Adieu, KISS – Neue Wege der Osteuropa-Berichterstattung

7. Januar 2013 • Qualität & Ethik • von

Die Berichterstattung deutscher Zeitungen und Medien über Russland und Osteuropa steht in der Kritik. Diese sei oberflächlich, fehlerhaft, klischeebeladen, negativ und unterfinanziert. Tatsächlich handelt es sich hierbei um strukturelle Probleme der Auslandsberichterstattung.

Doch es genügt nicht, nur zu klagen. Um die Arbeit der Korrespondenten zu verbessern, müssen neue Wege eingeschlagen werden. Dazu braucht auch die Journalismus-Forschung einen größeren Praxisbezug. Die Zeitschrift Osteuropa hat eine Debatte zu Qualität und Stellenwert der Berichterstattung über Russland und Osteuropa in den deutschen Medien angestoßen.[1]

Diese Debatte ist aus zwei Gründen wichtig. Sie macht zum einen auf die Abwärtsspirale aus sinkender Qualität, schlechteren Arbeitsbedingungen und geringerem Interesse der Leser, Zuschauer und Zuhörer aufmerksam, von welcher der gesamte Auslandsjournalismus betroffen ist. Auslandsjournalismus ist eine Wertfrage, wir müssen eine Diskussion darüber führen, was uns ein differenziertes Bild der Welt wert ist.[2] Zum anderen ist die Fokussierung auf Russland und Osteuropa wichtig. Zwar ließe sich gleiches für viele andere Regionen der Welt sagen.

Entscheidend ist aber, dass für alle Regionen gleichermaßen gilt: Die Welt wandelt sich rasch, daher muss man regelmäßig überprüfen, ob die Bilder, die man von anderen Ländern, Kulturen oder Politiken hat, noch zutreffen, ehe sich Klischees verhärten, die einer vergangenen Wirklichkeit entstammen. Dies gilt für jeden, besonders aber für Journalisten als professionelle Vermittler. Dazu müssen wir wissen, ob und wie sich die Russland-Berichterstattung in den deutschen Medien in den vergangenen zehn, zwanzig, dreißig Jahren verändert hat. Wir müssen fragen, welches Bild die deutschen Medien von den anderen osteuropäischen Staaten zeichnen, wie sich das Selbstverständnis der Osteuropa-Korrespondenten verändert, wie ihre Arbeitsroutinen sind und was dies bedeutet. Was ist das Charakteristische an der Art, wie über Osteuropa berichtet wird?

Die Defizite der Auslandsberichterstattung wurden oft benannt, sie berühren vor allem zwei Felder:
– Wer zählt: die Struktur der Weltinformationsgesellschaft.
– Wer erzählt: der „Journalist“, sein Berufsbild und Umfeld sowie die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Medieninhalten.

Wer zählt: die Struktur der Weltinformationsgesellschaft

Die globalen Nachrichtenflüsse und damit der Auslandsjournalismus sind von der Nähe und dem Elitestatus eines Landes geprägt: Über ein Land, dem man sich verbunden fühlt und das man für einflussreich hält, wird  mehr berichtet als über eines, das man für weniger wichtig oder gewichtig hält.[3] Und auch die globalisierte Welt wird weiterhin aus der Perspektive der einzelnen Nationalstaaten beschrieben: Das „Ausland“ wird mit dem eigenen Land verglichen und oft nur durch diese Brille und damit verzerrt wahrgenommen. [4]

Die Aufmerksamkeit für verschiedene Länder und Regionen spiegelt sich in der Verteilung der Korrespondenten: Aus deutscher Sicht zählt vor allem, was in Brüssel und Washington geschieht. Der Anteil der in die GUS-Staaten entsandten Korrespondenten liegt hinter Asien sowie Nord- und Südamerika bei 4,3 Prozent.[5] Allerdings darf man das nicht isoliert sehen. Der von der UNESCO in Auftrag gegebene McBride-Bericht stellte 1980 fest, dass vor allem Länder der Dritten Welt benachteiligt sind, eine weitere Studie nahm ausdrücklich Osteuropa in den Kreis der „unsichtbaren Teile der Welt“ auf.[6]

Das hat sich in den deutschen Medien nach dem Ende der Sowjetunion geändert. Deren Auflösung führte zwar dazu, dass der „Elitestatus“ der ehemaligen Blockmacht respektive ihrer Kernrepublik Russland schwächer wurde, aber er verschwand nicht. Gleichzeitig gelangten jedoch neben Russland 14 neue, unabhängige Staaten mit ihrer Kultur, ihrer Religion, ihren Landschaften ins Blickfeld, die vorher, als Sowjetrepubliken, meist nicht gesondert wahrgenommen wurden. Einige davon, etwa die baltischen Staaten, erwarben zusätzliche Aufmerksamkeit durch ihren Status als Mitglied der Europäischen Union, der sie in die „Nähe“ rückte.

Im Kern blieben die „Nachrichtenmächte“ jedoch dieselben. Die Merkmale Machtstatus und Nähe blieben nach den Umbrüchen von 1989 und vom 11. September 2001 dieselben. Dies bestätigt, dass die Nachrichtenwerttheorie die globale Nachrichtenauswahl gut erklären kann.[7] Die USA sind weiterhin Nachrichtensupermacht, ihre Dominanz hat weltweit zugenommen. Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland gehören weiterhin zu den Top-20, die unabhängig von der Ereignislage eine Rolle spielen. Neu hinzu gekommen sind Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Iran und Syrien.

Regional betrachtet: 2004 lagen alle internationalen Nachrichtenzentren auf der Nordhalbkugel, der osteuropäische Raum gehörte hingegen zu den sogenannten Schwellenländern.[8] Das heißt, die internationale Nachrichtengeographie ist trotz politischer und technischer Umbrüche (Internet) seit Jahrzehnten von fast denselben Weltbildern und Statusvorstellungen geprägt – übrigens sowohl im Journalismus als auch in der Forschung.[9]

Russland belegte, gemessen am Umfang der Berichterstattung in Fernsehnachrichten bei ARD, ZDF, RTL und Sat.1 im Jahr 2010, den vierten Platz. Auf Platz 1 lagen die USA, über die dreieinhalb mal so oft berichtet wurde, auf Platz 2 Frankreich.[10] Noch vor Russland lag auch Afghanistan, was natürlich mit dem Einsatz der deutschen Bundeswehr am Hindukusch zu tun hatte.[11] Die Schwerpunkte der internationalen Politikberichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien waren die jeweilige Innenpolitik, Wahlen und Systemveränderungen. Privatsender berichteten in der Tendenz mehr über Gewalttaten oder Unfälle. Russland gelangte wegen der Verhandlungen über das neue START-Abkommen, in Zusammenhang mit der Debatte über die Ausrichtung der OSZE vor deren Gipfeltreffen im kasachischen Astana im Dezember 2010 und aufgrund von Terroranschlägen in die deutschen Fernsehnachrichten.[12] Im Jahr 2011 waren die Arabischen Revolutionen, die Nuklearkatastrophe in Fukushima und die Staatsschuldenkrise im Euroraum die prägenden internationalen Themen.[13]

Russland belegte gemessen am Umfang der Berichterstattung nur noch Platz 14.[14] Auf Platz 1 blieben die USA, auf Platz 2 lag wegen des Bürgerkriegs Libyen, gefolgt von Frankreich. Auf Platz 4 lag Japan, gefolgt von Griechenland. Japan, Ägypten, Syrien, Tunesien und Norwegen rückten 2011 unter die Top 20-Länder. Russland war 2011 das einzige osteuropäische Land unter den Top 20; besondere Aufmerksamkeit erhielten der Anschlag auf den Flughafen Domodedovo in Moskau im Januar 2011 sowie die Parlamentswahl und die Proteste im Dezember 2011.

2010 war neben Russland auch Polen unter den Top 20 (Platz 11).[15] Gründe waren der Tod des polnischen Präsidenten Kaczynski bei einem Flugzeugabsturz im April sowie die Hochwasser im Mai und August. In der Zusammenschau des Jahres 2010 gelangten andere osteuropäische Länder zwar nicht auf die Liste der 20 Staaten, über die in den deutschen Fernsehnachrichten am meisten berichtet wurde, jedoch in einzelnen Monaten. So etwa im Juni 2010 Kirgisistan wegen der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Usbeken und ethnischen Kirgisen im Juni, im Oktober 2010 Ungarn wegen der Umweltkatastrophe nach einem Chemieunfall.

Russland rückte wegen der Waldbrände im August 2010 auf die Liste der Top-10, was im März 2010 nach den Terroranschlägen in der Moskauer Metro aber nicht geschehen war – offenbar weil hier die Themenkonkurrenz (Kindesmissbrauchs-Skandal, Griechenlandkrise, Erdbeben in Chile etc.) zu hoch war. In vielen der genannten Beispiele waren die Länder lediglich Schauplatz. Die verfügbaren Daten erlauben es oft nicht, präzise zu unterscheiden, ob ein Land nur Schauplatz oder auch Akteur ist. Wichtig zu wissen wäre auch, in wie vielen Beiträgen der Zuschauer etwas über ein Land selbst erfährt und nicht nur über sein Handeln auf der internationalen Bühne.

Neuere Studien bestätigen zwar, dass es wichtig bleibt, in welchem Land etwas passiert, stellen aber fest, dass es weit stärker als angenommen auch auf den Typ des Ereignisses selbst ankommt.[16] Dies gilt auch für die Osteuropa-Berichterstattung deutscher Tageszeitungen. Wenn ein Thema interessiert, dann interessiert auch ein Land, das sonst eher nicht im Fokus steht.[17] Serbien gilt eher als Land der Peripherie, gelangte aber häufig in die Auslandsberichterstattung, weil die Themen Kriegsverbrechen und der völkerrechtliche Status des Kosovo für interessant und relevant gehalten wurden. Eine Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine und in Polen oder olympische Winterspiele in Soči führen dazu, dass die Medien ihre Scheinwerfer auf Länder richten, die sonst eher am Rande wahrgenommen werden.

Sinkt die mediale Aufmerksamkeit für ein Land, muss dies daher nicht zwangsläufig heißen, dass diesem Land weniger Bedeutung beigemessen wird. Ursache kann auch der Nachrichtenwert der Ereignisse sein. 1989 erreichte die Zahl der Berichte der Auslandskorrespondenten über den Zusammenbruch der kommunistischen Einparteienherrschaft in Osteuropa Rekordhöhen. Zehn Jahre später war die Berichterstattung über diesen Raum auf die Hälfte geschrumpft, weil es in dieser Region keine Ereignisse mit entsprechendem Nachrichtenwert gab.

Wer erzählt: der „Journalist“

Korrespondenten sahen sich einst als altruistische Welterklärer. Wer mit Auslandsjournalisten spricht, erhält weiterhin das Bild eines an Qualität und Einordnung interessierten Profis.[18] Doch dieses Bild erhält Risse, wenn man die Medieninhalte erforscht. Die romantische Sicht hat mit der Realität der heutigen Medienwelt wenig zu tun. Die meisten Journalisten sind Themenmakler, die mit der Ware „Geschichte“ Geld verdienen möchten.[19]

Ein Themenmakler orientiert sich weniger an Bildungsidealen (was sollten Bürger wissen) als an Kundenbedürfnissen (was kaufen sie, wo schalten sie ein). Nadelöhr sind die Heimatredaktionen. Wer gut verkaufen will, bietet Geschichten an, die in den Mainstream und zu den Vorstellungen der Heimatredaktion passen – und das kann auch heißen: zu den dort gepflegten Stereotypen. Gut platzieren lassen sich auch Themen, die von den Agenturen gemeldet und im Internet diskutiert werden. KISS („Keep it short and simple“) und KKK (Kriege – Krisen – Katastrophen) lauten die Formeln, die beachten sollte, wer seine Geschichte verkaufen will.

Auch Korrespondenten bedienen den Trend zu Emotion, Sensationalismus, Personalisierung und Prominenz, Unterhaltung – kurz: zur Boulevardisierung. Denn so gebaute Geschichten lassen sich ebenfalls leichter absetzen – in den Leitmedien und Qualitätsblättern ebenso wie in anderen. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass viele Auslandsjournalisten aus verschiedenartigen Gründen – Geld, Risiko, Bequemlichkeit, Nachfrage, Veröffentlichungsdruck – immer seltener recherchieren. Oft kommen sie schlecht vorbereitet in ihnen wenig bekannten Regionen an. Fachqualifikation sowie Sprach- oder Landeskenntnisse zählen für die Redaktionen mittlerweile kaum mehr als Auswahl- und Rekrutierungskriterium. Auf das soziale und symbolische Kapital kommt es an.[20]

Redaktionen schicken jene ins Ausland, die dies wollen und denen man „es“ von der Persönlichkeit her zutraut. Manche Korrespondenten leisten es sich zudem, noch immer wenig vertraut zu sein mit dem Potential, das in sozialen Medien steckt. Doch wer sich nicht auskennt, wird leichter abhängig von Helfern vor Ort, von Stringern und Fixern. Er glaubt nur allzu gern, dass Blogger und Bürgerreporter mehr für weniger Geld leisten, und lässt sich eher zu Fehlleistungen hinreißen, die auch auf einen unzureichend genordeten ethischen Kompass schließen lassen: Quellen werden nicht konsequent genannt, Ortsmarken sind oft Täuschungen: Wo Tiflis draufsteht, ist noch lange nicht gesagt, dass der Korrespondent wirklich dort war. Hauptsache, der Schein stimmt…

Der Trend zur Prominenz bewirkt, dass Korrespondenten zuweilen spezielle Konkurrenz aus dem eigenen Haus erwächst. Das ZDF leistet sich zwar einen China-Korrespondenten, schickte aber 2008 vor den Olympischen Spielen das bekanntere Fernsehgesicht Marietta Slomka für eine Reportage nach China und begründete dies auch damit, sie habe einen unbedarfteren Blick als der Korrespondent.[21] Gut untersucht ist die Frage, wie stark Klischees die Russland-Berichterstattung in deutschen Medien prägen. Immer wieder bestätigt sich: Das Russlandbild ist tendenziell negativ und teils feindselig: Die Bilder des Balalaika spielenden Poeten und des immerwährenden Reichs des Bösen aus der Zeit des Ost-West-Konflikts sind nicht verschwunden, Aggression und Kriminalität sind besonders häufig Themen, die negative Grundeinstellung in den Medienberichten entspricht offenbar der Haltung deutscher außenpolitischer Akteure. Ob Georgienkonflikt oder ein möglicher Angriff auf die Krim – auch überregionale Leitmedien zeigen schnell und ohne weitere Analyse Russland als Aggressor.[22]

Offizielle Vertreter Russlands verweisen oft darauf, dass Stereotype wie das vom aggressiven Russland die Berichterstattung prägten. Offenbar besteht der Eindruck, deutsche Medien berichteten über Russland besonders unfair. Michail Gorbačev formulierte diese Kritik mehrfach, 2008 in einem Offenen Brief an die deutschen Medien: Wie die deutschen Medien über Russland berichteten, erwecke den Eindruck, man habe es mit einer gezielten Kampagne zu tun, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktatur ab).[23]

Gorbačev warf den deutschen Zeitungsmachern vor, sie hätten „keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen“, und appellierte: Man sollte einfach verstehen, dass es einen deutschen und einen russischen Kontext gibt. Man sollte erkennen, dass Russland nicht umhin kommt, in seiner Entwicklung alle möglichen Hindernisse überwinden zu müssen. Überspringen geht nicht.[24] Diesen Vorwurf müssen sich westliche Medien machen lassen. Sie sollten auch mehr Verständnis aufbringen, dass Transformationsprozesse nie und nirgendwo stringent oder fast über Nacht erfolgen; Systeme und Menschen brauchen Zeit. Dazu kann auch eine Phase des autoritären Roll-backs gehören wie seit zwölf Jahren unter Putin. Verständnis haben , heißt aber selbstverständlich nicht, Korruption oder Wahlbetrug zu billigen, sondern eben die Entwicklung kritisch zu beobachten.

Zwei Punkte sind Gorbačevs Medienkritik entgegen zu halten. Erstens gilt die Formel „Kriege, Krisen, Katastrophen“ unabhängig vom Land als Selektionsprinzip der Auslandsberichterstattung: Die Kameras schwenken immer dorthin, wo es kracht und knallt. Wenn es in Russland mehr Gewalt gibt als etwa in Schweden oder im Arabischen Raum, dann wird auch mehr über Gewalt in Russland berichtet, wenn das Gewaltpotential im Arabischen Raum hoch ist, wie seit dem Frühling 2011, dann rücken diese Länder in den Fokus der Berichterstattung. Zweitens: Westliche Medien, und nicht nur deutsche Medien, berichten über Länder mit einem Demokratiedefizit generell eher kritisch. Das gilt keineswegs nur für Russland, sondern beispielsweise auch für Ungarn oder Rumänien oder für die Türkei, für Burma, für lateinamerikanische Staaten und noch andere Länder.

Genau dies, nämlich mehrere Seiten zu einem Sachverhalt zu hören, um der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen, gehört zum professionellen Selbstverständnis in demokratischen Systemen arbeitender Journalisten. Dieser kritische Blick deckt sich oft nicht mit dem der Regierung des jeweiligen Landes und der auf einen regierungstreuen Kurs eingeschwenkten Medien, sondern berücksichtigt auch Argumente der Opposition im jeweiligen Land. Wenn die kritisierten Regierungen, wie vor kurzem die rumänische oder die ungarische, westlichen Medien dann unterstellen, sie seien der Opposition auf den Leim gegangen, ist dies lediglich eine mögliche Sicht, aber nicht zwingend die „richtige“. Speziell in Russland scheint die Kritik an der Stereotypisierung zwischenzeitlich zu einer generellen Kritik an Kritik zu werden.

Gesellschaftliche Kräfte im eigenen Land, die mit dem Ausland zusammenarbeiten, dürfen mittlerweile als Agenten abgestempelt werden, und das Parlament plant, diesen Stempel auch noch jenen inländischen Medien aufzudrücken, die Geld aus dem Ausland erhalten. Offenbar betrachtet auch das Parlament alles, was nicht der Regierungsposition entspricht, als Einmischung im Auftrag fremder Propaganda und erwartet von Medien, sich als verlängerten Arm der offiziellen Positionen zu sehen. Dieses Journalismus-Verständnis ist für autoritäre Systeme charakteristisch, nicht für demokratische. Interessant wäre allerdings herauszufinden, inwiefern westliche Medien Demokratiedefizite in Russland kritischer beobachten als in  anderen Ländern. Doch dies lässt sich mit den bislang verfügbaren Indizes zumindest nicht eindeutig messen.

Stereotype sind auch nützlich. Ähnlich wie der Rückgriff auf Symbole oder geläufige Denkschemata helfen sie bei der Komplexitätsreduktion. Aber man muss wissen, woher sie kommen, um sie bewerten zu können. Manche stammen aus Filmen, andere könnten sich aus den Unternehmensgrundsätzen ableiten. Im Leitbild der Axel Springer AG (Stand 2001) wird als eines von fünf „gesellschaftspolitischen Essentials“ formuliert: „die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“. Ein wohlwollendes Amerikabild muss aber nicht zwangsläufig ein negatives Russlandbild bewirken. Das Beispiel verweist auf eine Lücke. Es fehlt eine Analyse der jeweiligen Redaktionspolitiken: Werden hier Stereotypen gepflegt? Was passiert, wenn die Einschätzung der Redaktion von der des Korrespondenten abweicht?

Journalisten tragen eine große Verantwortung für das Russlandbild ihres Publikums, aber sie haben nicht die Macht, es unmittelbar zu verändern. Es kann also eine Kluft geben zwischen dem Bild der Journalisten und jenem der Bürger. Generell gilt: Das Publikum übernimmt das, was auf der Agenda der Medien steht.[25] Wenn über Russland berichtet wird, blickt das Publikum nach Russland. Doch wie wirkt sich Medienberichterstattung auf politische oder gewaltbezogene oder stereotypenbezogene Einstellungen aus? Sicher ist: Das Publikum greift bei der Beurteilung von Politikern oder Sachverhalten oft auf die Kriterien zurück, die von Medien vorgegeben werden. Nicht erschöpfend nachgewiesen ist aber, wie sehr dieser Priming-Effekt abgeschwächt oder verstärkt wird durch Vorwissen, Vertrauen in die Medienberichterstattung und durch die Bedeutung, die ein Thema für den Einzelnen hat. Anders gesagt: Es ist zwar wichtig, was Medien auf die Tagesordnung setzen und wie sie das tun, doch Journalisten können mit der Art, wie sie berichten, eine Publikumsmeinung nicht unmittelbar verändern.

Wie komplex das Bild der Publikums- und Medienwahrnehmung ist, zeigen verschiedene Studien über das Russland-Bild im Jahr 2007. Diese Studien wurden von Unternehmen in Auftrag gegeben, die im Russlandgeschäft tätig sind. Eine Medieninhaltsanalyse deutscher Meinungsführermedien ergab, dass jeder dritte Autor auf Stereotypen zurückgriff, meist auf negative.[26] Die Selbsteinschätzung der Journalisten mit Arbeitsschwerpunkt Russland, der Ressortleiter sowie der Chefredakteure sieht anders aus: 80 Prozent sind der Meinung, das Bild deutscher Medien über die Verhältnisse in Russland sei realistisch, die Berichterstattung sei auf genügend Quellen gestützt. Die meisten Journalisten ordnen Russland in der politischen Führerschaft kurz vor China und der EU, aber deutlich hinter den USA ein, ökonomisch spiele Russland in der zweiten Liga.

Viele wollen, dass Deutschland gegenüber Russland einen harten Kurs fährt, auch wenn dies zu Lasten eines entspannten Verhältnisses gehe. Und die Mehrheit der Journalisten glaubt, die deutsche Bevölkerung habe ein negatives Russlandbild.27 Das täuscht. Eine Umfrage ergab fast zeitgleich, 40 Prozent der Deutschen interessieren sich „sehr stark“ oder „stark“ für Russland, 46 weitere immerhin „weniger stark“, gut die Hälfte hält Russland für einen verlässlichen Wirtschaftspartner, gut drei Viertel glauben, die Kooperation im Energiesektor verbessere auch die politischen Beziehungen. 84 Prozent der Befragten sind allerdings der Auffassung, das Russlandbild der Deutschen sei von Vorurteilen geprägt, wobei aus der Studie nicht ersichtlich ist, welcher Art diese Vorurteile sind. 49 Prozent betrachten die Berichterstattung der Medien über Russland nicht als weitgehend objektiv, nur 36 Prozent fühlen sich zutreffend über Russland informiert.[28]

Diese Studien sind Beispiel und Anlass für ein weiteres Argument, den Forschungstransfer. Es wäre überfällig, dass Redaktionen Studien nicht nur als Thema, über das sie berichten, zur Kenntnis nehmen, sondern öfter auch kritisch prüfen, was die Journalismusforschung über Journalisten und ihr Berufsfeld herausfindet, wie sie diese Ergebnisse im Redaktionsalltag umsetzen können und über welche Aspekte aus ihrer Sicht noch Forschung nützlich wäre. Viele Fragen sind offen: Welche Prägungen haben welches Gewicht? Inwiefern prägt die Haltung von Gorbačev zur Wiedervereinigung das Russlandbild der Deutschen? Woher kommt die Kluft zwischen medialer und zivilgesellschaftlicher Wahrnehmung? Nebenbei: Ein engeres Zusammenwirken von Praktikern mit jenen, die sich auf angewandte Journalismusforschung verstehen, könnte dazu beitragen, bisherige Forschungsdesigns zur Auslandsberichterstattung, die oft auch noch von alten Weltbildern geprägt sind, zu verbessern.

Fazit

In der Auslandsberichterstattung steht ebenso wie im Inland ein immer professionellerer PR-Expertenstand zunehmend schlechter ausgestatteten Journalisten gegenüber. Im Kaukasuskonflikt beauftragten Georgien und Russland jeweils PR-Agenturen, die für sie den Kampf um die Deutungshoheit gewinnen sollten, das Ringen um den Spin und um die jeweils „passenden“ Journalisten. Diese Instrumentalisierung muss kritisch beobachtet, enthüllt und öffentlich gemacht werden. Es ist für die Öffentlichkeit von höchstem Interesse, wer die Deutung prägt: Sind es die Kommunikationsexperten im Interesse ihres Auftraggebers? Oder sind es Journalisten, die vor allem der demokratischen Öffentlichkeit verantwortlich sind? Die Zivilgesellschaft muss diese Transparenz einfordern.[29]

Die Debatte über die Bedeutung von kritischem Auslandsjournalismus muss raus aus den Elfenbeintürmen von Fachzeitschriften und Fachtagungen. Nur wenn es gelingt, dem Publikum den Wert der Auslandsberichterstattung nahe zu bringen, gewinnt diese in den Medienhäusern wieder an Wertschätzung. Nur dann steigen Publikumsinteresse und Quoten. Viele Medienhäuser haben versäumt, ihrem Publikum zu vermitteln, woran es guten Auslandsjournalismus erkennt, was dieser kostet und welchen Wert dieser für unsere Weltsicht hat. Sie zeigen zu selten, was Fehlleistungen sind und wer schlechten Journalismus macht.

In Fachzeitschriften wie message und auf Journalistentagungen etwa des Netzwerks Recherche werden  spannende Diskussionen geführt. Doch das genügt nicht. Die Annahme, dass interessiere niemanden, bedient vermutlich ein Klischee: Jedem mündigen Bürger, jedem, dem an der Zivilgesellschaft liegt, muss auch an einer lebendigen und kritischen Weltsicht gelegen sein. Die Medienberichterstattung beeinflusst – neben innenpolitischem Kalkül, internationalen Einflüssen und persönlichen Einstellungen – auch die Ansichten außenpolitischer Akteure und damit den politischen Prozess.[30] Aufgabe der Medien einer demokratischen Gesellschaft ist es, mit Kritik und Kontrolle eine öffentliche Meinung auch zum Weltgeschehen zu ermöglichen.

Um genauer zu erfahren, was zu tun ist, müssen wir genauer hinsehen. Wir müssen wissen, ob und wie sich die Russland-Berichterstattung in deutschen Medien in den vergangenen zehn, zwanzig, dreißig Jahren verändert hat. Wir müssen fragen, welches Bild die deutschen Medien von den osteuropäischen Staaten zeichnen, wie sich das Selbstverständnis der Osteuropa-Korrespondenten verändert, wie ihre Arbeitsroutinen sind und was dies bedeutet. In diese Diskussion muss einfließen, welche Perspektiven der Medienwandel und der Wandel des Berufsfelds Auslandsjournalismus generell bietet.

Der Direktor des BBC World Service Richard Sambrook empfiehlt besonders Korrespondenten, alte und neue mediale Welten zu verbinden und in multikulturellen Teams zu arbeiten, eine Kooperation, die das gegenseitige Verständnis für kulturelle Verschiedenheiten sehr fördern kann.[31] Schließlich müssen wir reflektieren: Was ist bislang das Charakteristische an der Art, wie über Osteuropa berichtet wird? Welche Erfahrungen in der Medienentwicklungszusammenarbeit lassen sich nutzbar machen? Was prägt?

[1] Moritz Gathmann, Stefan Scholl: Raus aus Moskau! In: OSTEUROPA, 10/2011, S. 77–81 – Christian Neef: Binsen nach Tula, in: OE, 2/2012, S. 101–107. – Ulrich Heyden: Gefährliche Ignoranz, in: OE, 4/2012, S. 3–7. – Burkhard Bischof: Wege aus der Russland-Flaute. Andere Themen, neue Perspektiven, in: OE, 6–8/2012, S. 521–526.

[2] Gemma Pörzgen: Wertfrage Auslandsjournalismus, in: OSTEUROPA, 3/2012, S. 41–46.

[3] Johan Galtung, Marie Homboe Ruge: The Structure of Foreign News, in: Journal of Peace Research, 2/1965, S. 64–91.

[4] Kai Hafez: Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Baden-Baden 2002.

[5] Kathrin Junghanns, Thomas Hanitzsch: Deutsche Auslandskorrespondenten im Profil, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 3/2006, S. 412–429. Die Studie basiert auf Online-Interviews mit 176 Auslandskorrespondenten, die für deutsche Medien berichten.

[6] Annabelle Sreberny-Mohammadi: The „World of the news study“, in: Journal of Communication, 34/1984, S. 120–142, hier S. 132.

[7] Galtung & Ruge [Fn. 3] entwickelten 1965 die Nachrichtenwerttheorie: Nachrichtenwerte sind Faktoren, die bewirken, dass ein Ereignis oder eine Information zur Nachricht wird. Diese Faktoren sind mittlerweile recht gut erforscht. Elite-Nation ist ein Faktor, Bezug zu Elite-Personen ein weiterer, ferner Negativität, Orientierungs-, Wissenswert.

[8] Annekaryn Tiele: Nachrichtengeographien der Tagespresse. Eine international vergleichende Nachrichtenwertstudie. Berlin 2010, S. 264.

[9] Ebd., S. 266, 274.

[10] Udo-Michael Krüger: InfoMonitor 2010: Fernsehnachrichten bei ARD, ZDF, RTL und Sat.1, in: Media Perspektiven, 2/2011, S. 91–114.

[11] Ebd., S. 103, 108.

[12] Ebd., S. 108.

[13] Udo-Michael Krüger: InfoMonitor 2011: Fernsehnachrichten bei ARD, ZDF, RTL und Sat.1, in: Media Perspektiven, 2/2012, S. 78–106.

[14] Krüger, InfoMonitor 2010 [Fn. 10], S. 108. – Krüger, InfoMonitor 2011 [Fn. 13], S. 100.

[15] Ebd.

[16] René Mono, Helmut Scherer: Wer zählt die Toten, kennt die Orte. Ist der internationale Nachrichtenfluss von Länderfaktoren oder Ereignismerkmalen determiniert? In: Publizistik, 2/2012, S. 135–159.

[17] Patrick Weber: Nachrichtengeographie: Beschreibungsmodell und Erklärungsansatz auf dem Prüfstand. Untersuchung am Beispiel der Osteuropaberichterstattung deutscher Tageszeitungen, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 3–4, 2008, S. 392–413. – Patrick Weber: No news from the East? Predicting pattern of coverage of Eastern Europe in selected German newspapers, in: International Communication Gazette, 6/ 2010, S. 465–485.

[18] Kathrin Junghanns, Thomas Hanitzsch: Deutsche Auslandskorrespondenten im Profil, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 3/2006, S. 412–429. Viele der befragten Korrespondenten erklärten,  Kontextualisierung, kulturelle Verständigung und Einordnung des Auslandsgeschehens seien ihnen wichtig.

[19] Lutz Mükke: „Der Trend geht zum Generalisten und Feuerwehrmann“. Ein Dossier zum Zustand der deutschen Auslandsberichterstattung, nr-Dossier, 2/2008, S. 9. – Susanne Fengler, Stephan Russ-Mohl: Der Journalist als „homo oeconomicus“. Konstanz 2005. – Oliver Hahn, Julia Lönnendonker, Roland Schröder: Deutsche Auslandskorrespondenten. Ein Handbuch. Konstanz 2008.

[20] Claudia Riesmeyer: Traumjob oder Albtraum? Deutsche Auslandskorrespondenten im Zeitalter von Internet und Globalisierung, in: Andreas Hepp, Marco Höhn, Jeffrey Wimmer: Medienkultur im Wandel. Konstanz 2010, S. 435–448, hier S. 445.

[21] Marlis Prinzing: Frau von heute, Frau von Welt, Rheinischer Merkur, 10.7.2008.

[22] Wenke Crudopf: Russland-Stereotypen in der deutschen Medienberichterstattung. Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts der FU Berlin, 29/2000, S. 39ff. Crudopf vergleicht die Berichterstattung von Spiegel und Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 1999. – Judith Rothe: Die Krim nach dem Georgien-Krieg – wird Geschichte zur Waffe? Eine Analyse deutscher, ukrainischer und russischer Presseberichterstattung über die Krim nach dem Georgien-Krieg, DGAP-Analyse, 4/2009. – Lars Peter Schmidt: „Unobjektiv“, „falsch“ und einseitig. Reaktion der russischen Medien auf die Berichterstattung in Europa und den USA über den Krieg im Kaukasus und dessen Folgen für die Beziehungen Russlands zum Westen, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, August 2008.

[23] Offener Brief von Michail Gorbačev an die deutschen Medien, 2008, <www.petersburgerdialog. de/offener-brief-von-michail-gorbatschow-die-deutschen-medien>.

[24] Ebd.

[25] Hans-Bernd Brosius: Agenda-Setting nach einem Vierteljahrhundert Forschung: Methodischer und theoretischer Stillstand? In: Publizistik, 39/1994, S. 188–269. – Michael Schenk: Medienwirkungsforschung. Tübingen 2007.

[26] Vorurteile überleben lang. Studie über das Russlandbild der Deutschen, <www.ornispress.de/vorurteile-ueberleben-lang.688.0.html>. Die Meldung bezieht sich auf eine Medieninhaltsanalyse, die das F.A.Z.-Institut Prime Research international im Auftrag von Wingas, dem Gemeinschaftsunternehmen der BASF-Tochter Wintershall und der russischen Gazprom, durchführte.

[27] Dimap Communications: Das Bild Russlands in deutschen Medien. Berlin 2007. Die Studie gab die WAZ-Gruppe in Auftrag, <www.petersburger-dialog.de/files/Bericht_Russlandumfrage_WAZ_dez07.pdf>.

[28] Forsa, P090.0 11/08: „Unsere Russen – Unsere Deutschen“. Das Russland-Bild der Deutschen. Wahrnehmungen, Urteile und Stereotype, <www.wingas.de/pi-07-24.html>. Die Studie wurde ebenfalls von Wingas in Auftrag gegeben. Anlass war eine Ausstellung des Staatlichen Historischen Museums Moskau und des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst über „Unsere Russen – Unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800–2000“. Berlin 2008.

[29] Mükke, Der Trend [Fn. 19], S. 19f. – Eindrucksvoll auch: Jörg Becker, Mira Beham: Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 2006.

[30] Frank Brettschneider: Massenmedien, öffentliche Meinung und Außenpolitik, in: Wolf-Dieter Eberwein, Karl Kaiser: Deutschlands neue Außenpolitik, Band 4: Institutionen und Ressourcen. München 1998, S. 215–226. – Friedhelm Neidhardt, Christiane Eilders, Barbara Pfetsch: Die Stimme der Medien im politischen Prozess: Themen und Meinungen in Pressekommentaren. FS III 98–106, Wissenschaftszentrum Berlin 1998. – Barbara Pfetsch: Themenkarrieren und politische Kommunikation: Zum Verhältnis von Politik und Medien bei der Entstehung der politischen Agenda, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 39/1994, S. 11–20.

[31] Richard Sambrook: Are Foreign Correspondents Redundant? Reuters Institute for the Study of Journalism, 2011. Pilotprojekte gibt es, so etwa unter dem Dach der Axel-Springer-Akademie ein deutsch-israelisches Projekt, <www.harbour-tales.de>. – Ansgar Mayer, Simon Kaatz: Auslandsjournalismus in spe, in: Mediummagazin, 12/2011. Oder auf Hochschulebene eine Kooperation der Universitäten von Dortmund und St. Petersburg. Sie veranstalteten nach der Wahl von Dmitrij Medvedev zum Präsidenten Russlands im Jahr 2008 ein Seminar, bei dem Journalismus-Studierende beider Länder die Berichterstattung im jeweils anderen Land diskutierten. Medienmonitor, 3.5.3008.

 

Erstveröffentlichung: Osteuropa, 62. Jg., 9/2012, S. 117–126

 

 

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