Wahrscheinlich hat jeder seine eigene Geschichte, die illustriert, wie das Internet in den letzten Jahren die Welt verändert hat. Meine begann 1994 als Besucher der NZZ-Redaktion. Ein Redakteur wies mich auf einen Raum hin, in dem Endlosdrucker nonstop Agenturmeldungen ausspuckten. Neben den pausenlos aktiven Geräten standen zwei Computer. „Dort kann man das Internet abrufen“, erklärte mir der Redaktor. Ich sah in zwei Tagen nie jemanden, der die Computer benutzt hätte.
Ende der Neunzigerjahre führte Stephen Ross von der Columbia University gemeinsam mit dem PR-Unternehmer Don Middleberg in den USA eine Umfrage durch, um herauszufinden, wie Journalisten das Internet nutzten. Bei einem Treffen mit Stephen Ross in Zürich erklärte er mir, wie das Internet gerade daran sei, das journalistische Handwerk grundlegend zu verändern. Sein Ziel sei es, diese Veränderung mit regelmäßigen Befragungen zu dokumentieren.
Inspiriert von Stephen Ross entschied ich, damals als Mitarbeiter einer PR-Agentur mit einem Lehrauftrag an einer Fachhochschule, in der Schweiz dasselbe zu tun. Wie Ross sah ich das Interesse der PR-Industrie, die neuen Recherchemethoden der Journalisten zu verstehen. Das Ergebnis war die Zusammenarbeit eines Hochschulinstituts (Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW) mit einer auf Online-Kommunikation spezialisierten PR-Agentur: Bernet PR in Zürich. Wir führten unsere erste Umfrage 2002 durch und erhielten Antworten von rund 700 Journalisten. Knapp 80 Prozent davon gaben an, das Internet für ihre Arbeit täglich zu verwenden. Von ihnen wiederum nutzten knapp zwei Drittel das Internet maximal eine Stunde pro Tag.
2005 wiederholten wir die Studie und stellten fest, dass über 90 Prozent der Befragten das Internet mindestens täglich nutzten. Der Anteil der Internet-Abstinenten ging auf gut zwei Prozent zurück. Die weiteren Fragen zeigten, dass das Internet in kurzer Zeit für alle Journalisten-Typen zum zentralen Arbeitsinstrument geworden war. Für unsere nächste Durchführung der Umfrage 2009 beschlossen wir deshalb, die Fragen etwas anzupassen. Es interessierte nicht mehr so sehr, wer das Internet wie oft und wie lange nutzt, sondern vielmehr, wie sich Inhalte aus dem Internet auf die eigene Arbeit auswirkten, und wie Journalisten mit dem zunehmend „sozialen“ Charakter des Internet umgingen.
Die Ergebnisse der Umfrage 2009 dämpften unseren Elan für eine weitere Untersuchung. Wir stellten fest, dass das Internet etabliert war. Die Aussage einer jungen Journalistin brachte es auf den Punkt: „Ich weiß gar nicht, wie man ohne Internet Journalismus gemacht hat.“ Entsprechend nahmen wir an, dass es damit obsolet geworden war zu untersuchen, wie sich die Internet-Nutzung der Schweizer Journalisten weiter verändern würde. Unsere Arbeit schien getan zu sein. In den nächsten Jahren merkten wir allerdings, dass der Umgang von Journalisten mit Social Media individuell sehr unterschiedlich und teilweise überraschend widersprüchlich war. Das veranlasste uns, die Journalisten-Befragungen wieder aufzunehmen. Weiterhin in einer Kooperation des IAM mit Bernet PR passten wir unseren ursprünglichen Fragebogen an die sich immer weiter ausdifferenzierende Social-Media-Realität an, programmierten die entsprechende Online-Umfrage und waren bereit für den flächendeckenden Versand. Doch dann überkamen uns Zweifel. Erstens hörten wir, dass Schweizer Journalisten kürzlich mindestens zwei große Befragungen über sich hatten ergehen lassen müssen. Eine dritte Befragung war eine Zumutung, fanden wir. Und zweitens merkten wir, dass wir eigentlich nicht an Prozentzahlen interessiert waren. Uns war nicht so wichtig, ob 60 oder 80 Prozent der Journalisten beruflich auf Facebook aktiv waren. Vielmehr wollten wir vertieft verstehen, wie Journalisten Social Media nutzten und darüber dachten. Wir suchten Journalisten und Fallbeispiele für den Einsatz von sozialen Medien, die uns ein breites Spektrum an Anwendungen von Social Media im Journalismus zeigten.
Das Resultat ist ein Bericht, basierend auf 18 Portraits mit Journalistinnen und Journalisten in verschiedenen Rollen und von unterschiedlichen Medientypen, von der Online-Kultur-Redakteurin über den USA-Korrespondent von SRF, vom Lokaljournalist der NZZ zum Moderator eines Jugend-TV-Senders. Die 18 Portraits und eine zusammenfassende Interpretation erschienen im Mai 2015 als Buch und E-Book. Der Bericht sucht Antworten entlang der drei Tätigkeitsfelder Recherchieren, Publizieren und Diskutieren mit Social Media. Wie früher bei den quantitativen Befragungen liefert der Bericht zudem basierend auf den gesammelten Eindrücken Empfehlungen einerseits für Journalisten selbst, aber auch für PR-Leute, die mit Journalisten zu tun haben.
So stellten wir fest, dass Journalisten gegenüber Social Media zwar diverse Vorbehalte hatten, aber insgesamt auch zu erkennen beginnen, wie man welche sozialen Medien wofür verwenden kann. So lassen sich neue Quellen finden und erste Kontakte herstellen, oder man kann beispielsweise mit Twitter projektbezogen sehr aktuell über einen laufenden Prozess berichten, und aus den Tweets im Nachhinein ohne großen Aufwand eine Online-Chronik erstellen. Bedingung für den sinnvollen Einsatz von Social Media ist in den Augen der Portraitierten allerdings der systematische Einsatz, das heißt eine gut sortierte Selektion an relevanten Quellen und Kanälen, beziehungsweise die Pflege der für die eigene Arbeit relevanten Community. Auch berichten Journalisten, welche Themen sich für Social Media eignen, und wie der Erzählstil auf diesen Plattformen sein muss, damit der Auftritt mehr als eine Kopie der traditionellen Berichterstattung wird.
Die IAM-Bernet Studie „Journalisten im Web 2015“ führt einerseits die Tradition der „Journalisten im Internet“-Studien fort, sie markiert aber auch den Beginn einer neuen Reihe. Unser Ziel ist es, kontinuierlich zu verfolgen, wie die sozialen Medien den Journalismus in der Schweiz beeinflussen, indem wir jedes Jahr 18 Portraits recherchieren und in einem jährlichen Bericht auswerten.
Das Internet hat in den letzten 20 Jahren den Journalismus auch in der Schweiz fundamental verändert. Wir glauben allerdings, dass diese Veränderung noch alles andere als vorbei ist.
Messerli, Irène / Allemann, Dominik / Keel , Guido (2015): IAM-Bernet Studie Journalisten im Web 2015. Recherchieren, Publizieren, Diskutieren: Ausgewählte Einblicke in den Social-Media-Alltag von Schweizer Journalisten
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Schlagwörter:Guido Keel, Internet, Journalismusforschung, Online-Journalismus, Social Media