Umbruch in Osteuropa: Mediale Herausforderungen in Polen, Estland, Tschechien und Ostdeutschland nach 1990

30. November 2023 • Aktuelle Beiträge, Internationales, MediaDelCom • von

Die Medienlandschaften von Polen, Estland, Tschechien und Deutschland erscheinen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Ein Beispiel: Während Rundfunk in Polen seit den Maßnahmen der PiS-Regierung nicht mehr unabhängig vom Staat ist, versuchen Politiker:innen in der Tschechischen Republik, eher indirekt durch komplizierte Besitzverhältnisse Einfluss auf Medien auszuüben. Dennoch sind die Entwicklungen der Mediensysteme in all diesen vier Ländern auf ein und dieselbe Periode zurückzuführen: die Umbrüche der 90er-Jahre. Diese bezogen sich nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Medien. Vier Medienexpert:innen aus Polen, Estland, Tschechien und Deutschland haben am 8. November bei einer Diskussionsrunde in der Auslandsgesellschaft in Dortmund über aktuelle Herausforderungen und historische Entwicklungen gesprochen. 

Foto: Ellen Waldeyer

Als ehemalige „Satellitenstaaten“ oder sogar Teil der Sowjetunion haben die Länder in dieser Zeit nicht nur ihre Unabhängigkeit erreicht, sondern auch weitreichende politische und ökonomische Umbrüche durchgeführt. Ereignisse, deren Auswirkungen auf die Medienlandschaft bis heute noch spürbar sind, betont Marcus Kreutler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus.

Nach der Wende galt es, eine freie und unabhängige Medienlandschaft zu schaffen. In Polen orientierte man sich dabei hauptsächlich an westlichen Modellen, erklärt Michał Głowacki, Medienwissenschaftler an der Universität Warschau. In der Folge wurden zahlreiche Medien neu gegründet, beispielsweise das crossmediale Medium „Agora S.A.“ und der Fernsehsender „Telewizja POLSAT“.

Auch nach den ersten freien Wahlen der Tschechoslowakei im Jahr 1990 kam es zu zahlreichen Neugründungen. So ist die heutige Zeitungslandschaft Tschechiens größtenteils während des Umbruchs entstanden, in dessen Zuge ehemals staatliche Medien privatisiert wurden. Eine Privatisierung der Medienlandschaft fand auch in Estland nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 statt.  Pressefreiheit wurde zu einem wichtigen Wert und damit verbunden die Journalisten zu einer wichtigen Autorität in der Gesellschaft, erklärt Halliki Harro-Loit, Professorin für Journalismus an der Universität Tartu in Estland.

Und auch in Deutschland gingen das Ende der DDR und die Wiedervereinigung nicht spurlos an der Medienlandschaft vorbei. So mussten sich die ostdeutschen Bundesländer in vielerlei Hinsicht an ihre westdeutschen Nachbarn anpassen: Institutionen wie der Presserat wurden auf die neuen Bundesländer ausgeweitet und der Rundfunk dem öffentlich-rechtlichen Vorbild des Westens angepasst. Die Treuhandanstalt, die die früheren DDR-Betriebe und auch die Zeitungen privatisieren sollte, vergab Zuschläge fast ausschließlich an westdeutsche Großverlage. Nach der Wende hätten sich einige Ostdeutsche deshalb „heimatlos“ gefühlt. „In Bezug auf nationale Berichterstattung hatten sie keine eigenen, vertrauten Medienmarken mehr“, sagt Kreutler.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Länder seitdem?

In Polen wurden die Errungenschaften seit den 90ern in letzter Zeit teilweise wieder rückgängig gemacht. Zwar hatten Parteien in der Vergangenheit stets versucht, Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu nehmen – ein neues Ausmaß nahm dies aber erst seit dem Sieg der PiS-Partei bei den Parlamentswahlen 2015 an. Bereits kurz nach der Wahl entmachtete die Partei das Verfassungsorgan Krajowa Rada Radiofonii i Telewizji (KRRiT), das für die Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zuständig war. Ersetzt wurde es durch einen neu geschaffenen Rat der Nationalen Medien, der unmittelbar von der Parlamentsmehrheit dominiert wird. Michał Głowacki erklärt, dass mit diesem politischen Wandel eine starke soziale Polarisierung einhergehe, die „heute eins der Hauptprobleme ist“.

Nach den Wahlen im Oktober, bei denen die PiS-Partei verlor, könnte es erneut einen Umbruch geben. Der Oppositionskandidat Donald Tusk versprach noch während des Wahlkampfs, die Sender würden bald wieder ausgewogen berichten. Es gebe die Möglichkeit, den Rat für nationale Medien aufzulösen, allerdings dauert die Amtszeit der Kandidat:innen im Rat noch fünf Jahre. Um den Rat aufzulösen, müssten die Regeln per Gesetz verändert werden. Das geht allerdings nicht ohne die Zustimmung des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, der ein loyaler PiS-Anhänger ist. Sollten die Sender weiterhin PiS-treu berichten und die aktuelle Regierung in den Medien angreifen, könnte das eine gefährliche Situation darstellen und die politische Situation destabilisieren, ordnet der Chefredakteur des politischen Wochenmagazins „Polityka“, Jerzy Baczyński, für die Tagesschau die Lage ein.

Estland steht international im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen zwar weit oben (Platz 8 von 180), doch auch hier zeichnen sich Probleme im Mediensystem ab. Rund ein Viertel der estnischen Bevölkerung spricht Russisch. Die Einflussnahme russischer Propaganda, insbesondere zum Ukraine-Krieg, dürfe man nicht unterschätzen, warnt Halliki Harro-Loit. Außerdem hat die ehemalige sowjetische Besatzung Spuren im Land hinterlassen. Die Menschen gehen in Abwehrhaltung, sobald journalistische Angebote kritisiert werden. Halliki Harro-Loit sagt, die Freiheit der Presse sei zur Freiheit für die Presse geworden. Medienorganisationen missbrauchten demnach teils die Meinungsfreiheit, um Stimmen zu unterdrücken. “Zu oft müssen Journalist:innen sich zwischen Loyalität mit den Eigentümern und professionellen ethischen Prinzipien entscheiden”, erklärt Halliki Harro-Loit weiter.

Bildquelle: Ellen Waldeyer

Diese Haltung ist auch in der Tschechischen Republik zu spüren. In postkommunistischen Ländern fürchte man sich vor dem Wort „Selbstzensur” und spreche lieber von „Autonomie”, erläutert Lenka Waschková Císařová, Professorin im Department of Media Studies and Journalism an der Masaryk-Universität in Brünn. In den 1990ern übernahmen größtenteils schweizerische und deutsche Verlage den tschechischen Zeitungsmarkt; 2008 wurde er von tschechischen Firmen, Unternehmern und auch Oligarchen übernommen. Der ehemalige Premierminister kaufte beispielsweise das einflussreichste Medienhaus Tschechiens. Einige Journalist:innen kündigten daraufhin, doch viele blieben. „In einem Interview erklärten mir einige Journalisten, dass sie nicht über die Partei des Premierministers berichten und daher neutral bleiben. Sie waren sich überhaupt nicht bewusst, dass sie sich damit selbst zensieren”, sagt Waschková Císařová. Es sei naiv gewesen, zu glauben, dass die Privatisierung der Medienhäuser automatisch Pressefreiheit bedeute.

Im Vergleich zu den osteuropäischen Ländern sei das Glas in Deutschland eher halbvoll als halbleer, sagt Marcus Kreutler. Aber auch hier führte die Wende zu Herausforderungen in der Medienlandschaft: Bis heute gibt es in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Zeitungsmärkte. Große westdeutsche Printmarken wie die Süddeutsche Zeitung konnten nie ein großes Publikum in Ostdeutschland aufbauen, so Kreutler. Auch das Verhalten der Mediennutzer:innen unterscheidet sich teilweise bis heute in den alten und neuen Bundesländern.

Welche Lösungen könnte es geben?

Estland, Tschechien und Polen ergreifen verschiedene Maßnahmen, um Probleme im Bereich der Medienqualität anzugehen. Estland setzt auf Bildung, integriert Medienpädagogik in Schulen und fördert Medienethik in der Journalist:innenausbildung. Durch die Überarbeitung von Mediengesetzen und die Diskussion über Medienethik und Journalismus als Beruf soll Media Accountability in der Tschechischen Republik gestärkt werden.

Polen hat vermutlich den schwersten Weg vor sich: Innerhalb von acht Jahren fiel das Land im Pressefreiheits-Ranking von Platz 18 auf Platz 57. Michal Głowacki fordert ein neues Mediensystem, betont die Notwendigkeit von Medien mit verschiedenen kulturellen Einflüssen und sieht Gesprächsbedarf über Demokratie und Medien. Die Wiederherstellung des Vertrauens in die öffentlich-rechtlichen Medien erfordere Zeit, allerdings könnte ein besserer Zugang zu öffentlich-rechtlichen und privaten Medien die Medienpluralität und den Diskurs fördern.

Was raten die Expert:innen angehenden Journalist:innen?

Marcus Kreutler appelliert an junge Journalist:innen, den eigenen Eltern oder Großeltern in Fragen digitaler Medienkompetenz zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen, glaubhafte Informationen von weniger vertrauenswürdigen zu unterscheiden. „Seid aktiv!”, gibt auch Lenka Waschková Císařová mit auf den Weg. Halliki Harro-Loit spricht den aktuellen Informationsüberfluss an und dass es gerade jetzt einen dringenden Bedarf gibt, zuzuhören, aber auch andere dazu zu bringen, Journalist:innen Gehör zu schenken. Michal Głowacki macht darauf aufmerksam, dass Demokratien niemals für selbstverständlich gehalten werden sollten. „Wir müssen jeden einzelnen Tag für die Demokratie und unsere Rechte einstehen”, unterstreicht er, denn: Autoritäre Regime entwickelten sich nicht über Nacht und Demokratie sei das höchste Gut, das unabhängigen Journalismus ermöglicht.

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