In Deutschland wird die Debatte um geschlechtsneutrale Sprache oft hitzig und politisch geführt – am 19. März hat das bayerische Kabinett ihre Verwendung in Schulen und Universitäten verboten. Auch in Redaktionen wird das Thema diskutiert, verschiedene Medien wählen dabei unterschiedliche Wege. Es geht, neben gesellschaftspolitischen Diskursen, auch um die Sprache selbst. EJO wirft daher einen Blick auf verschiedene Länder- und Sprachkontexte und wie das Thema dort verhandelt wird. Mariia Nikitina beschäftigt sich mit der Debatte in Bezug auf die russische Sprache.
Der offizielle Gebrauch der russischen Sprache ist nicht nur in Russland, sondern auch in der Republik Belarus, Kasachstan und Kirgisistan geregelt. Außerdem wird Russisch von den Einwohnern vieler Länder der ehemaligen Sowjetunion gesprochen. Dieser Artikel befasst sich mit den Trends der Genderlinguistik in Russland und den russischen Medien, da die sprachlichen und sozialen Prozesse im russischen Informationsraum am stärksten ausgeprägt sind.
Sprache und Gesellschaft
Im modernen Russisch können in den meisten Fällen maskuline Substantive zur Bezeichnung von Personen beider Geschlechter verwendet werden, während feminine Substantive nur für Frauen verwendet werden können. In der Umgangssprache können männliche Substantive, die sich auf eine Frau beziehen, außerdem zusammen mit einem in einer weiblichen Form konjugierten Verb verwendet werdern. So zum Beispiel bei “der Straßenbahnschaffner (auf Russisch dasselbe für Männer und Frauen) hat sich beschwert”: konduktor tramvaya zhalovalsya (feminine Konjugation). Sie sind jedoch keine geschlechtsneutralen Wörter. Oft wird das Geschlecht des Objekts einer Äußerung durch den Nachnamen, der darauffolgt, vereinfacht: zum Beispiel Richter Ivanova – hier weist der Nachname auf das Geschlecht der Richterin als weiblich hin. Aber nicht alle Nachnamen haben Endungen, die eine Identifizierung des Geschlechts erlauben, zum Beispiel die Filmregisseurin Berkovich und die Dramatikerin Petriichuk.
Historisch gesehen herrschten in der russischen Sprache, wie in vielen anderen Sprachen auch, männliche Bezeichnungen für Berufe vor, da nur ein sehr kleiner Teil der damals existierenden Berufe für Frauen zugänglich war. Dennoch kennen wir Beispiele wie “Kämmerer” oder “Tuchmacher”, die heute nicht mehr in der Alltagssprache vorkommen, auch in femininer Form.
Während der Industrialisierung, der wichtigsten Wachstumsphase des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, öffnete sich vielen Frauen die Tür zum Arbeitsmarkt. Sie begannen nicht nur in technischen Berufen zu arbeiten. So gab es zum Beispiel die Bezeichnungen “Pianistin” (auf Russisch der Feminitiv “pianistka”, die Endung “-ka” steht für das weibliche Geschlecht) und “Stewardess”, aber die Feminitive tauchten nicht oft in offiziellen Dokumenten auf.
Die Frage des Feminitivismus in Russland wurde um 2010 wieder aufgegriffen, als sich die feministische Bewegung im ganzen Land aktiv weiterzuentwickeln begann. Sie schloss Diskussionen über die Maskulinität der russischen Sprache und der seltenen Beispiele für die Vertretung von Frauen in verschiedenen Berufen ein. Die Diskussion über eine vermehrte Nutzung femininer Formen in der Sprache hat sowohl Befürworterinnen als auch Gegnerinnen gefunden. Dennoch werden die Feminismen, obwohl sie nicht offiziell akzeptiert sind, nach und nach Teil der modernen russischen Sprache und der Medien.
‚Ein Huhn ist kein Vogel, eine Frau ist kein Historiker.‘
Neben der “Unnatürlichkeit” femininer Formen und ihrer “Fremdheit” für die russische Sprache sprechen die Gegner von geschlechtsspezifischen Berufsbezeichnungen auch von ihrem pejorativen Charakter. Damit gemeint ist die Eigenschaft von Wörtern oder Wortkombinationen, eine negative Bewertung von jemandem oder etwas widerzuspiegeln. Seit den Zeiten der Sowjetunion haben Frauen in den so genannten “männlichen” Berufen im Bewusstsein der Bürger Misstrauen hervorgerufen. So hat das russische Wort für “Ärztin” im Gegensatz zum weiblichen Substantiv für “Weberin“ einen pejorativen Charakter, der die Verachtung für das Objekt der Aussage betont. Ähnlich verhält es sich mit den Bezeichnungen für Führungspositionen, z. B. Direktorin.
In der aktuellen Debatte gibt es Zweifel an der grammatikalischen Korrektheit der Verwendung femininer Bezeichnungen für Berufe, die zuvor ausschließlich mit maskulinen Substantiven bezeichnet wurden. Sind die femininen Bezeichnungen allerdings bereits im Sprachgebrauch etabliert, wie Lehrer: uchitel-uchitelnitsa”, “Journalist: jurnalist-jurnalistka”, “Sänger: pevec-pevica”, wird keine Kritik laut.
Die russische Online-Publikation Tinkoff Journal hat nach einer regen Diskussion unter ihren Lesern über die Verwendung von Feminitiven in einem ihrer Artikel eine Umfrage über die Angemessenheit der Verwendung von Geschlechtsbezeichnungen bei der Benennung von Berufen durchgeführt. Einige Kritikpunkte aus der Umfrage waren:
“Früher konnten nur Männer Ärzte werden, also gab es keine alternative Bezeichnung für den Beruf. Heute ist das nicht mehr so, aber es gibt etablierte, übliche Bezeichnungen. Und ich will keine “doctorka” oder “doctoressa” sein – ich will Arzt sein. Und die Hauptsache ist, dass ich jetzt eine sein kann. Der Kampf um Rechte ist verständlich, aber der Kampf um Suffixe – na ja…”
“Die Struktur des Feminitivs erniedrigt die Bedeutung des Wortes und die Bedeutung des Berufes, der durch dieses Wort verunglimpft wird. Das Suffix “k” hat bewusst einen beleidigenden Charakter – jemanden zum Beispiel als Anwältin zu bezeichnen, setzt die beruflichen Qualitäten der Person herab. Das wird Ihnen jeder gute Anwalt bestätigen. Hätte mich ein Mandant als Anwältin bezeichnet, hätte ich die Grenzen aufgezeigt und erklärt, dass dies im Volksmund wie eine Beleidigung klingt. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der eine andere Meinung hatte.“
“Autorin’ ist ein elementar hässliches, ungesundes Wort, das, wie viele aufgezwungene feminine Formen, künstlich geschaffen wurde. Die große Mehrheit der Menschen mag es nicht und lehnt es ab, so wie ‘Lehrerin’ oder ‘Ärztin’.”
Obwohl viele Medien, die sich für die Verwendung femininer Formen entscheiden, mit Unverständnis oder Kritik konfrontiert werden, nutzen vor allem unabhängige Medien sie weiterhin in ihren Texten.
Phonetik und Grammatik
Laut dem Linguisten Alexander Piperski neigen Russischsprecher dazu, Feminitive mit dem Suffix -k- als natürlicher zu bewerten, wenn die Betonung der Basis auf der letzten Silbe liegt (“Student” – “Student-k-a”), und als weniger natürlich, wenn die Betonung der Basis auf anderen Silben liegt (“a’avtor” – “a’avtor-k-a”). Es besteht jedoch noch keine Einigkeit darüber, wie feminine Formen gebildet und schriftlich gekennzeichnet werden sollten. Es sei daran erinnert, dass sie im Russischen, anders als zum Beispiel im Ukrainischen, nicht offiziell anerkannt sind, sodass die Frage ihrer Verwendung hauptsächlich den Redakteuren bestimmter unabhängiger Publikationen obliegt.
Beispiele: Verwendung femininer Formen in verschiedenen Medien
- DOXA
DOXA schreibt, filmt und spricht über wichtige Themen – Krieg und Diktatur, Ungleichheiten und die Klimakrise. Vor fünf Jahren wurde das Projekt als unabhängiges studentisches Medienunternehmen ins Leben gerufen und hat wiederholt Repressionen erfahren. Vier Mitglieder des Magazins wurden zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Im folgenden Text hat DOXA feminine Formen bei Plural-Sammelbegriffen durch Unterstrich markiert (Gender-Gap):
Die Bezeichnung “Einwohnerin” wird in diesem Zusammenhang verwendet, um die geschlechtliche Zusammensetzung der Gruppe, die in dem Gebiet lebte, hervorzuheben. Im Russischen ist das Wort “Einwohner” männlich, so dass die gebräuchliche Bezeichnung dieser Gruppe als “zhitel” (Plural des Wortes “Einwohner”) nicht die geschlechtliche Zusammensetzung der Gruppe widerspiegelt und Frauen ausschließt.
Auch dieses Beispiel ist für die Analyse wichtig. Da im Russischen Adjektive mit dem Substantiv geschlechtlich übereinstimmen, sehen wir hier, dass die Gender-Gap nicht nur verwendet wird, um das Geschlecht eines Substantivs zu markieren. Die Verwendung von Geschlechtsmarkern im Zahlwort (“od_na”), im Adjektiv (“mirn_aya”) und im Substantiv (“vzhitel_nitsa”) deutet darauf hin, dass das Geschlecht des Toten unbekannt ist, wenn man bedenkt, dass es sich um eine Person und nicht um mehrere handelt.
Hier verwenden die Redakteure jedoch keine Unterstreichungen, wenn sie sich auf eine bestimmte Person beziehen, sondern bezeichnen das Geschlecht der Person durch die Suffixe “-nitz” und “-k”: im unterstrichenen Beispiel heißt es “eine aktionistische Künstlerin”.
- Medien des Social Technology Hothouse
Das Social Technology Hothouse ist ein öffentliches Bildungsprojekt mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen dem gemeinnützigen Sektor und IT-Spezialisten zu entwickeln. Wie im Fall der DOXA greifen auch die Redakteure des Social Technology Hothouse auf Gendermarker zurück, wenn das Geschlecht der betreffenden Person nicht bekannt ist, allerdings nicht durch Unterstreichung, sondern durch Verwendung des Sternchens *:
Bis 2023 verwendete das Team den Gender-Slash (Schrägstrich):
In einigen Fällen geben die Redakteure das Geschlecht an, indem sie zwei Wörter verwenden: männlich und weiblich, wie hier (“activisty i activistki”):
- Wonderzine
Das Wonderzine ist eine Lifestyle-Publikation, die sich an Mädchen richtet. Ähnlich wie das Social Technology Hothouse verwendet die Redaktion sowohl maskuline als auch feminine Formen, wenn es sich um eine Gruppe von Personen handelt, deren Geschlechtszusammensetzung uns nicht bekannt ist:
Feminine Formen werden in dieser Ausgabe im Singular verwendet, wenn sie sich auf den Beruf einer Frau beziehen:
Hier sehen wir ein Beispiel für die Verwendung des Suffixes “-ess”, das viel seltener als “-k” verwendet wird. Bei Wörtern wie “Politiker”, “Anwalt” und anderen ist die Bildung femininer Formen jedoch durch die Endung des Wortes mit einem tauben Konsonanten ziemlich kompliziert, so dass das Suffix “-ess” für einen besseren Klang gewählt wird.
Schlussfolgerungen
Feminine Formen in den modernen russischen Medien sind hauptsächlich in unabhängigen Publikationen zu finden. Die Form ihrer Verwendung ist jedoch in erster Linie eine Frage der Redaktionspolitik. Es gibt keine einheitliche Strategie für die Verwendung von Geschlechtsmerkmalen in modernen Internetmedien – die Entscheidung darüber liegt bei der jeweiligen Publikation selbst.
Allein die Tatsache, dass feminine Formen in den Medien verwendet werden, sowie die Normalisierung dieses sprachlichen Phänomens in verschiedenen Gemeinschaften ist ein Beweis für die wachsende Bedeutung, die der Darstellung von Frauen im russischsprachigen Informationsraum beigemessen wird – nicht nur in Berufen und in der Wissenschaft, sondern auch als Trägerinnen sozialen Handelns und Teilnehmerinnen an gesellschaftspolitischen Prozessen.
Anders als in vielen anderen slawischen Sprachen gibt es in diesem Stadium kein einheitliches Konzept für genderneutrale Sprache. Die staatlichen Medien thematisieren dies auch nicht, was auch den patriarchalischen Charakter des derzeitigen russischen Staatssystems unterstreicht.
Schlagwörter:Gender, gendergerechte Sprache