Die Welt, 10. August 2006
Präsent, wenn's brennt
Jeder Bürger ein Reporter: Der Laienjournalismus verändert die Medien und macht die Arbeit professioneller Redaktionen wichtiger als je zuvor.
"Ich auch, ich auch" schallt es aus Medienhäusern und Gassen: Die offene Online-Zeitung "Reader's Edition", seit Juli im Netz, wirbt: "20 Millionen Redakteure gesucht". Der Fernsehsender CNN sucht Augenzeugen aus dem Kriegsgebiet im Libanon und öffnet Laienjournalisten ein neues Portal, "CNN Exchange". "Bild", "Südkurier", "Saarbrücker Zeitung" – Blatt für Blatt entdeckt im Leser den Reporter. Wo führt das hin?
Bürgerjournalismus ist nicht neu, doch er ist vielfältiger geworden und wirkungsmächtiger. Stadtteilzeitungen, Bürgerradios und offene Fernsehkanäle beschränkten sich lange Zeit auf Lokales und auf Themen, die ein sehr spezielles Publikum interessierten; von einer breiten Öffentlichkeit wurden sie nicht wahr genommen und blieben ohne großen Einfluss. Anders in Ländern, wo Pressefreiheit und Meinungsvielfalt sehr eingeschränkt sind – oder wo professionelle Journalisten sich vor Kritik an der politischen Elite hüten. Schlüssel ist die Kommunikationstechnik, Nährboden das Internet.
Die Onlinezeitung "Ohmy-News" in Südkorea gründete sich 2000 ausdrücklich als Gegengewicht zu den konservativen Medien, die den korrupten und autoritären Strukturen des Landes nichts entgegen hielten, und trug aktiv bei, dass Menschenrechtsanwalt Roh Moo-hyun 2002 die Präsidentschaftswahlen gewann. Private Web-Tagebücher wurden während der Unruhen in den Pariser Vororten Ende vergangenen Jahres zentrale Plattform des politischen Diskurses. Viele Blogger kritisierten den französischen Innenminister Nicolas Sarkozy, er antwortete in einem Internetforum und verhalf so seiner Botschaft zu weit größerer Reichweite als über klassische Medien: In Frankreich gibt es 25 Millionen Internet-Nutzer, die meisten sind jung, immer weniger von ihnen lesen Zeitung, ihre Anliegen werden dort ohnehin allenfalls verhalten dargestellt: Politische Journalisten in Frankreich mögen die herrschende Elite nicht kritisieren; sie sehen sich als Teil von ihr.
Als Journalismus noch auf klassische Kommunikationswege angewiesen war, begrenzten die verfügbaren Vermittlungskapazitäten den Nachrichtenstrom: Druckseiten, Frequenzen, Sendezeit waren ein knappes Gut. Es zu verwalten, wurde an Redakteure und Intendanten delegiert; das gab ihnen die Macht, Themen zu setzen, zu sortieren, zu ignorieren. Der Konsument war letztlich ausgeliefert – angewiesen auf die Gnade des Redakteurs, wollte er einen Leserbrief veröffentlichen, und angewiesen, dass der Journalist seine Rolle als Gatekeeper gewissenhaft versah. So wird Journalismus nie wieder sein.
Im Internet gibt es immer bessere Möglichkeiten, Informationen und Ideen online zu stellen – flexibel, viel, billig, schnell. Das Aufregende aber ist die Vernetzung. Im Oktober 2005 peppte die BBC ihr Online-Ressort "Have your Say" (http://news.bbc.co.uk/1/hi/talking_point/default.stm) mit neuer Software auf, damit die Nutzer rascher interagieren und debattieren können. Bei heißen Themen liest ein Redakteur die Beiträge, ehe sie ins Netz kommen, sonst sind auch Leser aufgerufen, Wahrheitsgehalt und Wahrhaftigkeit zu kontrollieren. Das Internet rückt seiner eigenen Utopie näher – als Medium für mehr Demokratisierung und Kritikbereitschaft. Anscheinend.
Am 25. Juli schrieb Gero von Randow, Chefredakteur von "Zeit Online", in dem "ZEITansage" genannten Redaktionsblog: "Zu Beginn dieser Woche mussten wir eine bittere Entscheidung treffen: Die Artikel rund um die Nahostkrise können nicht mehr kommentiert werden." Es habe zu viele gegen Juden und Muslime hetzende Beiträge gegeben. Die "taz" (2.8.2006) hingegen thematisiert ein potenzielles Dilemma. Zitiert wird "User S. Schanz", der die Stilllegung der Kommentare als Parteinahme der "Zeit"-Redaktion interpretiert; schließlich sei Mitherausgeber Josef Joffe ein israelfreundlicher Rechtskonservativer.
Bürgerjournalisten trifft man immer häufiger auch jenseits der Virtualität – dank moderner Kommunikationstechnik entdecken Medienhäuser ihr Publikum neu, die Bürgerwelle erfasst Regionalzeitungen und Boulevardblätter. Die "Saarbrücker Zeitung" richtete zu Jahresbeginn eine Hotline ein, über die jeder, der einen Unfall sieht oder den etwas ärgert, Bilder, SMS, Fax oder Sprachnachrichten hinterlassen kann. Vorbild lieferte "Verdens Gang", das größte Boulevardblatt Norwegens. Ein Leserbild von der Flutwelle vor Karon-Beach in Phuket verschaffte dem Blatt den Sieg im Kampf um Aufmerksamkeit und Schnelligkeit: Das Bild war auf der Homepage der Zeitung, ehe die erste Agenturmeldung eintraf. Dank der Heerschar von Laien-Korrespondenten vor Ort klärte die Zeitung mehr Vermisstenfälle norwegischer Touristen im Krisengebiet auf als das Außenministerium.
Peter Stefan Herbst, Chefredakteur der "Saarbrücker Zeitung", kaufte die Software, mit der "Verdens Gang" die Leserhinweise bearbeitet, und startete zu Jahresbeginn die Bürgerreporter-Bewegung. 2600 Hinweise gingen bislang ein, 650 waren potenziell verwendbar, 275 wurden Grundlage eines journalistischen Textes, 92 Leserfotos wurden veröffentlicht, zählt er auf. Honorar erhalten die Leser in der Regel nicht, aber den Lohn der Ehre, ihren Namen im Blatt zu lesen. Jeder Redakteur kann direkt auf den Pool der Leserhinweise zugreifen, drei Volontäre helfen beim Sortieren. Die Leser schreiben nicht. "Sie liefern nur die Informationen, wie immer schon. Doch bei uns schlagen sie nicht beim Pförtner oder im Call-Center auf", sagt Herbst. Das erhöhe Qualität und Aktualität: "Wir erhalten neue Themenideen und sind präsent, wenn es brennt: Der Nachbar hält rasch sein Handy auf die Flammen, der Pressefotograf kommt manchmal erst, wenn fast gelöscht ist." Von übereifrigen Leserreportern, die Einsatzleute behindern, weiß er nichts. Das sei eher im Boulevard zu finden, auch, weil es dort Geld gibt. Die "Bild"-Zeitung lockt seit Juli Leser mit 500 Euro Bild-Honorar auf Schnappschussjagd. Jüngste Trophäen: Ein brennender Sportwagen auf der Bundesstraße 10, eine Nackte in der Kölner Innenstadt, Johannes B. Kerner beim Joggen auf Sylt.
Das fördere das "private Paparazzi-Unwesen", ärgert sich Michael Konken, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbands. Ihm gefällt der Vormarsch der Bürgerreporter überhaupt nicht. Den Lokaljournalisten oblägen bald nur noch Nachrecherche und sprachliche Glättung, sie würden zu Sitzredakteuren degradiert und die Verlage senkten die Kosten der Redaktionen auf Kosten des "Qualitätsprodukts Zeitung". Das ist zu einfach. Laienreporter machen Profis nicht überflüssig. Im Gegenteil.
Menschen wenden sich Inhalten zu, denen sie vertrauen – Laien können da manches erreichen, belegt das Online-Lexikon Wikipedia, das auf der Expertise vieler gründet. Doch das Prinzip lässt sich etwa auf Nachrichtenportale nicht übertragen. Nachrichten überholen sich weit rascher als Lexikoninhalte; Selbstkontrollmechanismen, über die Fehler oder Manipulationen entdeckt und korrigiert werden, greifen zu spät. Nachrichtenproduktion ist relevant und sie ist Arbeit, ein Diskurs – ob über den Irakkrieg oder das Liebesleben – auf Bürgerportalen wie "Opinio", dem Online-Platz der "Rheinischen Post", ist hingegen letztlich eine Freizeitbeschäftigung.
Journalismus bedeutet mehr, als bloß etwas zu veröffentlichen. Jeder kann beitragen, dass Medien ihre Kontrollfunktion besser wahrnehmen – und ihre seismografische: In Blogs und Communities sowie durch Bürgerreporter finden professionell recherchierende Journalisten Argumente und Informationen aus erster Hand, können Veränderungen und Gefahren rechtzeitiger aufspüren.
Früher waren die knappen Vermittlungskapazitäten das Nadelöhr, heute ist es der Mangel an Zeit und Kompetenz derer, die aus der Informationsflut auswählen. Profi-Journalisten haben nicht mehr das Vermittlungsmonopol, aber hohe Expertise in der Auswahl der relevanten Nachrichten und ermöglichen Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Zeit. Bei Reader's Edition (www.readers-edition.de) schreiben ausschließlich Bürger, ehrenamtliche Moderatoren überwachen die medienethische Reinheit: die Fakten müssen stimmen, niemand darf beleidigt werden. Das Online-Forum der Netzeitung wirbt: "Der Platz ist unbegrenzt." Das klingt verlockend, hat aber kein revolutionäres Potenzial, gerade in einer offenen Mediengesellschaft: Wenn alle reden, hört keiner mehr etwas.
Schlagwörter:Public Journalism, Reader's Edition