Starb er als Journalist oder Entwicklungshelfer? Die Grenzen für Kriegsberichterstatter:innen sind fließend

17. Mai 2024 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

Zeitungstitel zum Tod Marie Colvins. Bildquelle: Flickr/ CC

Allein im Jahr 2023 wurden nach Angaben der Internationalen Journalisten-Föderation 129 Journalist:innen getötet. Und mit den aktuellen, weit verbreiteten Konflikten in der Ukraine, und Nahost droht diese Zahl weiter zu steigen. Doch wie gehen wir anschließend mit dem Vermächtnis der toten Journalist:innen um? Werden sie zu Helden, in deren Namen Stiftungen gegründet werden, oder gar zu moralischen Heiligen?

Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage richten die Medien ihr Augenmerk auf die Kriege in der Welt. Seit Februar 2022 verfolgen sie rund um die Uhr den anhaltenden Krieg in der Ukraine und seit Anfang Oktober 2023 den Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Zuvor füllten die Ereignisse in Bergkarabach monatelang den Inhalt von Websites und Zeitungen, mussten dann aber in den Hintergrund treten.

Doch in den Medien wird nicht nur über den Tod von Soldat:innen und Zivilist:innen berichtet – unter den Kriegsopfern sind auch die Namen von Journalist:innen. Allein im Nahostkonflikt, insbesondere in Gaza, sind nach Angaben des Committee for the Protection of Journalists (CPJ) seit dem 7. Oktober 2023 mindestens 105 Journalist:innen und andere Medienschaffende in der Region ums Leben gekommen (Stand: 17. Mai, Anm. d. Übers.). Die meisten Journalist:innen wurden am ersten Tag getötet, es waren insgesamt sechs. Nach Angaben der Organisation war der Oktober der tödlichste Monat für Journalist:innen seit Beginn der Datenerfassung im Jahr 1992.

Was aber ist das Vermächtnis der gefallenen Kriegsberichterstatter:innen und anderer Medienschaffender? Damit beschäftigen sich Richard Stupart und Rob Sharp in ihrer Studie Saints and witnesses: virtue and vocation in the memorialization of the Western conflict journalist. Für ihre Analyse haben sie fünf Fallstudien von Journalist:innen ausgewählt, die zwischen 2010 und 2020 im Zusammenhang mit ihrer Arbeit verstorben sind: Marie Colvin, Tim Hetherington, Camille LePage, James Foley und Chris Allen.

Ein Vermächtnis aufbauen

Susan Sontag vertritt in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten die Auffassung, dass es kein kollektives Gedächtnis gibt, sondern etwas, das sie als „kollektive Instruktion“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein Narrativ darüber, wie etwas passiert ist, mit zusätzlichen Bildern, die in unserem Gedächtnis bleiben.

Stupart und Sharp verwenden diese Beispiele, um hervorzuheben, welche Charakteristika die Schaffung von Erinnerungen an einen verstorbenen Journalisten begünstigen. Ein wichtiger Faktor dafür ist der privilegierte Status des weißen Euro-Amerikaners, der sich entschloss, die „Wärme der Heimat“ zu verlassen und den „Benachteiligten“ zu helfen.

Das Narrativ, ein bequemes westliches Leben zu „opfern“ und bereit zu sein, für höhere Ziele zu sterben, repräsentiert das Konstrukt, einem normativen Ideal zu folgen, das den eventuellen Tod rechtfertigt. Dies verleiht dem möglichen Tod nicht nur mehr Gewicht, sondern unterstützt auch den daraus resultierenden Erinnerungswert.

Anhand der fünf Fallstudien zeigen die Autoren vier Formen der Rhetorik auf, die mit dem Tod von Kriegsberichterstatter:innen verbunden sind: die moralischen Heiligen, die humanitären Kosmopolit:innen, die Zeug:innen und die Form der Stimme.

Der Journalist als Heiliger

Die moralischen Heiligen zeigen die Darstellung der Verstorbenen als Personen, die moralische Stärke bewiesen und ihr Wohlbefinden für das Wohl anderer geopfert haben. Dies zeigt der Fall der Fotojournalistin Camille Lepage, die 2014 mit nur 26 Jahren in der Zentralafrikanischen Republik starb. Laut einer Website, die ihrem Vermächtnis gewidmet ist, beschloss sie, die sicheren Mauern ihrer Heimatstadt Angers zu verlassen und besiegelte ihre Entscheidung, sich ins Unbekannte zu wagen. Das Vermächtnis von Lepage wird von ihrer Familie verwaltet. Zu den Spender:innen der Stiftung in ihrem Namen gehört auch das bereits erwähnte Komitee zum Schutz von Journalisten.

Im Fall von Chris Allen wird ebenfalls   betont, dass er sein komfortables Zuhause verlassen und wie die Rebell:innen, denen er folgte, in Lehmhütten leben wollte. Dort aß er mit ihnen und teilte ihr Wasser. So wird gleichzeitig seine Bescheidenheit und Demut unterstrichen, beides Eigenschaften, die einen „guten Charakter“ ausmachen und von Journalist:innen erwartet werden, die über weltweite Konflikte berichten.

Zum Narrativ des Kriegsjournalismus gehört, wie dieses Beispiel zeigt, teils ein religiös anmutendes Motiv. Es spiegelt sich auch im Fotojournalismus in Form von wiederkehrenden visuellen Themen wider, wo Trauer und Tod oft in Form von Frömmigkeit dargestellt, und Frauen zum Beispiel als Jungfrauen abgebildet werden. Auch die sprachliche Gestaltung und die Verwendung von Ausdrücken und Symbolen aus der Bibel trägt dazu bei.

Kosmopolitische Retter:innen mit der Feder in der Hand

Ein weiteres rhetorisches Muster, dass die Autoren der Studie ausmachen, konzentriert sich auf das Erbe der Journalist:innen als eine Art Retter:in oder „Vertreter:in der Gerechtigkeit“. Diese Journalist:innen wollten demnach die Not der „Vergessenen“ bezeugen. Durch ihren Eifer für die Sache konnte die öffentliche Aufmerksamkeit in die richtige Richtung gelenkt werden. Sie wurden so zu Vertreter:innen in einer kosmopolitischen Moralgemeinschaft. Gleichzeitig waren sie Zeug:innen, die der Öffentlichkeit und potenziellen humanitären Helfer:innen Leid schilderten.

Außerdem gaben sie durch ihre Arbeit denjenigen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden konnten. Ein Beispiel ist die Arbeit von Marie Colvin, die laut der Website der in ihrem Namen gegründeten Stiftung das Leben von 1 500 Frauen und Kindern rettete, die in einem UN-Lager eingeschlossen waren, das 1999 von indonesischen Truppen in Osttimor angegriffen wurde. Indem sie sich weigerte, das Lager zusammen mit anderen Journalist:innen zu verlassen, und Nachrichten vom Ort des Geschehens brachte, zwang sie die UN schließlich zu einer groß angelegten Evakuierung von Zivilist:innen. Dieser Fall veranschaulicht, wie Journalist:innen zu moralischen Helden stilisiert werden können, und Rollen einnehmen, die wir sonst mit Entwicklungshelfer:innen in Verbindung bringen würden.

Humanitäre Helfer:innen oder Journalist:innen?

Hier stoßen wir jedoch auf ein Problem, das mit dem zeitgenössischen Journalismus als solchem zusammenhängt. Selbst Kriegsberichterstatter:innen sind oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen und können daher gezwungen sein, sich anderweitig nach Arbeit umzusehen. Oft werden sie Teil von humanitären Organisationen, mit denen sie ohnehin zusammenarbeiten. So einsteht eine große Nähe zum professionellen Humanitarismus – ein möglicher Rollenkonflikt zum Journalismus?

Die Autoren von Saints and witnesses: virtue and vocation in the memorialization of the Western conflict journalist verkennen jedoch nicht das Vermächtnis und die Opfer, die Kriegsberichterstatter:innen bringen. Dies wird auch durch die Worte der Präsidentin des Komitees zum Schutz von Journalisten, Jodie Ginsberg, aus dem Jahr 2022 veranschaulicht, die die Autoren zitieren: „In der Vergangenheit wurde das ‚Presse‘-Schild auf dem Rücken oder vorne oft als eine Form des Schutzes angesehen. Jetzt befürchtet man, dass es einen stattdessen zur Zielscheibe macht.“

Dieser Text wurde zuerst am 23. April 2024 auf der tschechischen EJO-Seite veröffentlicht. Übersetzt von Judith Odenthal mithilfe von DeepL

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