Die Proteste im Iran sind immer noch aktiv und der prominenteste Austragungsort bleibt das Kopftuch der iranischen Frauen. In den europäischen Medien wird es um das Thema jedoch immer stiller. Die Journalistin, Ärztin und Nahost-Expertin Gilda Sahebi spricht im Interview mit EJO über die aktuelle Lage im Iran und schaut kritisch auf die europäische Auslandsberichterstattung.
Seit September 2022 protestieren die Menschen im Iran. Ausgelöst wurden diese Proteste durch den Tod von Jina Mahsa Ahmini, einer jungen Frau, die von der iranischen Sittenpolizei verhaftet und misshandelt wurde. Im Iran herrscht auch acht Monate später noch ein Ausnahmezustand: Weite Teile der Bevölkerung wollen die Revolution, sie wollen das theokratische Regime stürzen. Ihnen entgegen steht eine gewaltvolle Sittenpolizei und die Anhänger:innen des iranischen Regimes. Immer wieder werden Journalist:innen verhaftet, die Todesstrafe verhängt, Frauen ohne Kopftuch bestraft und es wird über Folter an Kindern berichtet.
Gilda Sahebi ist von den Medien als Nahost-Expertin deklariert worden und berichtet über Social-Media, einen extra Podcast und in zahlreichen Talkshows über Neuigkeiten aus dem Iran.
Wie schätzen Sie die aktuelle Situation im Iran ein?
Gilda Sahebi: Die Situation im Iran ist aktuell komplex, kompliziert und schwierig. Es findet gerade ein innerer Kampf zwischen dem Regime und seinen Anhänger:innen, und denjenigen Menschen statt, die Freiheit wollen und Widerstand leisten. Und das tun besonders die Frauen, denn der Kampf entfacht sich momentan stark am Kopftuch. Sehr viele Frauen tragen seit Monaten schon kein Kopftuch mehr im Iran und auch nicht mehr die klassische sittenkonforme Kleidung. Und das fällt jetzt im Sommer im Iran besonders auf. Das Bestreben des iranischen Regimes ist es, diese Frauen unter Kontrolle zu bringen. Deswegen ruft es einzelne Menschen dazu auf, diese Frauen zu drangsalieren, zu filmen und zu denunzieren. Im Land herrscht eine sehr explosive Stimmung.
Momentan scheint im Iran ein alltäglicher Widerstand z. B. durch das
Weglassen des Kopftuches, statt aktiver Protest auf der Straße
eingekehrt zu sein. Was bedeutet das?
Gilda Sahebi: Die täglichen Proteste gibt es nicht mehr, zumindest gerade nicht mehr. Aber es gab sie z. B. am Geburtstag einer der erschossenen Protestierenden und ich bin mir sicher, dass sie wiederkommen werden. Stattdessen gibt es tatsächlich diesen zivilen Widerstand, und zwar überall. An den Universitäten wurden dadurch auch einige Studierende in den letzten Monaten exmatrikuliert, weil sie eines der wichtigsten Zentren dieses Widerstands darstellen. Es gibt Vergiftungen an Mädchenschulen, damit die jungen Menschen keinen Widerstand mehr leisten, wie sie es in den letzten Monaten getan haben. Es wird getanzt auf offener Straße, was eigentlich verboten ist, aber ein sehr wichtiger Aspekt der eigentlichen iranischen Lebensstimmung ist. Tanz gehört dazu im Alltag der Menschen.
Es gibt aber neben dem Kopftuch bei Frauen auch viele Männer, die in Shorts in den Straßen sitzen, auch das ist eigentlich verboten. Wenn ich Fotos von solchen Situationen sehe, ist es so schön, denn so etwas sieht man eigentlich nicht im Iran.
Also das ist die Art und Weise, wie im Moment Widerstand geleistet wird und ich glaube, sollte das Regime jetzt wirklich wieder Gewalt ausüben, bei der Durchsetzung der “Sitten”, dann glaube ich wird wieder stärker protestiert werden.
Woher kommt dieser alltägliche Widerstand der Menschen im Iran?
Gilda Sahebi: Die Menschen widersetzen sich, weil die Wut so groß ist. Die Wut auf das Regime wird bei den meisten Menschen im Land immer größer. Darüber, dass ihre Kinder vergewaltigt werden und systematisch gefoltert werden, darüber, dass Frauen unterdrückt werden, dass Protestierende verhaftet wurden. All das, was in den letzten Monaten ans Licht gekommen ist, hat also eine unglaubliche Wut entfacht und die verschwindet nicht. Der Willen der Menschen, das Regime zu stürzen, verschwindet auch nicht. Aber da es gerade zu gefährlich ist, jeden Tag zu protestieren, sind die alltäglichen Maßnahmen die Folge. Aber diese Folgen sind spürbar: In den letzten Wochen wurden Hunderte von Läden und Gaststätten geschlossen, die Frauen ohne Kopftuch bedient haben.
Sie haben viele Kontakte zu Familie und Freunden im Iran. Und Sie
teilen Ihre Einblicke und Einschätzungen über Artikel, dem Podcast „Das
Iran Update” und über Ihre Social-Media Kanäle. Warum ist es auch heute
immer noch wichtig über die Proteste bzw. die Bewegung zu berichten?
Gilda Sahebi: Weil es eine historische und potenziell weltveränderte Bewegung ist. Man kann sich dazu mal vorstellen, dass die feministische Bewegung im Iran erfolgreich wäre: Das hätte eine unglaubliche Bedeutung für progressive und demokratische Bewegungen auf der ganzen Welt. Es hätte ungeahnte Folgen für die Region, es würde eine Veränderung der Beziehung zu Israel bedeuten, aber auch zu Europa und den USA. Das größte Land der Region könnte potenziell frei und bestenfalls demokratisch sein. Das würde die gesamte Region des Nahen Osten verändern, es wäre etwas ganz Großes.
Man merkt aber leider durch die politische und mediale Aufbereitung, dass es nicht gewollt ist, dass diese Demokratiebewegung erfolgreich ist, weil es Unsicherheiten reinbringen würde, in etwas, das man eigentlich als planbar einstuft. Die einzigen heutigen Unwägbarkeiten sind die iranischen Nuklearbestrebungen. Deswegen ist das auch der einzige Punkt, an dem gehandelt wird. Aber deshalb ist es umso wichtiger, dass man heute auf den Iran schaut, ihn zeigt und darüber berichtet.
Was können europäische bzw. deutsche Medien tun um die Protestbewegung im Iran zu unterstützen?
Gilda Sahebi: Das Wichtigste ist eine angemessene Berichterstattung, eine, in der Nachrichtenagenturen wie die dpa nicht die iranischen Nachrichtenagenturen und iranische Regimestellen zitieren. Eine Berichterstattung, in der europäische Medien nicht iranische Regimepropaganda verbreiten. Denn das ist aktuell die Normalität. Wir berichten aktuell nur, wenn iranische Regimestellen etwas raushauen, wie z. B. „das iranische Regime deckt auf“. Andersherum berichten wir kaum aus dem Iran, wenn z. B. zwischendurch Mädchenschulen vergiftet werden. Da ist so viel Falsches und so viel nicht Verstandenes in den europäischen Medien in Bezug auf den Iran. Es geht nicht um die Quantität der Berichterstattung, denn der Iran ist auch nur ein außenpolitisches Thema von vielen. Es geht aber um die Qualität. Es geht darum, dass man nicht nur berichtet, wenn es um das Nuklearabkommen geht, sondern in einer Art und Weise, die die Komplexität des Landes abbildet.
Wie können europäische Journalist:innen an diese tiefergehenden Informationen kommen?
Gilda Sahebi: Das ist im Iran schwieriger als in anderen Orten der Welt. Man muss sich der Netzwerke bedienen, die es gibt. Ohne direkte Kontakte ins Land kann man über den Iran nicht berichten. Da gibt es keine Chance. Aber es gibt inzwischen genug Journalist:innen mit Expertise über den Iran, mit denen man sich verbinden und Fragen stellen sollte. Außerdem sollten europäische Medien unbedingt die Exilmedien konsultieren, sich diese anschauen und sich über die Hintergründe der Medien informieren, denn die sind nicht alle neutral. Man muss also die mediale Landschaft des Irans kennenlernen und sich einarbeiten, und dann kriegt man eine gute Berichterstattung hin.
Das Land bzw. die Region allgemein wird medial also oft nicht verstanden. Was muss sich in den medialen Strukturen in Europa verändern, damit sich das ändert?
Gilda Sahebi:
Wir dürfen nicht mehr dermaßen eurozentrisch berichten, das ist ein großer Prozess, der unbedingt angegangen werden muss.
Das hat man an der Ukraine sehr gut gesehen: Man interessiert sich Jahrzehnte lang nicht für andere Weltregionen und berichtet nur über Krisen oder Putschversuche, und dann wundert man sich, dass der Rest der Welt nicht hinter Europa steht, wenn die Ukraine angegriffen wird.
Viele Regionen der Welt haben bislang in der europäischen Berichterstattung noch keine Rolle gespielt. Deshalb müsste man das Korrespondent:innennetzwerk verändern. Es gibt übertrieben gesagt Tausende Korrespondent:innen in den USA und dafür nur eine in Afrika. Man muss verstehen, dass Europa und die USA nicht die Nabel der Welt sind. Bei diesem Prozess hilft Diversität in Redaktionen, Veränderungen von Strukturen und eine bessere Finanzierung der Auslandsberichterstattung. Wenn man nicht weiß, was an anderen Flecken der Welt los ist, hat das Folgen.
Nilufar Hamedi und Elahe Mohamadi, sind zwei Journalistinnen, die über Amini und ihren Tod berichteten – gäbe es ohne Journalist:innen die Proteste im Iran so gar nicht?
Gilda Sahebi: Gerade Journalist:innen im Iran haben in den letzten Jahren über die Situation und den Zustand von Frauen im Iran berichtet und Missstände aufgedeckt. Ohne den Mut von Journalisten und Journalistinnen z. B. über die Sittenpolizei zu berichten, wüsste man viel weniger über das Land. Deshalb ist Iran weltweit das Land mit den meisten inhaftierten Journalist:innen. Aktuell sind auch so viele weibliche Journalistinnen inhaftiert wie noch nie zuvor.
Wie ist die Situation für Medienschaffende im Iran selbst?
Gilda Sahebi: Die Situation für Medienschaffende ist katastrophal. Iran liegt im Ranking der Pressefreiheit auf 178 von 180. Mit dem Beruf riskiert man im Iran seine Freiheit, und trotzdem üben Menschen diesen Job aus, das ist etwas, das mich immer wieder fasziniert. Aber es gibt keine einziges freies Medium, es ist alles in Staatshand. Es gibt Medien, die noch versuchen, Berichte ins Land zu bringen, jedoch weiß man nicht, wie lange man damit weitermachen kann und wann man möglicherweise inhaftiert wird.
Welche Möglichkeiten haben die Iraner:innen sich mithilfe von digitalen Technologien bestimmte Freiheiten zu erschleichen bzw. zu erkämpfen?
Gilda Sahebi: Anders als in Russland guckt im Iran kein Mensch, der nichts mit dem Regime zu tun hat, das Staatsfernsehen. Denn was dort gesendet wird, ist abstrus. Deshalb haben die Menschen dort schon seit jeher Satellitenschüsseln, sodass man sich über andere westliche Exilmedien informieren konnte. Und zweitens sind die sozialen Medien sehr stark vertreten. Vor September waren mehr als 90 % der Iraner:innen auf Instagram, dann wurde es eingeschränkt. Neben den Exilmedien sind Instagram und die sozialen Medien aber die größte Informationsquelle. Das ist auch der Grund, weshalb das iranische Regime eine riesige Cyber-Armee hat, die auf den sozialen Medien Hass verbreitet, einschüchtert und Journalist:innen abhalten möchte, Inhalte hochzuladen. Sie hacken aber auch Accounts und bedrohen sie. Und die sozialen Medien sind dadurch auch voll mit Desinformation vom iranischen Staat. Die Menschen im Iran sind aber trotzdem sehr informiert. Sie bekommen mit, was in Europa und im eigenen Land los ist und das nur wegen der Exilmedien und der sozialen Medien.
Wie schätzten Sie die digitale Sicherheit für Menschen im Iran ein?
Gilda Sahebi: Digitale Sicherheit gibt es im Iran für die Menschen nicht. Ich kommuniziere mit den Leuten über Signal, wenn sie die App schon runtergeladen hatten, bevor es nicht mehr möglich war. Über FaceTime können wir telefonieren, das ist relativ sicher. WhatsApp geht auch, wir löschen dann aber direkt die Nachrichten. Telegram ist unsicher. Die Menschen im Iran kennen also ihre Wege, aber es besteht dort keine digitale Sicherheit. Der Staat hackt sich überall rein, wo es geht. Die Menschen haben oft auch zwei Handys, eins für draußen und eins für zu Hause – also da muss man kreativ sein, und natürlich auch die finanziellen Möglichkeiten haben.
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