Die Zukunft des Leserbriefs 2.0

16. April 2014 • Digitales • von

„Was soll die EU machen? Eine Milliarde Afrikaner aufnehmen? Schuld sind alleine die Flüchtlinge und Schlepper selbst.“ So kommentierte ein Leser auf dem Online-Portal von 20 Minuten einen Bericht über das Flüchtlingsdrama, das sich im Oktober vergangenen Jahres vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa ereignet hatte. Ein aus Libyen kommendes Schiff war nur wenige hundert Meter vor der Küste gekentert, fast 400 Menschen fanden in den Fluten des Mittelmeers den Tod.

Auf vielen Schweizer Nachrichtenportalen waren die Kommentare teilweise so diffamierend, dass unter den Medienschaffenden eine Diskussion über Sinn  und Unsinn von Kommentarspalten entbrannte.

Der Presserat hatte schon im November 2011 in einer Stellungnahme festgehalten, dass Medienunternehmen für sämtliche Inhalte verantwortlich sind, die sie auf ihren Online-Portalen veröffentlichen und dass durch eine redaktionelle Vorabmoderation zu verhindern ist, dass ehrverletzende oder rassistische Kommentare an die Öffentlichkeit gelangen.

Im Januar 2013 stellte dann auch das Bundesgericht in einem Urteil gegen die Tribune de Genève klar, dass Webseitenbetreiber für die von ihren Nutzern publizierten Inhalte verantwortlich sind und bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen jeder belangt werden kann, der daran mitgewirkt hat.

Gerichtsurteile ohne Einfluss auf Redaktionsalltag

Mit Hinblick auf das Gerichtsurteil tun „die Webseitenbetreiber aus rechtlicher Sicht gut daran, die Kommentare vor der Veröffentlichung entweder zu sichten oder dann klare Regeln bezüglich der Beurteilung und dem Entfernen von Kommentaren aufzustellen, um gerichtliche Verfahren zu vermeiden“, sagt der Schweizer Medienanwalt Rolf auf der Maur, der sich auf rechtliche Aspekte des Internets spezialisiert hat

Darauf angesprochen, ob diese Gerichtsurteile Auswirkungen auf die redaktionellen Prozesse im Umgang mit Online-Leserkommentaren haben werden, antwortet Lorenz König, Community Manager bei der NZZ: „Nein, da wir seit jeher die Leserkommentare auf persönlichkeitsverletzende Inhalte prüfen.“ Auch beim News-Portal von Schweizer Radio und Fernsehen SRF haben die Urteile gemäß Alexander Sautter,  Stellvertretender Leiter News Online, „eigentlich keinen Einfluss für unseren Alltag. Wir schauen sowieso genau, was auf unserer Seite passiert und was wir freischalten.“ Für Eva Kamber, Community Redaktorin bei 20 Minuten, haben „die Urteile nur unser Vorgehen bezüglich der Kommentaren bestätigt. Wir planen zwar, die Kontrollprozesse zu verändern. Dies hängt aber weniger mit den Urteilen zusammen, als mit dem enormen Arbeits-, Zeit- und Geldaufwand, den wir in die Bearbeitung dieser Kommentare stecken.“

Selektionskriterien sind online wesentlich niedriger als in Print

Doch wie funktionieren diese Kontrollprozesse überhaupt? Thomas N. Friemel, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Uni Bremen, beschäftigte sich mit dem Thema Online-Leserkommentare in mehreren Studien. Für seine Untersuchung „Online-Leserkommentare bei Tageszeitungen: Wie Redaktionen mit dem ‚Leserbrief 2.0’ umgehen“ führte er eine Befragung bei 150 Online-Redaktionen deutscher Tageszeitungen über die Nutzung der Kommentarfunktion und die redaktionelle Verarbeitung der Userbeiträge durch. Dabei stellte er fest, dass nur knapp die Hälfte der Redaktionen auf die Moderation der Leserbeiträge setzt und Beleidigungen, Spam sowie der fehlende Bezug zum Thema die häufigsten Gründe für die Ablehnung der Userbeiträge sind.

In der Schweiz hingegen werden sowohl bei 20 Minuten als auch bei der NZZ und beim News-Portal von SRF alle Kommentare vor der Veröffentlichung durchgelesen und kontrolliert. Bei 20 Minuten gehen täglich zwischen 4000 und 5000 Kommentare ein. In einem ersten Schritt werden Kommentare, welche nur Satzzeichen oder nur ein Ja/Nein enthalten, automatisch herausgefiltert. Für den zweiten Schritt steht ein Team von 14 freien Mitarbeitern zur Verfügung, die abwechselnd von 6 Uhr morgens bis 24 Uhr durchgehend Kommentare lesen und diese freischalten. Bei der NZZ werden die täglich etwa 170 Kommentare durch den Community-Manager oder die News-Desk-Mitarbeiter zuerst auf der Basis der Netiquette geprüft und anschliessend entweder angenommen oder abgelehnt. Beim News-Portal von SRF wird jeder der durchschnittlich 300 Kommentare pro Tag von einem News-Redaktor geprüft und von Hand freigeschaltet.

Abgelehnt werden Kommentare bei SRF, wenn sie anonym eingereicht werden oder wenn sie unflätige Beschimpfungen oder sonstige Verstöße gegen die Netiquette enthalten. Bei der NZZ sind die häufigsten Gründe für die Ablehnung von Kommentaren die Diskriminierung und Diffamierung anderer Nutzer und sozialer Gruppen. Bei 20Minuten verstoßen die meisten Kommentare, die gelöscht werden, gegen Sitte und Anstand, wenn beispielsweise andere Leser oder in den Artikeln erwähnte Personen beleidigend angegangen werden. In seiner Studie kommt Thomas N. Friemel zudem zum Schluss, dass die Selektionskriterien der Journalisten im Internet wesentlich niedriger seien als in der Printausgabe und insgesamt 88 Prozent der Onlinekommentare auch publiziert werden, was deutlich höher sei als beim klassischen Leserbrief. SRF führt keine Statistik über die Freischaltquote, schaltet aber gemäß Alexander Sautter „mehrheitlich frei“. Bei der NZZ beträgt die Freischaltquote durchschnittlich 90 Prozent und bei 20Minuten wurden vom 1.Januar bis 19. Dezember 2013 58 Prozent der eingegangen Kommentare freigeschaltet.

Design begünstigt Rassismus und Zynismus

Welche Möglichkeiten gäbe es nun, die Kommentarfunktion und die Kontrollprozesse zu verbessern, um damit auf den News-Plattformen ein besseres Gesprächsklima zu gewährleisten? Die Forscher Niku Dorostkar und Alexander Preisinger des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien haben in ihrer Studie „CDA 2.0 – Leserkommentarforen aus kritisch-diskursanalytischer Perspektive – Eine explorative Studie am Beispiel der Online-Zeitung der Standard.at“ Leserkommentar-Threads analysiert, die im Frühling 2009 zu zwei Artikeln zum Thema Bildung und Migration veröffentlicht wurden.

Die insgesamt 285 Leserkommentare zu den beiden Artikeln wurden im Hinblick darauf untersucht, ob und inwiefern Online-Zeitungsforen eher deliberativen, zum öffentlichen Diskurs über politische Themen beitragenden, oder rassistischen Sprachgebrauch enthalten und ob der Inhalt der Beiträge durch Design-Parameter wie Textlänge, Antwortmöglichkeiten und Zusatzfunktionen beeinflusst wird.

Das Forscherteam kam zum interessanten Schluss, dass das Design der Foren Elemente enthält, welche Rassismus und Zynismus begünstigen: Dazu gehören Anonymität (die User müssen sich bei Standard.at zwar mit der E-Mailadresse und ihren Namen registrieren, können jedoch unter einem Nickname posten) sowie ein niedriges Limit von 750 Zeichen. Für den Medienwissenschaftler Thomas N. Friemel ist insbesondere das Argument der niedrigen Zeichenlimits plausibel: „Es ist natürlich einfacher, eine plakative Argumentation in wenigen Zeichen zu verfassen. Für eine differenzierte Argumentation braucht es mehr Platz, aber auch mehr Motivation.“

Leser wünschen Dialog mit den Journalisten

Die österreichischen Forscher nennen im Anschluss an die Forschungsergebnisse auch konkrete Veränderungsvorschläge: So könnte es gemäß den Forschern positive Auswirkungen haben, wenn sich Journalisten verstärkt in den Foren zu Wort melden würden. Dass dies auch ein Wunsch der Leser ist, hat der Medienwissenschaftler Thomas N. Friemel in einer noch unveröffentlichten Befragung von 4000 Usern der News-Portale von NZZ, 20 Minuten, Blick und Newsnet festgestellt. „Sie haben in der Befragung klar gesagt, dass sie sich eine vermehrte Teilnahme der Journalisten wünschen würden und sie gerne einen Dialog mit den Journalisten führen möchten.“

Diese Idee fällt auch bei den Verantwortlichenin der Praxis auf fruchtbaren Boden. Die NZZ-Journalisten melden sich bereits auf Leserkommentare zu Wort. „In erster Linie geht es uns darum, den Lesern zu signalisieren, dass wir uns für ihre Meinungen und Erfahrungen interessieren und sie ernst nehmen“, sagt Lorenz König von der NZZ. Alexander Sautter von SRF sagt dazu: „Wir haben gemerkt, dass es sich grundsätzlich lohnt, wenn man reagiert. Wir machen das aber noch nicht so oft, wie wir es könnten. Wenn sich Journalisten verstärkt in den Foren zu Wort melden, tut das glaube ich nicht nur dem Forum gut, sondern auch den Journalisten.“

Die Leser von 20Minuten.ch schätzen laut der Community-Redaktorin Eva Kamber den ‚persönlichen’ Kontakt zu den Redakteuren. „Leider antworten die Journalisten bisher nur selten auf die Leserkommentare. Das ist jedoch etwas, das wir vermehrt umsetzen möchten.“

User-Profile führen zu verbessertem Kommentierverhalten

Die Forscher der Universität Wien schlagen zudem vor, die Social-Media-Features bei den Kommentarfunktionen durch Profilfotos der User, zusätzliche User-Informationen und eine individuell gestaltbare Profilseite auszubauen. Dies könnte „wesentlich dazu beitragen, stabile individuelle Internetpräsenzen zu schaffen, die im öffentlichen Diskurs ernst genommen werden und für Qualität bürgen wollen“.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Thomas N. Friemel in seiner Studie „Online-Leserkommentare: Zwischen Anschlusskommunikation und Leserbrief“, in der er den Inhalt von insgesamt 91 Artikeln mit 779 dazugehörenden Kommentaren der Süddeutschen Zeitung und der Augsburger Allgemeinen verglich. Süddeutsche.de verfügte über eine reine Kommentarfunktion, das Online-Angebot der Augsburger Allgemeinen war stark in Richtung Community-Plattform ausgebaut. Bei der Augsburger Allgemeinen konnten die Nutzer Profile mit Fotos, Hobbys, etc. anlegen, die für die anderen Nutzer sichtbar waren.  Zudem war es möglich, sich alle Kommentare, die ein Nutzer verfasst hatte, anzusehen.

Friemel stellte in seiner Analyse fest, dass es bezüglich des Tonfalls der Kommentare deutliche Unterschiede gab. Auf Seiten mit einer reinen Kommentarfunktion wurden Beleidigungen oder Angriffe auf andere Kommentatoren deutlich häufiger festgestellt. Die Inhalte auf der Community-Plattform waren hingegen nicht nur weniger aggressiv, sondern auch selbstkritischer und auf die Pflege der sozialen Identität bedacht.

Auch Alexander Sautter von SRF ist der Meinung, dass „der Ausbau von Social-Media-Features wie Nutzer-Fotos durchaus erstrebenswert ist“. Bei 20 Minuten ist laut Eva Kamber zwar noch nichts definitiv geplant, es werden jedoch verschiedene Möglichkeiten zum Ausbau der Social-Media-Features diskutiert: „Der User wird sich in Zukunft vermutlich einloggen müssen, dafür wird er die Möglichkeit erhalten, ein komplettes Profil von sich zu erstellen. Es wird in irgendeiner Weise möglich sein, seine Vorlieben und Interessen anzugeben. Ebenfalls wird in diesem Profil ersichtlich sein, welche Kommentare ein Leser bisher abgegeben hat und wie die anderen User diese Kommentare bewertet haben.“

Vorreiter hinsichtlich Social-Media-Features ist die NZZ. Um Kommentare abzugeben, ist es seit kurzem nur noch möglich, sich über Disqus zu registrieren, einem Online-Dienst, der eine zentralisierte Diskussions-Plattform für Websites anbietet. Disqus ermöglicht es den Usern, ein Profil mit Bild, Wohnort und Kurzbiografie zu erstellen. Zudem können alle Kommentare des Users angesehen und es kann anderen Kommentaren gefolgt werden. Nun gilt es abzuwarten, zu welchen Veränderungen die grundsätzliche Offenheit der News-Portale gegenüber den Vorschlägen aus der Medienwissenschaft führen wird und ob damit langfristig ein angenehmeres Diskussionsklima auf den News-Plattformen geschaffen werden kann.

Bildquelle: geralt / pixabay.de

 

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