Media Capture – Medien als Spielball der Interessen

21. Dezember 2022 • Aktuelle Beiträge, Ausbildung, Internationales, Pressefreiheit • von

Kriege, Autoritarismus und hybridisierte Gesellschaften: in global immer komplexer werdenden Konstellationen stellen sich für Medien neue Herausforderungen. Die Rolle der Medien, als „Vierte Gewalt“ Regierende und Mächtige zu kontrollieren, setzt politische und ökonomische Unabhängigkeit voraus, die in der digitalisierten und globalisierten Medienpraxis von vielen Seiten beschränkt wird. Besonders da, wo sich Fronten verhärten, machen sich Akteure mit verschiedenen Interessen die Medien zunutze, um öffentliche Diskurse mitzubestimmen. Stichwort: Media Capture. In diesem Beitrag werden Beispiele aus Fallstudien sowie Nutzen und Grenzen des Konzepts beleuchtet, die im Dezember bei der Konferenz „Captured Media“ an der Universidade Católica Portuguesa in Lissabon diskutiert wurden.

Beschreiben lässt sich dieser Effekt anhand des Beispiels Ungarn. Seit der erneuten Machtübernahme Victor Orbáns und der Fidesz-Partei im Jahr 2010 und seines Propagierens einer „illiberalen Demokratie“ schwinden die Spielräume für unabhängigen Journalismus. Wenn eine Regierung bewusst Berichterstattung beeinflusst, indem sie Medien oder zumindest Anteile an Medienunternehmen aufkauft, den Werbemarkt so reguliert, dass kritische Medien keine Werbeeinnahmen mehr erhalten; wenn unliebsame Stimmen entlassen oder unterdrückt werden und alle großen Fernsehsender dasselbe, regierungsfreundliche Bild zeigen und zudem Plakatwände in den Straßen sowie soziale Medien Staatspropaganda verbreiten, dann spricht man von „Media Capture“. Diese Beispiele nannten die ungarischen Kommunikations- und Medienwissenschaftler Gábor Polyák, Kata Horváth und Attila Bátorfy in ihren Vorträgen bei der Konferenz „Captured Media“, die am 5. und 6. Dezember 2022 in Lissabon stattfand.

Eingeladen vom Forschungszentrum für Kommunikation und Kultur (CECC) der Universidade Católica Portuguesa trafen sich Wissenschaftler:innen aus einem Dutzend Ländern, um das Phänomen „Media Capture“ aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Sie analysierten, wie sich Media Capturunter anderem in Ungarn, der Türkei, dem irakischen Kurdistan, Äthiopien, Brasilien, der Mongolei und in Griechenland äußert und diskutierten die theoretischen Grundlagen des Konzepts. Mitorganisiert wurde die Konferenz vom Projekt ‘The Media System and Journalism Culture in Bulgaria’ der Veliko Tarnovo Universität.

Ein viel zu aktuelles Thema

Das Konzept der Media Capture gewinnt seit einigen Jahren an Popularität, wie Mireya Rámirez-Márquez in ihrem Eröffnungsvortrag betonte. Natürlich ist das Thema der Einflussnahme auf Medien, auch in Bezug auf Pressefreiheit, ein altbekanntes und viel diskutiertes in der Medien-, Kommunikations- und Journalismusforschungs gibt bereits einige Begriffe und Konzepte, die die Einflussnahme vor allem der Politik auf die Medien beleuchten, zum Beispiel Instrumentalisierung, Kontrolle oder politischer Parallelismus.

Warum also braucht es das Konzept Media Capture? Was unterscheidet es von den oben genannten Begriffen? Und warum scheint es den Nerv der Zeit zu treffen? Ein Blick in die Literatur verrät mehr. Der Begriff Capture ist in der politischen Ökonomie bekannt, geprägt unter anderem von George Stigler. Zu den bekanntesten Veröffentlichungen in diesem Themengebiet gehören die Werke von Anya Schiffrin und Alina Mungiu Pippidi, welche wichtige Definitionen liefern. Die Politikwissenschaftlerin Mungiu-Pippidi bezeichnet Media Capture als die Kontrolle von Medien entweder direkt durch die Regierung oder durch mit Politik verknüpften Interessen. Schiffrin beschreibt mit dem Begriff Media Capture den leicht diffusen Eindruck, dass Medien durch eine Mischung aus intransparenten Besitzverhältnissen, übermächtigen Big-Tech-Unternehmen und Interessenverschränkungen von Wirtschaft und Politik in der freien Ausübung ihrer demokratiefördernden Rollen eingeschränkt werden – selbst dort wo Journalist:innen nicht konkret angreift oder verhaftet werden. „Wir verstehen instinktiv, dass dies zu sanfter Zensur und einer Verkleinerung der Öffentlichkeit führt“, so Schiffrin. Durch derartige Kontrolle und Besitzverhältnisse können auch Unternehmer oder Oligarchen die Medien nutzen, um ihrerseits die Politik zu beeinflussen. Michael Nevradakis, der bei der Konferenz in Lissabon die alarmierende Zustände im griechischen Mediensystem erläuterte, beschrieb diese Mechanismen mit Augenzwinkern in seiner Anleitung „How to become a Greek oligarch in seven easy steps“.

Schiffrin betont, dass Capture bereits vor dem Internet eine Rolle spielte – bei der Konferenz illustrierte dies unter anderem Isadora de Ataíde-Fonseca. Sie beschreibt, wie das portugiesisch Regime während der Kolonialzeit Medien benutzte, um die Zugehörigkeit der Kolonien zur „Metropole“ Portugal durch den Eindruck einer geteilten medialen Öffentlichkeit zu stärken, in der die Hoheit über Narrative aber eindeutig bei Portugal lag. Eine historische Form der Capture. Dennoch spiegelt Capture gerade auch Machtausübung und (Aus-)Nutzung der Medien durch andere Akteure wider sowie komplexe und teils globale Dynamiken, mit denen die journalistischen Medien noch nicht so lange kämpfen wie mit der Aushandlung ihres Verhältnisses zu Staat und Politik. Deshalb eignet sich das Konzept besonders gut, um zum Beispiel die Effekte der marktbeherrschenden Social Media-Unternehmen zu untersuchen. Dabei wird auch von „Platform Capture“ geredet.

Ansätze für Media Capture lassen sich nahezu in allen Mediensystem finden, dennoch spielen der Kontext und die Staatsstruktur eine Rolle. Maweabzara hat das Konzept auf afrikanische Realitäten angewandt. Er betont, dass es eng verknüpft ist mit „Big Man-Politics“, die nach der Welle der politischen Liberalisierung in den 90ern heute in einigen afrikanischen Ländern wieder erstarken. Wie auch andernorts fällt Media Capture dort mit Praktiken wie Brown Envelope Journalism oder Per Diems zusammen, die durch Capture begünstigt werden, oder eine Ausdrucksform von Capture auf der Mikroebene darstellen. Er beschreibt wie Politiker beispielsweise in Zimbabwe Journalist:innen auf Twitter zur Rede stellen, wenn sie nicht wie gewünscht repräsentiert oder auf die Titelseite gesetzt worden sind.

Capture auf allen Ebenen?

Vielmals beschäftigt sich die Forschung zu Media Capture zunächst mit der Beziehung zwischen Medien und staatlichen bzw. politischen Akteuren, oder auch wirtschaftlichen Einflussnehmern wie Big-Tech-Konzernen und Oligarchen.

Durch die Beiträge der verschiedenen Forscher:innen an der Konferenz wurde jedoch deutlich, dass noch viele weitere Akteure Einfluss auf die Medien nehmen, darunter auch einige, die auf den ersten Blick nicht zu den „üblichen Verdächtigen“ gehören. Teddy W. Workneh von der Kent State University in den USA richtet die Aufmerksamkeit beispielsweise auf Fact-Checker. Obwohl diese eigentlich zur Qualitätskontrolle in den Medien beitragen sollten, können auch sie in Kontexten, die bereits durch starke Polarisierung, Einschränkungen von Medienfreiheit und Konflikte geprägt sind, zum Teil des Problems werden. So zum Beispiel in Äthiopien: Workneh beschreibt, wie Institutionen sich das Fact-Checking aneignen und es zu einem integralen Teil des Medienökosystems wird – damit ist es auch von dessen Problemen betroffen, inklusive Capture. „Die Fact-Checker haben ihre eigenen imagined comunities gebildet, passend zu ihren politischen Einstellungen“. Dies zeigt sich, wie seine Analyse deutlich macht, zum Beispiel, wenn nur Nachrichten zu bestimmten Themen geprüft, oder nur Falschinformationen von politischen Gegnern entlarvt werden.

Gerade in konfliktgeprägten oder als „in Entwicklung“ geltenden Kontexten spielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Entwicklungsakteure wichtige Rollen für die Medien – als Geldgeber, indem sie Inhalte produzieren oder sogar Medienunternehmen gründen. Da dies oft in komplexen Gefügen aus geopolitisch und finanziell bedingten Hierarchien und Abhängigkeiten geschieht, stellt sich die Frage, inwieweit man auch hier von Media Capture sprechen kann.

Die Grenzen des Konzepts

Anhand dieser Beispiele werden zugleich auch die Grenzen des Konzepts Media Capture deutlich: Wann bringt Media Capture einen Mehrwert, und wann sind bereits bekannte Konzepte wie Instrumentalisierung, Abhängigkeit oder (politischer) Parallelismus präziser? Wann kann man tatsächlich von einem Problem der Capture innerhalb eines Mediensystems sprechen? Denn die Konferenzbeiträge verdeutlichen, dass sich Ansätze von Capture in den verschiedensten Mediensystemen finden lassen, auch in solchen, die als liberal oder demokratisch-korporatistisch gelten. Wenn sich Capture also von Dänemark bis in die Mongolei finden lässt, droht dann eine Verwässerung des Konzepts? „Es geht um den Grad der Capture, um genaue Abstufungen und die Frage, in welche Richtung die Capture passiert, zum Beispiel von oben nach unten oder seitwärts, so Márquez-Ramírez. Außerdem wird durch die Beobachtung, dass Capture auch in Kontexten stattfinden kann, die im Vergleich als eher freiheitlich gelten, eine weitere Tendenz sichtbar: die hin zur Hybridisierung der Mediensysteme. Ein Beispiel: das eigentlich als liberal bekannte Mediensystem der USA zeigt in Phasen der verstärkten Polarisierung, wie beispielsweise während der Präsidentschaft Donald Trumps, einen stärkeren Parallelismus zwischen Medien und den politischen Lagern auf.

Die theoretische Schärfung des Konzepts durch genauere Definitionen, Abgrenzung von anderen Begriffen und die Unterfütterungen mit weiteren empirischen Fallstudien und Vergleichen werden die Forschungen und Publikationen noch weiterhin beschäftigen. Auch im Nachgang der Konferenz sind Veröffentlichungen zum Thema geplant. Jedoch, in den Worten eines Konferenzteilnehmers: „Media Capture zu erforschen mag spannend sein, es zu erleben ist jedoch beunruhigend“.

 

Das Programm der Konferenz sowie Veröffentlichungen und weitere Informationen finden Sie hier: https://capturedmediaconference2022.com/

Bildquelle:

Quellenangaben:

Mabweazara, H. M., Muneri, C. T., & Ndlovu, F. (2020). News “Media Capture”, Relations of Patronage and Clientelist Practices in Sub-Saharan Africa: An Interpretive Qualitative Analysis. Journalism Studies, 21(15), 2154-2175. https://doi.org/10.1080/1461670X.2020.1816489

MintPress News. (2017). How To Become A Greek Oligarch In Seven Easy Steps.

Mungiu-Pippidi, A. (2008). “How Media and Politics Shape Each Other in the New Europe.” In: Karol Jakubowicz and Miklós Sükösd, eds. Finding the Right Place on the Map: Central and Eastern European Media Change in a Global Perspective, Chicago: Intellect, pp. 87–100)

Schiffrin, A. (Ed.). (2021). Media capture: How money, digital platforms, and governments control the news. Columbia University Press.

 

 

 

 

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