von Gesetzen und Geld. Die Regierung bestraft die verbliebenen Universitäten in Budapest, also ELTE und die Technische Universität. Wo immer sie die Möglichkeit haben, die Finanzen dieser Universitäten zu unterdrücken, tun sie es. Denn wir sind immer noch öffentliche Universitäten.
Ich habe einige beunruhigende Nachrichten gehört: Sie wollen die gesamte Lehrerausbildung von den großen Universitäten abziehen, nicht nur von der ELTE, sondern auch von den Universitäten in Pécs, Sgezed und anderen. Sie verlagern die gesamte Lehrerausbildung in diese neu geschaffene nationale Universität für den öffentlichen Dienst. Wenn sie das tun, würde das bedeuten, dass die Finanzen der Universitäten in große Schwierigkeiten geraten würden.
Bei den vergangenen Parlamentschaftswahlen 2022 in Ungarn sagte Viktor Orbán, dass dies ein sehr harter Wahlkampf war und dass die Demokratie gewonnen habe. Er behauptet, dass die bösartigen Kräfte, die von ausländischen Interessen angeführt werden, durch die vom Ausland gegründeten Medien in Ungarn, die alle von den liberalen Ausbildungsinstituten für Journalismus unterstützt werden, keine Rolle spielen. Er spricht natürlich über uns. Es gibt also Pläne, auch die journalistische Ausbildung zu verstaatlichen.
Leon Hüttel: Glauben Sie, dass es in gewisser Weise noch eine Chance für akademische Unabhängigkeit gibt?
Ferenc Hammer: Ja, ich denke schon. In den letzten zwei Jahren haben sich einige bedeutende Veränderungen ergeben. Einige Universitäten haben unter Anleitung der Regierung begonnen, die Professoren besser zu bezahlen. Die Idee war, dass wir, die Lehrer an den verbliebenen unabhängigen Universitäten, sagen: „Okay, wir wollen nicht weiterhin dieses wirklich erniedrigende Universitätsgehalt bekommen, wie wir es jetzt bekommen“. Aber sie haben einen Fehler gemacht: Für uns geht es um die universitas, wir lehren nicht für Geld. Das ist es, was sie vergessen. Der Großteil unseres Lehrkörpers ist immer noch derselbe.
Josiane Speckenwirth: Haben Sie trotzdem das Bedürfnis, nach Ungarn zurückzugehen?
Ferenc Hammer: Ich war sechs Jahre lang Abteilungsleiter. Auf diese Arbeit bin ich wirklich sehr stolz. Ich denke, diese Arbeit hat dazu beigetragen, dass wir in diesem Jahr so viele Bewerbungen für Bachelor-Studienplätze hatten wie nie zuvor. Das bedeutet, dass der Markt der Gymnasiasten die Arbeit, die wir geleistet haben, zu schätzen weiß. Aber ich werde 61. Ich habe keine weiteren sechs Jahre Zeit, um das fortzusetzen, was ich bereits getan habe. Mein Fokus liegt jetzt auf diesem Projekt für akademische Freiheit, das ich gerade ins Leben gerufen habe, der Organisation namens Mesh: Academia without borders.
Das Leben meiner Kollegen, die an diesen verbleibenden unabhängigen Universitäten arbeiten, hat wirklich schmerzhafte Probleme, aber es ist immer noch besser als das der Universitätslehrer in der Türkei. Das Problem für meine ungarischen Kollegen ist der erstickende, mundtot machende Charakter der unterdrückten Gelehrten und Akademiker. Das geht schon seit so vielen Jahren so und es wird nicht besser werden. Wir haben immer noch keine Fachbereichsbibliothek; sie arbeiten an einem 15 Jahre alten Computer. Es ist schwierig, das Wesen dieses langsam erstickenden Charakters zu erfassen. Stellen Sie sich vor, jemandem wird die Luft entzogen. Zunächst ist es nicht an seinem Gesicht zu erkennen. Aber je länger es dauert, desto schlimmer wird es. Und genau darüber möchte ich forschen, über die langfristigen Auswirkungen der Unterdrückung von Akademikern.
Leon Hüttel: Glauben Sie, dass die EU weiß, wie es um die akademische Freiheit in Ungarn bestellt ist? Und wenn ja, fühlen Sie sich von der EU-Regierung unterstützt?
Ferenc Hammer: Meine Kollegen und ich stehen der EU im Allgemeinen nicht allzu positiv gegenüber.
Das Problem mit Staaten wie Ungarn ist, dass sie schreckliche Dinge mit ihren Akademikern machen. Auf dem Papier ist daran aber oft nichts auszusetzen. Sie haben alle verfassungsrechtlichen Schutzmaßnahmen, sie haben alle richtigen Gesetze. Und selbst wenn die EU jetzt den mahnenden Finger hebt, macht die Fidesz das Gleiche, was sie in den letzten 14 oder 15 Jahren immer getan hat: Sie haben ein paar kleine Änderungen an der Oberfläche vorgenommen, ein bisschen Kosmetik.
Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis die EU gemerkt hat, dass sie eigentlich gar nichts ändert. Daher ist die Glaubwürdigkeit bei dieser Art von Diskussionen völlig verloren gegangen.
Aber dieses Mal haben diese oberflächlichen Änderungen nicht funktioniert, sie haben die EU nicht überzeugt. Die EU lernt also, wie man mit Orbán umgeht. Aber wie haben sie es gelernt? Natürlich mit Geld. Das ist das Einzige, was dieser Typ versteht. Langfristig gesehen, leisten sie wichtige Arbeit, was die Aufmerksamkeit betrifft. Leider hat die Europäische Kommission zwar die stärksten Kapazitäten, aber sie sind auch diejenigen, die von den nationalen Regierungen überrumpelt werden können. Das Europäische Parlament ist im Moment vielleicht der wichtigste Akteur. Es gibt eine Initiative namens STOA, deren Präsident ein sehr einflussreicher deutscher Abgeordneter, Christian Ehler, ist. Sie sind diejenigen, die sich am meisten für die akademische Freiheit einsetzen, und ich kenne einige dieser Leute. Ich habe dort hervorragende, absolut engagierte Kollegen erlebt, die an präzisen Forschungsarbeiten und Berichterstattungen arbeiten. In dieser Hinsicht stehe ich dem, was die Europäische Union tut, sehr positiv gegenüber. Ich glaube, die Ungarn warten auf große blaue Panzer mit vielen gelben Sternen, die sie retten. Aber das wird nie passieren.
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