Hat Datenjournalismus das Potential, zur Demokratisierung autoritärer Medienlandschaften beizutragen? Dieser Frage sind die Forschenden Nael Jebril und Safea Altef (Doha Institute for Graduate Studies, Qatar) in ihrem neusten Paper nachgegangen. Dazu haben sie Akteur:innen im arabischen Raum über den Datenjournalismus ausgefragt – dort, wo viele Mediensysteme durch Autoritarismus und komplexe gesellschaftliche Umbrüche geprägt sind.
Viele der eingeschränktesten und repressivsten Mediensysteme der Welt sind im arabischen Raum anzufinden. Die Organisation Reporter ohne Grenzen stuft die Situation der dortigen Medienlandschaften in mehr als der Hälfte aller Fälle als „sehr gravierend“ ein. Im Schnitt belegen die 20 Staaten der MENA-Region Platz 145 von 180 im Ranking der Pressefreiheit. Autoritäre Regime und eine monopolähnliche Marktstellung privater, regimenaher Geschäftsleute beeinträchtigen die Arbeit von Medienschaffenden teils massiv. Unter diesen Rahmenbedingungen leidet nicht nur die Qualität der journalistischen Produkte, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in regierungsnahe Institutionen und die Medien. Dem Arab Opinion Index zufolge, welcher unter anderem Daten zur Wohnsituation, Wahrnehmung von Regierungsorganisationen und persönlichen Einstellungen der Bürger:innen erhebt, haben nur ein Fünftel der Menschen im arabischen Raum ein hohes Vertrauen in die Medien.
Bildquelle: Wikimedia CommonsDie MENA-Region (Middle East and North Africa) umfasst laut gängiger Definitionen die Staaten Ägypten, Algerien, Bahrain, Irak, Iran, Israel, Jemen, Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Libyen, Malta, Marokko, Oman, Palästina, Saudi-Arabien, Syrien, Tunesien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Ebenso vielfältig wie diese Länder sind auch die dortigen Mediensysteme – daher ist es falsch, diese zu verallgemeinern oder über einen Kamm zu scheren. In diesem Artikel gehen wir daher sowohl auf Situationen und Probleme ein, die in vielen, aber nicht allen Ländern vorherrschen, als auch auf einzelne länderspezifische Beispiele.
Neue Nutzerbindung durch Datenjournalismus?
Nicht nur im arabischen Raum büßen Medien zunehmend an Vertrauen und Nutzenden ein. Journalist:innen und Verleger:innen versuchen daher stetig, durch innovative Ansätze und qualitativ hochwertigen Produkten ihre Marktposition zu stärken. Eine große Rolle in dieser Thematik spielt seit geraumer Zeit der Datenjournalismus. Während der moderne Datenjournalismus in fortgeschrittenen Mediensystemen schon zu Beginn der 2000er Jahre Einzug hielt, erreichte er den arabischen Raum erst nach dem Arabischen Frühling Anfang 2011. Seitdem versuchen viele große arabischsprachige Medien wie Al Jazeera oder Inkyfada gemeinsam mit Netzwerken wie zum Beispiel dem Arab Data Journalists Network durch investigative Datenrecherchen hervorzustechen. Forschende wie der US-Amerikaner Mark Coddington (2015) attestieren dem Datenjournalismus eine Reihe positiver Effekte wie das Potential auf wachsende Nutzer:innenzahlen und ein besseres Engagement der Rezipient:innen, ebenso wie eine größere Transparenz und damit auch mehr Glaubwürdigkeit für das Medium.
Doch hat der Datenjournalismus auch im arabischen Raum das Potenzial für nachhaltige Veränderung? Das haben kürzlich die Wissenschaftler:innen Nael Jabril und Safea Altef in ihrer Studie „Perceptions of data journalism and its impact on democratising Arab news media“ untersucht. Dazu haben die Forschenden aus Doha Leitfadeninterviews mit Menschen verschiedener Nationalitäten aus dem arabischen Raum geführt. Alle Befragten arbeiteten für NGOs oder datenverarbeitende Firmen. Dadurch wurde sichergestellt, dass die Befragten mit dem Datenjournalismus vertraut sind. Hauptaugenmerke der Interviews waren die wahrgenommene Effektivität des Datenjournalismus, dessen Glaubwürdigkeit und ob dieser das Potenzial hat, zur Demokratisierung der Mediensysteme in der Region beizutragen.
Viele der Befragten sagten aus, dass sie den Datenjournalismus prinzipiell für sehr effizient halten. Vor allem für Kontext und Hintergrundinformationen sei er die beste Wahl, um Nachrichten zu unterstützen, so einer der Probanden. Ein anderer beobachtete, dass gerade jüngere Zielgruppen wie die Gen Z oder Millennials häufiger Informationen verbreiten, wenn diese datenjournalistisch aufbereitet und mit ansprechenden Grafiken präsentiert werden.
Einige der Befragten warnten gleichzeitig davor, dass Datenjournalismus nicht langweilig werden dürfe. Reine Zahlen, Daten und Fakten kämen vielen Lesenden oft langweilig vor – daher soll Datenjournalismus eher als Werkzeug hinter einem dynamischen Storytelling verstanden werden, mit dem Kontext und Evidenzen transportiert werden können. Das gelte vor allem für Zielgruppen mit einem niedrigen Bildungsniveau. Das Fazit der Befragten: Datenjournalismus hat viel Potenzial – wenn er denn ansprechend präsentiert wird.
Misstrauen gegenüber offiziellen Statistiken
Anhand der Interviews konnten Jabril und Altef nicht darauf schließen, dass das Vertrauen in den Datenjournalismus größer ist als in den traditionellen Journalismus. Das habe den Forschenden zufolge im arabischen Raum spezielle Gründe: Einerseits wirken datenjournalistische Beiträge vertrauenswürdiger, je mehr Daten und Quellen sie enthalten und wenn die Auswertungsmethode transparent gemacht werde. Andererseits sei mittlerweile bekannt, dass politische Akteure, insbesondere aus autokratischen Regimes, gerne Daten und Statistiken fälschen oder falsch darstellen, um ihre Propaganda zu unterstützen. Somit herrscht in vielen arabischen Ländern ein gewisses Misstrauen gegenüber Statistiken – sowohl auf der Seite der Lesenden als auch bei denen, die auf verlässliche Quellen für ihren Datenjournalismus dringend angewiesen sind. Dazu kommt, dass in vielen Ländern der MENA-Staaten keine offiziellen Statistiken herausgegeben werden, wie es in Deutschland beispielsweise das Statistische Bundesamt und andere Akteure tun. Dieser Befragte bringt die Problematik auf den Punkt: „Wir haben keine fortgeschrittenen Institutionen, die wie in anderen Teilen der Welt über alles den Überblick behalten, und Statistiken, die einfach abrufbar sind. Im Libanon zum Beispiel wurde seit 1930 kein Zensus mehr durchgeführt.“ Datenjournalisten sind also in weiten Teilen auf Daten von NGOs und anderen nicht-staatlichen Akteuren angewiesen.
Abgesehen von zuverlässigen Datenquellen sei auch die Analyse der Daten problematisch. Viele etablierte Tools werden nicht auf arabisch angeboten, was die Arbeit für Journalist:innen ohne Fremdsprachenkenntnisse erschwert. Auch eine großflächige finanzielle Förderung von Projekten zur Ausbildung von Datenjournalist:innen wird sehnsüchtig erwartet. Und selbst wenn Quellenlage und Analysemöglichkeiten gegeben sind, sorgen die generelle Skepsis der Leserschaft gegenüber Daten und einige „schwarze Schafe“ unter den Datenjournalisten dennoch dafür, dass die Berichterstattung mit Vorsicht betrachtet wird.
Einzelne Projekte zeigen Potenzial
Trotz einiger Schwierigkeiten zeigen einige arabische Medienhäuser aktuell, wie guter Datenjournalismus in der Region aussehen kann. Die tunesische Nachrichtenseite inkyfada beispielsweise baut stark auf aufwändige Datenrecherchen und leistet damit einen Beitrag zum unabhängigen Qualitätsjournalismus in der Region. Hoffnung auf eine Verbreitung des Datenjournalismus im arabischen Raum machen auch Projekte wie das der Tunesierin Nouha Belaid: Vor vier Jahren gab sie ein arabischsprachiges Handbuch zum Thema Datenjournalismus heraus, um Medienschaffenden neue Möglichkeiten zu eröffnen und das Know-How auszubauen (das European Journalism Observatory berichtete). Nichtsdestotrotz haben Datenanalyse und -aufbereitung noch einen zu geringen Stellenwert in der Journalistenausbildung im arabischen Raum – das stellen Nagwa Fahmy und Maha Abdu Majeed Attia von den Universitäten Abu Dhabi (VAE) und Amman (Jordanien) schon 2020 fest.
Insgesamt lässt sich also festhalten: Datenjournalismus kann einiges besser als der traditionelle Journalismus – objektiven Kontext liefern, Behauptungen beweisen oder widerlegen und Fehlinformationen bekämpfen. Aufwändige Recherchen können visuell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und somit die Transparenz und damit auch die Glaubwürdigkeit der Medien erhöhen – zumindest in der Theorie. Damit der Datenjournalismus mit diesen Vorteilen auch in der arabischen Welt etwas bewirken kann, brauche es den Autoren des Papers zufolge aber mehr Initiative. Einzelne Redaktionen ohne klar festgelegte Verbreitungsstrategien seien in ihrer Reichweite zu begrenzt. Um ein größeres Publikum zu erreichen wären multimediale Formate nötig, die datenjournalistische Produkte beispielsweise in Kombination mit Social Media und „traditionellen“ Inhalten mehr Attraktivität zu verleihen. Um auch bildungsfernere oder jüngere Zielgruppen zu erreichen, schlagen die Forschenden dazu vor, den Datenjournalismus nicht zu verkomplizieren und auf einfache Sprache und Grafiken zu setzen.
Ob die hoffnungstragenden Projekte und Initiativen den Datenjournalismus nachhaltig in den arabischen Medienlandschaften verankern können, dazu wagen Jabril und Altef zunächst keine Prognose. Aber: Ein Wandel ist klar zu verzeichnen, sowohl von Seiten der Medienschaffenden als auch von Seiten der Regierungen und staatlichen Institutionen. Wie sich der Datenjournalismus im arabischen Raum langfristig entwickeln wird, bleibt letztendlich abzuwarten.
Referenzen:
OECD: Definition der MENA-Staaten
Journalistikon: Datenjournalismus
Reporter ohne Grenzen
https://www.reporter-ohne-grenzen.de/
Arab Opinion Index
https://arabindex.dohainstitute.org/AR/Documents/The-2022-Arab-Opinion-Index-in-Brief-EN.pdf
Mark Coddington (2015): Clarifying Journalism’s Quantitative Turn
https://doi.org/10.1080/21670811.2014.976400
Nael Jebril & Safea Altef (2022): Perceptions of data journalism and its impact on democratising Arab news media
https://doi.org/10.1177/14648849231221038
Nouha Belaid: Datenjournalismus in der arabischen Welt (EJO, 2020)
https://de.ejo-online.eu/ausbildung/datenjournalismus-in-der-arabischen-welt
Nagwa Fahmy & Maha Abdul Majeed Attia (2020): A Field Study of Arab Data Journalism Practices in the Digital Era
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/17512786.2019.1709532
Schlagwörter:arabischer Raum, Mediensysteme, MENA-Region, Pressefreiheit