Im letzten Jahr erlebten 451 Millionen Menschen in 10 Ländern eine Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit; nur 335 Millionen Menschen in 5 Ländern erlebten eine Verbesserung. Der Global Expression Report 2024 belegt eine Verschlechterung der Situation in 78 Ländern weltweit. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen an Orten leben, an denen die freie Meinungsäußerung und Kommunikation in der Krise stecken. Eine neue Veröffentlichung zu Media Capture macht deutlich, welche Dynamiken dahinter stecken.
Eine der ernsthaften Bedrohungen für die Meinungsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht und Wert in einer Demokratie besteht darin, den Medien ihre Unabhängigkeit und ihre Funktion als „vierte Gewalt“ zu nehmen. Das Konzept „Media Capture“ beschreibt solche Dynamiken, die die Medien in der Ausübung ihrer Rollen lähmen. Bereits 2007 definierte Alina Mungiu-Pipidi (2007) Media Capture als eine Situation, in der die Nachrichtenmedien „direkt von Regierungen oder von eigennützigen Interessen, die mit der Politik vernetzt sind“, kontrolliert werden.
Im Jahr 2018 veröffentlichte Sage Journals eine Sonderausgabe zu diesem Thema unter dem Titel „Seizing the Media: Government and Corporate Capture in the 21st Century“. Der politische Wandel und die digitalen Technologien, von denen man sich eine Befreiung der Medien von Einschränkungen und anderen Übeln erhofft hatte, haben demnach ihre Rolle nicht erfüllt. Stattdessen haben unterschiedliche Formen der Kontrolle durch Regierungen und Autoritäten in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsakteuren enorm zugenommen und sind zu mächtigen Instrumenten der Unterdrückung und Desinformation in alten und neuen Demokratien geworden.
Das Phänomen hat sich ausgeweitet, und zwölf Jahre nach dieser Warnung erscheint nun eine neue Sonderausgabe des Central European Journal of Communication, in der Fälle von Media Capture auf vier Kontinenten diskutiert werden. Die aktuelle Situation wird von internationalen Expert:innen kommentiert, die sich mit verschiedenen kontraproduktiven Medienpraktiken befasst haben. Die Leser treffen erneut auf Prof. Alina Mungui-Pippidi, die in ihrem Interview mit Dr. Bissera Zankova die „gekaperten Medien mit der Ära der Desinformation in Verbindung bringt.
Komplexe Ausprägungen der Medienkontrolle
„In einer Vielzahl von Fachdisziplinen – von der Wirtschaftswissenschaft über die Politikwissenschaft bis hin zur Medien- und Journalismusforschung – hat sich Media Capture zu einem bedeutenden Konzept entwickelt, das einige der drängendsten Probleme im Zusammenhang mit Medienkontrolle und -macht typisiert“, so das Fazit der Herausgeber dieser Ausgabe, Mireya Márquez-Ramírez, Universidad Iberoamericana, Mexiko-Stadt, Mexiko, und Nelson Costa Ribeiro, Universidade Católica Portuguesa, Portugal, in ihrem Leitartikel „Media Capture in Transitionskontexten: theoretischen und empirischen Entwicklungen“. Ribeiro und Márquez-Ramírez zufolge zeigt die Veröffentlichung anhand von theoretischen Analysen und Fallstudien ‚die Stärke des Konzepts als analytisches Instrument, plädiert aber auch dafür, seine Grenzen und seine Verflechtungen mit anderen theoretischen Konstrukten zu überdenken und neu zu bewerten‘.
In seinem Eröffnungsartikel “Der Capture-Effekt. Wie Media Capture Journalisten, Märkte und Zielgruppen beeinflusst“ ergänzt Marius Dragomir die Diskussion über die Entwicklung des Konzepts und bietet vier Schlüsselkomponenten an: regulatorische Capture, Kontrolle staatlicher und öffentlich-rechtlicher Medien, sowie staatliche oder auch private Finanzierung als Kontrollinstrument. Anhand dieser Indikatoren kann laut Dragomir bewertet werden, inwieweit Medien die von ihnen erwarteten Leistungen erbringen können.
Ivo Indhzovs Aufsatz “Bulgarische Medien seit 1989: Von der Instrumentalisierung zur Vereinnahmung“ befasst sich mit Media Capture in einem südosteuropäischen Land, in dem europäische Fördermittel die Hauptquelle für Korruption und oligarchische Symbiose sind, da der Staat seine neutrale Rolle nicht mehr erfüllt, sondern eine Management- und Verteilungsfunktion ausübt. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die politisch-oligarchischen Abhängigkeiten zu einem zentralen Merkmal des nationalen Medienmarktes geworden sind, was eine ernsthafte Bedrohung für die Qualität der Demokratie darstellt.
In diesem Beitrag wird der aktuelle Zustand der bulgarischen Medien anhand von zwei Forschungskonzepten untersucht: der traditionelleren Bedrohung, der Instrumentalisierung, und der neueren, gefährlicheren, der Vereinnahmung der Medien. Letzteres ist, insbesondere wenn es um die Besonderheiten und Folgen des politisch-oligarchischen Drucks auf die Medien geht, besser für die Erforschung von Ländern mit schwerwiegenden Defiziten in ihrer demokratischen Entwicklung geeignet.
Johanna Mack von der Technischen Universität Dortmund (Deutschland) präsentiert Erkenntnisse über die Transformation des nationalen Mediensystems in Guinea-Bissau, das instabil und anfällig für Veränderungen (ob positiv oder negativ) ist. Unter anderem die Regierung nutzt die Situation, um die Medien streng zu kontrollieren. Die Rolle der internationalen Zusammenarbeit für die Medienentwicklung erweist sich in dieser Hinsicht als wichtig. Die Unterstützung kann jedoch auch zweischneidig sein. Der Fall Guinea-Bissau, der ein Beispiel für Media Capture durch die Regulierungsbehörden ist, ähnelt anderen Ländern südlich der Sahara, in denen die Medien durch die Gesetzgebung vereinnahmt werden und die wenigen unabhängigen Medien von Subventionen von Nichtregierungsorganisationen und religiösen Gruppen abhängig sind.
In „Vereinnahmt durch Eliten – das portugiesische System während der Liberalisierung (1820-1926)“ zeigt Isadora Ataíde Fonseca einen weiteren Aspekt der Media Capture auf. Anhand der Diskussion verschiedener Fälle in Macau, Angola und einer in Lissabon veröffentlichten Zeitung, die sich an die Bewohner des portugiesischen Kolonialreichs richtete, zeigt der Artikel, wie Zeitungen, die von den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Eliten herausgegeben wurden oder sich an diese richteten, von diesen vereinnahmt wurden und somit eine verzerrte Darstellung der sozialen Verhältnisse in den Kolonien boten.
Péter Bajomi-Lázárs Artikel mit dem Titel „Media Capture Theory: A Paradigm Shift?“ plädiert dafür, das Konzept der Media Capture zu überdenken und seine Grenzen zu berücksichtigen. Er veröffentlicht in der Rubrik „Methoden und Konzepte“, mit der das Central European Journal of Communication zur Diskussion neuer methodischer und theoretischer Ansätze beitragen möchte, die neue Forschungswege und -projekte eröffnen könnten. Bajomi-Lázár stellt das Konzept der Media Capture und seine Relevanz in einem Kontext in Frage, in dem soziale Medien es politischen Eliten ermöglichen, traditionelle Mediensysteme zu umgehen und direkt mit dem Publikum zu kommunizieren.
Neben den Forschungsartikeln bietet die Sonderausgabe auch einen Abschnitt mit zwei Forschungsberichten, die die Mediensysteme in der Mongolei und in Griechenland in der Zeit nach der Krise von 2010 untersuchen. Beide bringen den Leser:innen neue Merkmale dieser Mediensysteme in durch die Linse der Media Capture näher. Im ersten Artikel analysieren Undrah Baasanjav, Poul Erik Nielsen und Munkhmandakh Myagmar das Mediensystem in der Mongolei aus der Perspektive des Übergangs des Landes zur liberalen Demokratie bis in die Gegenwart. Die Autoren stellen fest, dass sich nur wenige unabhängige Medienunternehmen etablieren konnten, während die meisten mongolischen Medien im Besitz von Politikern und Geschäftsleuten sind. Die politische Kultur, die anfällig für Klientelismus, Korruption und das geistige Erbe des Kommunismus ist, bietet jedoch die Hauptvoraussetzungen für das Entstehen eines Mediensektors mit erheblichen Marktdefekten, der von Medien dominiert wird, die politischen und geschäftlichen Interessen untergeordnet sind („Patronage Media in Post-Communist Mongolia“).
Der zweite Forschungsbericht von Michael Nevradakis legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Rolle der sozialen Medien bei der „Stärkung“ des griechischen öffentlichen Raums nach der Wirtschaftskrise der 2010er Jahre. Nevradakis untersucht zwei Fallstudien im Detail, die Social Media-Präsenz von Independent Greek und den Nachrichten-Blog Nikos.gr, und kommt zu dem Schluss, dass beide Initiativen trotz der anfänglichen Idee, dass diese Portale den öffentlichen Raum durch die Erweiterung der Vielfalt der Stimmen darin bereichern könnten, Opfer derselben politischen und wirtschaftlichen Eliten wurden, die bereits die traditionellen Medien erobert haben.
Durch die Kombination von theoretischen Erkenntnissen und praktischen Modellen und die Präsentation der Arbeit bekannter und junger Autoren ist die Sonderausgabe des CEJC ein weiterer Schritt in Richtung einer umfassenderen und strukturierteren Debatte über die Vereinnahmung der Medien und ihre gefährlichen Folgen für das Medienökosystem.
Literaturangaben:
Mungiu-Pippidi, A. (2007): How Media and Politics Shape Each Other in the New Europe. Romanian Journal of Political Science. Romanian Academic Society, 69-78, S. 72, ISSN 1582-456X. Online: https://www.researchgate.net/publication/298647526_How_media_and_politics_shape_each_other_in_the_New_Europe)
Schlagwörter:CEJC, Forschung, Kontrolle, media capture, Medienfreiheut