Eine Jugend gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft (Teil 1)

28. November 2022 • Aktuelle Beiträge, Ausbildung, Internationales, Qualität & Ethik • von

Knapp 30 Jahre nach Kriegsende bleibt Bosnien und Herzegowina ein zerrissenes Land. Anhaltende ethnische Konflikte, Feindseligkeiten und Misstrauen spalten die Gesellschaft. Dabei sehnen sich gerade junge Menschen nach Veränderungen und einer Perspektive in ihrem Heimatland. Dieser Beitrag ist der erste Teil einer Serie, die im Rahmen einer Studienexkursion des Erich-Brost-Instituts für internationalen Journalismus (EBI) nach Kroatien und Bosnien und Herzegowina im Mai und Juni 2022 entstanden ist. Der zweite Teil wird das Engagement der Nichtregierungsorganisation „Youth Initiative for Human Rights“ sowie die Bekämpfung von Hasssprache in Bosnien und Herzegowina thematisieren.

Arne Jeleč sitzend auf einem Brückengeländer in Sarajevo

Arnes Jeleč, Studierender und Koordinator der Jugendabteilung der Sozialdemokratischen Partei von Bosnien und Herzegowina im Kanton Sarajevo

Für viele Menschen ist Sarajevo, die Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas, noch heute mit den Schrecken des Krieges verbunden. Während des Bosnienkriegs Mitte der 1990er-Jahre stand die Stadt mehrere Jahre unter Belagerung und Beschuss. Mehr als 100.000 Menschen verloren während der langjährigen brutalen Auseinandersetzungen zwischen Kroaten, Serben und Bosniaken ihr Leben. Aufgrund der Kriegsgeschehnisse flohen rund zwei Millionen Menschen ins Ausland.

1995 beendete der Dayton-Friedensvertrag unter Vermittlung der USA und der Europäischen Union den Bosnienkrieg, verfestigte gleichzeitig aber die ethnischen Strukturen in dem Westbalkanland. Denn der Vertrag sah vor, den drei konstituierenden Völkern Bosnien und Herzegowinas, also Bosniaken, Kroaten und Serben, gleiche Mitbestimmungsrechte zu geben. Beispielsweise werden Positionen in Politik und Verwaltung immer noch nach ethnischen Schlüsseln vergeben. Diese Orientierung an ethnonationalen Kriterien lähmt das Land – sozial, politisch und wirtschaftlich.

Das möchte Arnes Jeleč nicht weiter hinnehmen. Richard Brandt hat den 23-Jährigen, der als Bosniake in Sarajevo geboren und aufgewachsen ist, im Rahmen einer Studienexkursion getroffen und mit ihm über das Erbe und die Zukunft seines Landes gesprochen. Arnes studiert „Internationale Beziehungen und Diplomatie“ im Master an der Universität Sarajevo und ist gleichzeitig Koordinator der Jugendabteilung der Sozialdemokratischen Partei von Bosnien und Herzegowina im Kanton Sarajevo. Darüber hinaus engagiert er sich seit mehreren Jahren in Nichtregierungsorganisationen wie der „Youth Initiative for Human Rights“ (YIHR) zu Themen wie ethnischer Zugehörigkeit, Friedenserhalt, Umweltschutz und politischer Bildung für junge Menschen. Im Interview spricht er über seine Arbeit in der Nichtregierungsorganisation, die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für junge Menschen in Bosnien und Herzegowina und warum er sich für eine bessere Zukunft einsetzt.

Arnes, welche Projekte verfolgt die Initiative genau?

Die „Youth Initiative for Human Rights“ organisiert in erster Linie Reisen an Orte, in denen eine große Anzahl von Menschen getötet wurde, wie beispielsweise Srebrenica. Sie planen Gedenkfeiern und besuchen Gedenkstätten. Das Ziel ist, dass ich als Bosniake dorthin komme und gedenke, wo serbische und kroatische Opfer zu beklagen waren. Wir alle sollen dort zusammenkommen, die Orte besuchen, die zerstört wurden, und Geschichten von Menschen hören, die die Internierungslager überlebt haben. Wenn man beispielsweise noch nie vom Völkermord in Srebrenica gehört hat und dann die Möglichkeit bekommt, dorthin zu fahren, dann eröffnet sich einem eine ganz neue Welt.

Verbrechen während des Bosnienkriegs

Internierungslager wie das ehemalige Lager Trnopolje nahe der nordbosnischen Stadt Prijedor und insbesondere das Massaker von Srebrenica stehen sinnbildlich für die Grausamkeit des Bosnienkriegs und sorgen noch heute für Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppierungen in Bosnien und Herzegowina. Nahe der Kleinstadt Srebrenica ermordeten bosnisch-serbische Truppen im Sommer 1995 mehr als 8000 Bosniaken. Mittlerweile wird das Verbrechen von internationalen Organisationen und Staaten weltweit als Genozid bzw. Völkermord anerkannt.

Bis heute sind die ethnischen Konflikte in deinem Heimatland nicht überwunden. Welche Rolle spielen die ethnische Zugehörigkeit und Religion für dich und andere junge Menschen?

Religion ist hier mit der ethnischen Identität verbunden. Die Tatsache, dass ich Bosniake bin, bedeutet auch, dass ich Muslim bin. Und diese beiden Identitäten – bosniakisch und muslimisch, kroatisch und katholisch oder serbisch und orthodox – sind in Bosnien und Herzegowina sehr eng miteinander verbunden. Es ist schwer, sie zu trennen.

Die Menschen sind aber nicht immer praktizierende Gläubige. Wenn jemand den Islam angreift, werde ich den Islam nicht verteidigen, weil ich fünfmal am Tag bete und mir Gott so wichtig ist, sondern eher, weil jemand das angegriffen hat, was ich als Teil meiner Identität empfinde. Etwas, mit dem ich aufgewachsen bin. Etwas, das meine Eltern sind. Das gilt für alle ethnischen Gruppen.

Ich bin in einem muslimischen Haushalt aufgewachsen und sage immer noch gern, dass ich Muslim bin. Aber nicht, weil ich den Islam praktiziere. Für mich ist das ein Teil meiner Identität. Alle bekannten Vorfahren bis zu meinen Urgroßeltern sind Bosniakinnen und Bosniaken. Aber mein Nachname ist kroatisch, also habe ich wahrscheinlich auch kroatische Wurzeln. Ich habe das Gefühl, dass junge Menschen liberaler und weniger konservativ sind, aber sie tragen diese religiöse Identität immer noch in sich.

Einfluss der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit

Aid Smajić, außerordentlicher Professor und Prodekan für Internationale Beziehungen der Fakultät für Islamische Studien der Universität Sarajevo, bestätigt in einem Gespräch während der Studienexkursion: „Religion ist ein Zeichen sozialer Identität in Bosnien und Herzegowina.“ Menschen würden so einer bestimmten sozialen Gruppe im Land zugerechnet. Das Problem: Der Kontakt unterschiedlicher sozialer Gruppen sei von Stereotypen und Vorurteilen über die jeweils anderen Gruppen geprägt. „Das ist ein kollektives Problem“, sagt Smajić, das langfristig auch die Gefahr erneuter ethnischer Gewalt im Land erhöhe. Wegen der Vertreibung und Ermordung ganzer ethnischer Gruppen während des Bosnienkriegs leben die Bürgerinnen und Bürger in Bosnien und Herzegowina heute in größtenteils homogenen Gesellschaften. Vor dem Krieg sei das noch anders gewesen, so Smajić.

Diese Ansichten reichen bis in die höchsten Staatsebenen. Die Zerwürfnisse zwischen ethnischen Gruppen in Bosnien und Herzegowina werden ja auch regelmäßig von der Politik befeuert. Das macht eine konsequente geschichtliche Aufarbeitung schwierig. Glaubst du, dass die politische Führung der Grund für die Probleme in deinem Land ist?

Jedes Problem, das wir in Bosnien und Herzegowina haben, hat einen politischen oder historischen Hintergrund. Ich höre immer wieder, dass Leute sagen: „Es sind die Politiker, die das Land spalten, also die Politiker, die Nationalisten sind.“ Wir haben tatsächlich Politikerinnen und Politiker an der Macht, die Nationalisten sind. Aber wir leben immer noch in einem demokratischen Land, in dem die eigene Stimme wirklich zählt. Wir leben nicht in einem Land, in dem Wahlen inszeniert werden. Sie werden zwar manipuliert, aber es gibt eine Grenze, bis zu der sie manipuliert werden können. Wir leben nicht in einem Land, in dem Politiker nicht ersetzt werden können. Und wer wählt die Politikerinnen und Politiker? Das sind wir. Wir wählen die nationalistischen Politiker, die uns spalten.

Es gibt Leute, die solche Politiker wählen, weil sie sagen: „Es ist mir egal, ob ein Politiker korrupt ist, zumindest gehört er zu mir. Er beschützt mich vor allen anderen.“ Es ist besser, einen korrupten Bosniaken zu haben als einen guten Kroaten oder Serben. Und das gilt für jede ethnische Gruppe. Viele Menschen geben das aber nicht zu.

Würdest du sagen, dass junge Menschen in Bosnien und Herzegowina politisch engagiert sind?

Nein, junge Menschen sind sehr passiv. Manche gehen zwar zur Wahl, aber generell nehmen junge Leute ihr Mitbestimmungsrecht nicht wirklich wahr. Viele wissen nicht, wen sie wählen können und welche Regierungsebenen es gibt. Wenn es um politischen Aktivismus außerhalb von Wahlen geht, ist die Zahl ebenfalls niedrig. Junge Menschen wissen nicht, welche Rolle die Gemeinde, der Kanton, der Bund oder die politischen Teilungen spielen.

Fehlendes politisches Engagement und Vertrauen

Diese Beobachtungen werden auch von der „Youth Study Bosnia and Herzegovina 2018/2019“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gestützt. Die Forscherinnen und Forscher um Lejla Turčilo, Journalistik-Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Sarajevo, haben für die Studie insgesamt 1.000 junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren nach ihren Einstellungen und Wünschen gefragt. Diese wurden vorab mittels einer geschichteten Zufallsstichprobe ausgewählt.

Der Studie zufolge sind junge Menschen häufig nicht an politischen Themen interessiert oder schlecht über diese informiert. Mehr als 50 Prozent der Befragten gaben an, nicht viel über Politik zu wissen. Außerdem engagierten sie sich selten politisch und trugen so nicht aktiv zur Verbesserung ihrer Situation bei. Das liege zum einen an der fehlenden Vermittlung politischer Bildung in Schulen und der mangelnden Bereitschaft politischer Eliten, junge Menschen in politische Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Zum anderen fehle vielen Jüngeren das Vertrauen in politische Institutionen, einschließlich des Staatspräsidiums, des nationalen Parlaments, der Regierung, politischer Parteien und Politiker:innen im Allgemeinen. Auf einer Skala von 1 (kein Vertrauen) bis 5 (großes Vertrauen) wählten die Befragten im Schnitt einen Wert von 1,9, mehr als 50 Prozent sogar den Wert 1.
Gleichzeitig gaben 78 Prozent der Befragten an, an den nationalen Wahlen teilnehmen zu wollen. Ein ebenso großer Prozentsatz ist überzeugt, dass es die Pflicht jeder Bürgerin und jedes Bürgers einer Demokratie ist, wählen zu gehen – entgegen der verbreiteten Ansicht in Gesellschaft und Medien, dass junge Menschen den Wahlen fernbleiben. Generell werden junge Menschen laut einer Studie des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) aus dem Jahr 2021 in der Berichterstattung und Öffentlichkeit häufig als „passiv, gleichgültig, inkompetent und nutzlos“ dargestellt. Ihre Wahlentscheidungen treffen sie allerdings nicht weniger gut informiert als die bosnisch-herzegowinische Gesamtbevölkerung.

Ehrenamtliches Engagement im Allgemeinen ist unter jungen Menschen laut der Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht weit verbreitet. 13 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten ehrenamtlich tätig gewesen zu sein. Wenn sich junge Menschen engagieren, machen sie dies meist in Schulen, an Universitäten und in Jugendorganisationen. Laut den Forscherinnen und Forschern führt „die Kombination aus demokratischem Übergangsprozess, isolierten politischen Eliten und rückständiger wirtschaftlicher Entwicklung zur Abstinenz von der Politik als Form des Protests und der Revolte gegen ein politisches System, das sich nicht um die Zukunft der jungen Menschen zu kümmern scheint.“

Warum findest du es trotzdem wichtig, dich politisch zu engagieren und dich für die Aufarbeitung der Geschichte Bosnien und Herzegowinas einzusetzen?

Ich spreche nicht über den Krieg, weil ich ihn mag. Ich spreche über den Krieg, weil die Hälfte des Landes immer noch die Geschichte umdeutet. Die Republika Srpska hat ihr eigenes Bildungssystem, und das ist völlig anders. Nicht nur, wenn es um den Krieg in den 1990er Jahren geht, sondern um alles: um die Verfassung unseres Landes, um den Charakter des Krieges, um die Verbrechen, sogar um die Zeit vor der Gründung Jugoslawiens. Das ist ein großes Problem. Ich spreche darüber und ich glaube wir sollten darüber sprechen. Denn so lange Umdeutungen stattfinden, muss man für die Wahrheit kämpfen. Da kann man nicht einfach aufgeben.

Ein junges Land mit großen Herausforderungen

Bosnien und Herzegowina existiert als unabhängiger Staat seit 1992. Damals entschied sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum für die Loslösung vom ehemaligen Staat Jugoslawien – entgegen aller Boykottversuche der führenden bosnisch-serbischen Partei. Infolgedessen brach im April 1992 der Bosnienkrieg aus. Er wurde mit großer Brutalität geführt. Gewalt, Vertreibungen und Massaker: Alles mit dem Ziel, ganze Gebiete „ethnisch zu säubern“ und ethnisch homogene Gesellschaften zu schaffen.

Ende 1995 beendete das Abkommen von Dayton den Krieg in Bosnien und Herzegowina. Das Land besteht seitdem aus zwei Entitäten: der Republika Srpska, die vornehmlich von bosnischen Serbinnen und Serben bewohnt wird, und der bosniakisch-kroatisch geprägten Föderation von Bosnien und Herzegowina. Darüber hinaus existiert noch der kleine Distrikt Brčko, der ein eigenes Sonderverwaltungsgebiet bildet. Das politische System ist hochkomplex. So sind beispielsweise insgesamt 12 Ministerien für die Bildungspolitik in Bosnien und Herzegowina zuständig.

Rund drei Millionen Menschen leben derzeit in dem Westbalkanland. Doch Bosnien und Herzegowina verliert kontinuierlich Einwohnerinnen und Einwohner. Ein Hauptgrund dafür ist neben der festgefahrenen und unsicheren politischen Lage die schlechte wirtschaftliche Situation im Land. Laut einer Erhebung der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) war jeder dritte junge Mensch zwischen 15 und 24 Jahren im vergangenen Jahr arbeitslos. Der „Youth Study Bosnia and Herzegovina 2018/2019“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge sind insbesondere Frauen und junge Menschen im Alter von 18 bis 22 Jahren mit Universitätsabschluss von Arbeitslosigkeit betroffen. Da die Beschäftigungschancen in Bosnien und Herzegowina durch einen höheren Bildungsabschluss nicht zwangsläufig steigen, entscheidet sich nur jeder zehnte Schüler einer weiterführenden Schule dazu, im Anschluss eine Universität zu besuchen.

Neben der politischen ist auch die wirtschaftliche Lage junger Menschen in Bosnien und Herzegowina schlecht, wenn man sich zum Beispiel die hohe Jugendarbeitslosigkeit ansieht. Viele Menschen in deinem Alter wandern auch deshalb aus dem Land aus.

Ein großes Problem! Junge Menschen verlassen die Region, weil sie wegen der Korruption keine Arbeit finden. Wir haben beispielsweise ein Arbeitsamt, bei dem man sich nach der Schule anmeldet und das einen dann zur Berufsfindung anrufen soll. Das geschieht aber nie. Wir haben eine Situation, in der ein junger Mensch beispielsweise Medizin studiert, hart arbeitet, einen Masterabschluss hat. Alles tut, was er tun muss, um Arzt zu werden. Und er kann nicht als Arzt arbeiten. In jedem normalen Land würde er zumindest die Chance bekommen, in einer bestimmten medizinischen Einrichtung zu arbeiten. Das ist hier nicht der Fall. Es sei denn jemand ist ein Cousin von jemandem, selbst wenn die Person vielleicht weniger gebildet ist als man selbst. Das ist völlig normal. Aber auch, wenn man einen Job bekommt, sind die Löhne niedrig. Es gibt keine Arbeitnehmerrechte, man hat selten frei. Es sind einfach sehr schwierige Arbeitsbedingungen. Darum beschließen viele junge Leute, nach Österreich oder Deutschland zu gehen. Es ist besser, als Kellner in Deutschland zu arbeiten als Kellner in Bosnien und Herzegowina zu sein.

Jetzt ist die Situation allerdings noch dramatischer. Es sind nicht nur die jungen Leute, die das Land verlassen. Es sind nicht einmal nur Leute, die keine Arbeit finden. Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der auch wohlhabende Menschen, die in Bosnien und Herzegowina alles bekommen können, was sie brauchen, das Land verlassen. Weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder in einem nationalistischen Umfeld aufwachsen.

Korruption, Abwanderung und das Potenzial der Diaspora

Besonders Korruption und Vetternwirtschaft sind nach wie vor große Probleme in Bosnien und Herzegowina, die viele gut ausgebildete junge Menschen dazu bringen, das Land zu verlassen. In der „Youth Study Bosnia and Herzegovina 2018/2019“ der Friedrich-Ebert-Stiftung gaben 87 Prozent der Befragten an, dass Kontakte entscheidend für den Erfolg der Jobsuche sind. Verbindungen zu Verantwortlichen und Entscheidungsträgern sahen 85,9 Prozent als wichtig an. Die Mitgliedschaft in einer Partei (77,4 Prozent) und die eigene Herkunft (47,2 Prozent) sind weitere relevante Faktoren – aber auch einfach Glück (84,3 Prozent). Einer Studie des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) aus dem Jahr 2021 zufolge sind 7 von 10 jungen Menschen davon überzeugt, dass die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft „systemisch korrupt“ ist. Im Korruptionsindex von Transparency International für 2021 belegt Bosnien und Herzegowina Platz 110 von 180.

Menschen, die aus Bosnien und Herzegowina geflohen sind oder im Ausland leben, sind Teil der bosnischen Diaspora. Geschätzt sind es zwei Millionen weltweit. Um ihnen auch weiterhin Informationen aus ihrem Heimatland zukommen zu lassen, gibt es zum Beispiel das Online-Portal „Moja BiH“ (deutsch: „Mein Bosnien und Herzegowina“), das von Ema Džananović von der Sarajevoer Tageszeitung „Oslobođenje“ herausgegeben wird. Die Zeitung gilt als antinationalistisch und linksliberal. Ema Džananović sagt: „Auf unserem Portal finden bosnische Bürgerinnen und Bürger in der Diaspora alle Informationen, die sie betreffen – statistische Daten, aktuelle Ereignisse aus unseren Gemeinden, Botschaften, Konsulaten und Erfahrungen unserer erfolgreichen Diaspora-Angehörigen, ihre Lebensgeschichten und Aktivitäten.“

Auf diese Weise möchte „Moja BiH“ erreichen, dass Menschen, die im Ausland leben, ihre Verbindung zu Bosnien und Herzegowina nicht verlieren. Das betrifft neben den älteren Generationen, die vorwiegend Kriegsflüchtlinge sind, auch zunehmend deren Nachfahren und gut ausgebildete junge Menschen, die Bosnien und Herzegowina aufgrund der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verlassen. In der Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung gaben 47,6 Prozent der Befragten als Grund für ihre Auswanderung an, dass sie sich eine Verbesserung ihres Lebensstandards erhofften. In der Umfrage war nur jeder zehnte mit seinem aktuellen Lebensstandard zufrieden. Für 20,8 Prozent waren bessere Beschäftigungschancen, für weitere 16 Prozent höhere Löhne im Ausland ausschlaggebend für ihre Entscheidung. Die Auswanderung wird von vielen jungen Menschen nicht nur als erstrebenswert, sondern als notwendig angesehen. Beliebtestes Zielland der Befragten war mit großem Abstand Deutschland (47,6 Prozent). Neben der geografischen Nähe spielt vor allem die hierzulande große bosnische Diaspora eine Rolle, die einer Erhebung des Ausländerzentralregisters (AZR) zufolge im Jahr 2021 ungefähr 220.000 Personen zählte. Dahinter folgten Österreich (12,5 Prozent), die Schweiz (7 Prozent), Schweden (4,5 Prozent) und die USA (4,1 Prozent).

Die Abwanderung von Fachkräften, oft als „brain drain“ bezeichnet, ist ein großes Problem für Bosnien und Herzegowina. Denn so gehen wertvolles Wissen und Kompetenzen verloren, die dringend im Land benötigt werden. Teilweise profitieren Jugendliche in der Ausbildung zudem von Subventionen des Staates, die sich durch die Abwanderung der jungen Leute – bis auf mögliche spätere Geldsendungen aus dem Ausland – nicht auszahlen. Junge Menschen machen aktuell rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung Bosnien und Herzegowinas aus. Noch – denn laut der Studie des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen denkt jeder Zweite darüber nach, Bosnien und Herzegowina temporär oder für immer zu verlassen. Jedes Jahr setzen rund 23.000 junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren dieses Vorhaben in die Tat um. Dem Bevölkerungsfonds zufolge trifft das insbesondere auf folgende Personengruppen zu: Männer, Personen zwischen 18 und 24 Jahren, Personen mit Sekundarschulbildung, Nichterwerbstätige, Personen, die derzeit eine Teilzeitbeschäftigung ausüben, Alleinstehende oder Geschiedene, Befragte mit doppelter Staatsbürgerschaft, Befragte, die Familie und Freunde im Ausland haben, Befragte, die mit ihrem unmittelbaren Lebensumfeld unzufrieden sind, Befragte, die kein Vertrauen in die öffentlichen Institutionen von Bosnien und Herzegowina haben und Personen, die ein gewisses Interesse an politischem und bürgerschaftlichem Engagement bekunden.

Besonders alarmierend sind die Zahlen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im Gesundheitssektor und in der Informations- und Kommunikationstechnik. Wissen, das auch in vielen EU-Mitgliedstaaten stark nachgefragt wird – bei besseren Arbeitsbedingungen und Zukunftsaussichten. Zwar glaubt Ema Džananović, Herausgeberin des Online-Portals „Moja BiH“, nicht, dass viele junge Menschen nach Bosnien und Herzegowina zurückkehren werden. Sie hofft aber, dass das Netzwerk von „Moja BiH“ dazu beitragen kann, dass die Erfahrungen und Kontakte der Diaspora auch den Fortschritt in dem Westbalkanland unterstützen können. Der Trend des „brain drain“ soll so zu einem der „circulating brains“ werden.

Dieser Beitrag ist im Rahmen der Studienexkursion „Europäische Migrationspolitik im Brennglas“ nach Kroatien und Bosnien und Herzegowina vom 30. Mai bis zum 8. Juni 2022 entstanden. Die Reise wurde vom Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus (EBI) an der Technischen Universität Dortmund organisiert und geleitet. Die Gruppe bestehend aus 14 Studierenden des Instituts für Journalistik (IJ) erhielt eine Förderung durch das PROMOS-Programm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Neben der Teilnahme an zahlreichen Workshops zum Thema Medien und Migration trafen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Journalist:innen, Politiker:innen und Wissenschaftler:innen aus beiden Ländern und besuchten das Flüchtlingslager Lipa an der EU-Außengrenze in Bosnien und Herzegowina. Den Autor haben während der Exkursion besonders die Lage und die Einstellungen junger Menschen in Bosnien und Herzegowina interessiert sowie die Herausforderungen, denen Medien und Nichtregierungsorganisationen gegenüberstehen, die sich für die Jugend im Land einsetzen.

 

Im zweiten Teil seiner Reportage zeigt Richard Brandt, wie die Nichtregierungsorganisation „Youth Initiative for Human Rights“ gegen manipulative Narrative und Hatespeech in Bosnien und Herzegowina vorgeht.

 

Bildquelle: Richard Brandt, 2022

Quellen:

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Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). (2020, 9. Juli). Vor 25 Jahren: Das Massaker von Srebrenica.

International Labour Organization (ILO). (2022, Juni). Unemployment, youth total (% of total labor force ages 15-24) (modeled ILO estimate) – Bosnia and Herzegovina | Data. The World Bank.

International Organization for Migration (IOM) Bosnia and Herzegovina. (o. D.). Labour Migration.

Mappes-Niediek, N. (2017, 5. April). Vor 25 Jahren – Kriegsausbruch in Bosnien-Herzegowina. Deutschlandfunk (DLF).

Mirić, N. (2018, 26. November). Das Dayton-Friedensabkommen in einer Übersicht. Forum für Mittelost- und Südosteuropa (FOMOSO).

Moll, N. (2022, 13. Januar). Bosnien und Herzegowina. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).

Soldo, A., Spahić, L. & Hasić, J. (2021). Survey on Youth Emigration in Bosnia and Herzegovina. United Nations Population Fund (UNFPA) Bosnia and Herzegovina.

Transparency International Deutschland e. V. (o. D.). CPI 2021: Tabellarische Rangliste.

Turčilo, L., Osmić, A., Kapidžić, D., Šadić, S., Žiga, J. & Dudić, A. (2019). Youth Study Bosnia and Herzegovina 2018/2019. Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).

YIHR BiH – Youth Initiative for Human Rights in Bosnia and Herzegovina.

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  1. […] Initiative for Human Rights” (YIHR). It was founded in 2003 in response to the problems facing young people following the conflict in the former Yugoslavia. Almost 30 years after the end of the war, Bosnia […]

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