Mit Fact-Checking gegen postfaktische Zeiten

22. Dezember 2016 • Digitales, Internationales, Qualität & Ethik • von

In ganz Europa wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche politische Fact-Checking-Projekte gegründet, die einer postfaktischen Gesellschaft entgegenwirken sollen. Ein neuer Bericht des Reuters Institute for the Study of Journalism analysiert die Organisation und Arbeitsweise der Faktenchecker.

fact-checkingEine unabhängige Kontrolle von Fakten könne dazu beitragen, Fehlinformationen im öffentlichen Leben zu bekämpfen, so Lucas Graves und Federica Cherubini, die Autoren des Berichts „The Rise of Fact-Checking Sites in Europe“. Voraussetzung dafür sei, dass die Faktenchecker eine Finanzierung für ihre Aktivitäten finden, entweder indem sie sich etablierten Medien anschließen („Newsroom-Modell“) oder eine Nichtregierungsorganisation gründen („NGO-Modell“). Während des diesjährigen Wahlkampfs in den USA sei politisches Fact-Checking unausweichlich gewesen, betonen Graves und Cherubini. Vor allem die Kampagne Donald Trumps habe die Wahrheit unablässig und auf eine empörende Art und Weise verzerrt. Auch das Brexit-Referendum habe vor allem in Medien- und Politik-Kreisen die Angst vor einem „postfaktischen“ oder „wahrheitsunabhängigen“ („post-truth“) Zeitalter verstärkt, so die beiden Autoren.

Wie es in dem Bericht heißt, wurden die ersten politischen Fact-Checking-Projekte Anfang des neuen Jahrtausends in den USA gegründet. 2001 wurde von drei College-Absolventen die Website Spinsanity ins Leben gerufen, 2003 folgte die Seite FactCheck.org, die noch heute aktiv ist. Sie ist an der Universität Pennsylvania angesiedelt, wo sie von Journalisten betrieben wird. Inzwischen gibt es weltweit 113 Fact-Checking-Angebote in mehr als 50 Ländern, heißt es in dem Bericht, der sich auf Zahlen aus der Datenbank des Duke Reporters‘ Lab an der Duke University in Durham/USA beruft.

Das erste Fact-Checking-Projekt in Europa wurde laut Graves und Cherubini 2005 vom britischen Channel 4 gestartet – es handelte sich um einen Blog, der die Berichterstattung über die Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich prüfte. 2008 gingen in Frankreich und in den Niederlanden ähnliche Seiten an den Start. Insgesamt wurden in Europa im vergangenen Jahrzehnt mehr als 50 Fact-Checking-Projekte gelauncht, wobei etwa ein Drittel von ihnen den Betrieb wieder eingestellt hat. Heute gibt es dem Bericht zufolge 34 politische Fact-Checking-Angebote in 20 europäischen Ländern, unter anderem in Skandinavien, in Zentraleuropa, im Balkan und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

screen-shot-2016-11-30-at-09-13-48Für den Bericht wurden mit mehr als 40 Mitarbeitern von Fact-Checking-Projekten aus acht unterschiedlichen europäischen Ländern Interviews geführt und Mitwirkende von 30 Projekten in einer Online-Umfrage befragt. Die Faktencheck-Unternehmungen wurden daraufhin in zwei Modelle unterteilt: in das „Newsroom-Modell“, bei dem die Faktenchecker in eine bestehende Redaktion integriert sind, und das „NGO-Modell“, bei dem sie als Nichtregierungsorganisation unabhängig von einer Redaktion arbeiten.

Wie die Recherchen von Graves und Cherubini ergaben, dominiert in Westeuropa das Newsroom-Modell. Vor allem in Frankreich gibt es eine Vielzahl an Fact-Checking-Angeboten, die traditionellen Medien angegliedert sind. Als erste und immer noch bekannteste Faktenchecker in Frankreich werden Désintox der Tageszeitung Libération (Start 2008) und Les Décodeurs der Tageszeitung Le Monde (Start 2009) aufgeführt. Auch FranceInfo, Europe1 und France24 haben Faktenchecks im Programm. Daneben würden ad hoc-Faktenchecks im französischen Journalismus immer populärer, heißt es in dem Bericht des Reuters Institute.

Ein ähnlicher Trend sei im Vereinigten Königreich zu beobachten. Channel 4 News führte 2010 seinen FactCheck als permanentes Feature ein und der Guardian veröffentlicht seinen Reality Check-Blog mehr oder weniger regelmäßig seit 2011. Auch die BBC hat mit dem Format experimentiert und im Vorfeld des Brexit-Referendums einen Fact-Checking-Blog gestartet.

In Deutschland gehörte laut Graves und Cherubini der Spiegel zu den Vorreitern. Er führte 2012 seinen Münchhausen-Check ein. Die Zeit folgte mit Faktomat und das ZDF mit dem ZDFcheck. Zwar sei keines der drei Projekte zurzeit aktiv, ad-hoc-Fact-Checking habe sich bei deutschen Medien aber etabliert.

Faktenchecker, die für bestehende Medien arbeiten, erreichten deutlich mehr Nutzer als unabhängige, so eines der Ergebnisse des Berichts. Dies gelte vor allem für jene, die erfolgreichen TV-Sendern angehören. So erreichten zum Beispiel die Faktenchecks der politischen Sendung „El Objetivo con Ana Pastor“ des spanischen TV-Senders La Sexta jeden Sonntag zwischen 1,5 und 2 Millionen Zuschauer. Auch die Online-Angebote der mit etablierten Medien verknüpften Faktenchecker zögen viele Nutzer an. So sei ein Video von Channel 4 News, das Behauptungen bezüglich des Brexit widerlegte, fast drei Millionen Mal aufgerufen worden. Zudem könnten Faktenchecker, die etablierten Medien angehören, auf die redaktionellen Ressourcen und die Infrastruktur eines größeren Nachrichtenunternehmens zurückgreifen, was ein großer Vorteil sei.

Die Mehrheit der Fact-Checking-Projekte in Europa aber gehört nicht zu etablierten Medien. Vor allem in Osteuropa seien unabhängige und in NGOs eingebettete Faktenchecker die Norm, aber auch zum Beispiel in Großbritannien oder Italien gebe es einige. Zwar kooperierten sie auch oft mit Medienunternehmen, könnten aber als NGO weder auf die redaktionellen Ressourcen noch auf bestehendes Publikum. Dafür seien sie frei von redaktionellen und wirtschaftlichen Zwängen der etablierten Medien.

Als Beispiele für Faktencheck-Angebote von NGOs nennen die Autoren Istinomer (‚Wahrheitsbarometer‘) in Serbien und seine Schwesterseiten in anderen Ländern des Balkans vom Center for Research, Transparency and Accountability (CRTA), FactCheck Georgia von Georgia’s Reforms Associates (GRASS), VoxCheck von VoxUkraine, einer NGO, die wirtschaftliche Reformen vorantreiben möchte und  FactCheck Ukraine vom Ukrainian Team of Reformers.

Zudem wurde in der Ukraine als Antwort auf die russische Besetzung der Krim 2014 noch ein weiteres Fact-Checking-Projekt gestartet: StopFake, das an der Kyiv Mohyla School of Journalism angesiedelt ist und auf Initiative von Studierenden und Mitarbeitern der Journalistenschule gegründet wurde. Seit Oktober 2016 gibt es die Seite auch auf Deutsch. Das tschechische Fact-Checking-Projekt Demagog wurde ebenfalls an einer Universität gegründet und zwar von Politik-Studierenden der Masaryk-Universität in Brünn. In der Slowakei und in Polen entstanden Schwesterseiten.

Andere Fact-Checking-Projekte wiederum seien komplett unabhängig bzw. ihre Macher gründeten speziell für sie eine NGO, wie zum Beispiel für die britische Seite Full Fact, deren Kuratorium aus Journalisten und Mitgliedern der größten politischen Parteien des Vereinigten Königreichs besteht. In der Türkei starteten Doktoranden und Absolventen der Politikwissenschaft nach den Gezi-Park-Protesten 2014  die Fact-Checking-Seite Dogruluk Payi und gründeten dafür die Dach-NGO „Dialogue for a Common Future Association“.

Wie die Faktenchecker in Europa ihre Rolle selbst wahrnehmen, sei sehr unterschiedlich, so das Autorenteam. Einige verstehen sich als Journalisten, andere als Aktivisten oder Experten, und einige sehen sich in mehreren Rollen. Der Großteil der befragten Faktenchecker – knapp drei Viertel – versteht sich als Journalisten. Von ihnen gab ein Drittel als wichtigste Aufgabe an, die Bevölkerung mit Informationen zu versorgen. Ein Viertel übt die Arbeit aus, weil sie Politiker zur Verantwortung ziehen möchten.

40 Prozent der Befragten verstehen sich als Aktivisten, die Fact-Checking als Teil der Agenda betrachten, die für eine politische Reform nötig ist. Diese Fact-Checking-Projekte würden ihre Tätigkeit oft mit anderen Aktivitäten verknüpfen. 43 Prozent von ihnen gaben als Hauptziel an, Politiker zur Verantwortung zu ziehen oder die Qualität des öffentlichen Diskurses zu verbessern.

Einige der analysierten Fact-Checking-Projekte vermeiden es, unter dem Label Aktivismus oder Journalismus zu agieren, heißt es in dem Bericht. 40 Prozent der Befragten sehen sich eher als Politikexperten und als Think Tank und weniger als Journalisten oder Aktivisten und wurden von Graves und Cherubini unter der Gruppe  „Experten“ zusammengefasst. Ein Beispiel für ein Fact-Checking-Projekt, das der „Experten“-Gruppe zugeordnet werden kann, ist die italienische Website Pagella Politica, deren Gründer aus der Politik und Forschung stammen.

Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Selbstwahrnehmung der Faktenchecker davon beeinflusst wird, wie sie das existierende politische System und Mediensystem ihres Landes wahrnehmen. Dementsprechend unterscheide sich die Situation in den nordischen Ländern mit relativ widerstandsfähigen Nachrichtenmedien und einem vergleichsweise höheren Vertrauen in politische Institutionen von der im Balkan mit schwächeren und weniger unabhängigen Medien und einer problematischeren politischen Situation.

Während es zwar Unterschiede darin gibt, wie die Fact-Checing-Seiten arbeiten, sich finanzieren und ihre Erkenntnisse kommunizieren, haben sie eines gemeinsam, so die Schlussfolgerung der Autoren: Sie gehören einer breiteren internationalen Bewegung an. Die unabhängigen Faktenchecker können, so Graves und Cherubini, als neue und wachsende demokratische Institution in Europa angesehen werden, die ein gemeinsames Ziel haben: die Wahrheit im öffentlichen Diskurs zu fördern.

Zum Bericht „The Rise of Fact-Checking Sites in Europe“ des Reuters Institute for the Study of Journalism geht es hier.

Bildquelle: Rowena Waack / Flickr CC; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

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