In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in der „Tagesschau“ über das britische Königshaus umfangreicher berichtet als über den globalen Hunger. Dem Sport wurde mehr Sendezeit eingeräumt als allen Staaten des Globalen Südens zusammen. Dies belegen aktuelle Ergebnisse der Studie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ der Universitäten Frankfurt a. M., Heidelberg und Mannheim.
Schätzungsweise 6,7 Milliarden Menschen leben in den Staaten des Globalen Südens. Das entspricht ungefähr 85 Prozent der Weltbevölkerung. Dass der Globale Süden im Gegensatz hierzu in den Nachrichten konsequent und eklatant vernachlässigt wird, gehört zu den Konstanten der deutschen, aber auch ausländischen Berichterstattung. Eine im Jahr 2020 publizierte Langzeitstudie mit dem Titel „Vergessene Welten und blinde Flecken“, in der über 5.000 Sendungen der „Tagesschau“ aus den Jahren 2007 bis 2019 sowie andere in- und ausländische Medien ausgewertet wurden, gelangte zu dem Schluss, dass die Länder des Globalen Südens weit unterrepräsentiert sind.
Die für die „Corona-Jahre“ 2020 und 2021 fortgesetzte Untersuchung zeigte, dass die mediale Aufmerksamkeit der „Tagesschau“ fast ganz auf die Auswirkungen der Pandemie in Deutschland und die Länder des sogenannten Westens beschränkt war. Das Interesse an der angespannten Pandemie-Situation in Indien oder Brasilien war dagegen sehr überschaubar. Zu den vergessenen Nachrichten gehört auch der globale Hunger, den das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) als das „größte lösbare Problem der Welt“ bezeichnete. Obwohl die Zahl der chronisch Hungernden im Jahr 2020 auf bis zu 811 Millionen Menschen anstieg, fand dies kaum einen medialen Widerhall. Von den im Jahr 2020 über 3.000 ausgestrahlten Beiträgen (ohne Sport und Wetter) in der Hauptsendung der „Tagesschau“, befassten sich lediglich 9 mit dem Thema Hunger (mit der Corona-Pandemie beschäftigten sich fast 1.300 Beiträge).
Neueste Befunde: Ukraine-Krieg beherrscht die mediale Aufmerksamkeit
In der ersten Jahreshälfte 2022 setzte sich die Marginalisierung der Länder des Globalen Südens weiter fort und erreichte ein beispielloses Ausmaß, so dass man von einem umfangreichen Ignorieren dieser Staaten sprechen muss. Der Einmarsch russischer Truppen im Februar in die Ukraine führte zu weitreichenden Auswirkungen auf zahlreichen Ebenen und hat dementsprechend in der ersten Jahreshälfte die Corona-Pandemie als dominierendes Thema in den Nachrichten abgelöst. Insgesamt beschäftigte sich die „Tagesschau“ in etwa 41 Prozent ihrer Bericht-Sendezeit mit dem Ukraine-Krieg und seinen Auswirkungen. Auf die Pandemie entfielen etwa 11 Prozent der Sendezeit aller Berichte (2020 waren es circa 45 Prozent und 2021 etwa 35 Prozent).
Was Befremden hervorruft ist, dass dramatische Katastrophen, die sich zeitgleich im Globalen Süden ereigneten, randständig oder erst gar nicht aufgegriffen wurden.
Seien es die extremen Hitzewellen auf dem indischen Subkontinent, die Menschenrechtsverletzungen in der Bürgerkriegsregion Tigray, die allgemein angespannte humanitäre Lage in Äthiopien oder die heftigsten Fluten in Bangladesch und Indien seit Jahren, die Millionen Menschen obdachlos machten: Alle diese Themen wurden in den Nachrichten nur marginal behandelt. Vor allem aber auch die katastrophale Ernährungslage in den von Krieg zerstörten Ländern Syrien, Jemen sowie Afghanistan, wo laut den Vereinten Nationen gegenwärtig etwa 23 Millionen Menschen (und damit mehr als die Hälfte der Bevölkerung) im Land unter „akutem Hunger“ leiden, fanden fast gar keine Berücksichtigung. Von den 34 im ersten Halbjahr 2022 ausgestrahlten ARD-„Brennpunkt“-Sondersendungen beschäftigten sich 29 mit dem Krieg in der Ukraine, aber keine einzige mit dem Thema Hunger.
Größere Aufmerksamkeit für den Sport als für den gesamten Globalen Süden
Auf den globalen Hunger entfielen etwa 0,5 % der Bericht-Sendezeit der „Tagesschau“. So beschäftigte sich die wichtigste deutschsprachige Nachrichtensendung in etwa 1.030 Minuten ihrer Sendezeit mit dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen, in circa 287 Minuten mit der Corona-Pandemie und in lediglich etwa 13 Minuten mit dem globalen Hunger. 587 Berichte über den Ukraine-Krieg und 186 Beiträge über die Corona-Pandemie (fast ausschließlich in Deutschland) stehen gerade einmal zehn Berichten über den globalen Hunger gegenüber.
Dabei wäre gerade im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und den hierdurch ausbleibenden Weizenlieferungen ein deutlich größeres Interesse an den von Mangel- und Unterernährung betroffenen Krisenregionen der Welt zu erwarten gewesen. Hilfsorganisationen machten wiederholt auf die Zuspitzung der globalen Hungersituation infolge des Ukraine-Krieges aufmerksam. So erklärte der Generalsekretär von Malteser International bereits im April 2022: „Noch nie war der Bedarf an humanitärer Hilfe weltweit so groß.“ Auch Dürren in verschiedenen Regionen Afrikas sorgten für eine starke Zunahme des Hungers. Die Hilfsorganisation Care zum Beispiel sprach in diesem Zusammenhang von einer „Katastrophe mit Ankündigung“ in Somalia und wies darauf hin, dass die Hungerkrise im Südsudan eine „neue Dimension“ erreichte. Anfang Juni konstatierte der Direktor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, dass in Ostafrika 82 Millionen Menschen nicht genug zu essen hatten.
Berichte über den Globalen Süden und die kritische Nahrungsmittelversorgung rangieren aber offensichtlich weit hinten auf den Prioritätenlisten der Redaktionen. Dass in der „Tagesschau“ den Sportergebnissen mehr als 13 Mal so viel Zeit eingeräumt wurde wie dem Hungerthema, gibt zu denken. In der Tat waren Berichte über den Sport insgesamt sogar etwas umfangreicher als für alle Staaten des Globalen Südens zusammen. Obwohl 85 Prozent der Weltbevölkerung in diesen Ländern leben, entfielen auf sie lediglich etwa 6 Prozent der Gesamtsendezeit.
Selbst über die britischen „Royals“ wurde in der „Tagesschau“ in der ersten Jahreshälfte mehr berichtet, als über den globalen Hunger. Es erscheint besorgniserregend, wenn die Mitteilung, dass mindestens 10 Millionen Kinder durch eine schwere Dürre am Horn von Afrika vom Hungertod bedroht sind (so UNICEF am 25. April 2022), es nicht nur nicht in die Topmeldung des Tages, sondern erst gar nicht in die Sendung schafft. Das Welternährungsprogramm hat aktuell darauf hingewiesen, dass die Zahl der Hungernden weltweit erneut gestiegen ist und mittlerweile 828 Millionen Menschen erreicht hat. Generalsekretär António Guterres hat vor diesem Hintergrund vor einer beispiellosen Welthungerkrise gewarnt. Es bleibt zu hoffen, dass die Medien auf die dramatischen Zahlen und Entwicklungen gemäß ihres eigentlichen Nachrichtenwertes mit konsequentem Interesse und Top-Schlagzeilen reagieren und die Appelle der humanitären Organisationen medial nicht ungehört verhallen. Das Beispiel Klimawandel hat gezeigt, dass signifikante Maßnahmen von politischen Entscheidungsträgern manchmal erst als ultimativ notwendig wahrgenommen werden, nachdem auch die Medien das Thema immer wieder in den öffentlichen Diskurs tragen.
Zur Ausgangsstudie:
Ludescher, L. (2020): Vergessene Welten und blinde Flecken. Die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens. Universitätsbibliothek Heidelberg. https://doi.org/10.11588/heibooks.599
Die vollständige Studie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens, eine Videozusammenfassung, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de
Beitragsbild: Pixabay
Schlagwörter:Ausgewogenheit, Auslandsberichterstattung, Globaler Süden, Themenagenda
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