Es begann mit lokalen Aktionen: im September 2011 nahmen Menschengruppen die New Yorker Wall Street in Beschlag und beanspruchten den öffentlichen Raum für sich. Dank der beeindruckenden Bilder, welche die Occupy-Wallstreet-Bewegung produzierte, wurden ihre regional begrenzten Aktivitäten an vielen Orten Europas innerhalb kürzester Zeit adaptiert, imitiert und weiterentwickelt.
In den Mainstream-Medien waren die Bewegungen anfangs größtenteils unsichtbar, die Welt lernte sie über Twitter, Facebook und andere soziale Netzwerke kennen. Die Verbreitung der eigenen Botschaften war zunächst dem Mangel an anderen Medienkontakten geschuldet und damit ein ganz pragmatischer Ansatz, wurde aber später Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber den Massenmedien. Denn diese – so die Argumentation – ignorierten die 99 Prozent der Bürger in der Gesellschaft, die laut Occupy viel zu selten zu Wort kamen.
Ein Forschungsteam der Södertörn Universität in Stockholm beleuchtet im Projekt Narratives of Europe die Medien- und Kommunikationsstrategie von Occupy, mit einem Fokus auf Schweden und Lettland. Hauptziel des Projekts ist es, die historische Entwicklung medialer Inszenierung von politischen Strömungen zu analysieren. Im Vergleich mit früheren Protestströmungen ist Occupy vor allem hinsichtlich der Möglichkeiten bürgerlicher Beteiligung via sozialer Netzwerke interessant.
Die Leiterin der Projekt-Untergruppe Uprisings in Europe: European Narratives of Crisis-Related Protest Movements Anne Kaun gibt im Folgenden Einblick in ihre Untersuchung.
In den vergangenen Jahren entstanden viele neue Protestbewegungen, verteilt über den ganzen Kontinent. Die Indignados und UK uncut sind nur zwei Beispiele unter vielen für Proteste, die eine generelle Unzufriedenheit mit bisherigen politischen Konzepten wiederspiegeln und eine gewisse Frustration über die Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie ausdrücken. Diesen Geist haben die Gruppen gemeinsam – auch wenn jede einzelne einen eigenen Fokus, etwa auch auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene setzt. Allerdings ist keine der anderen jungen Bewegungen so beliebt und bekannt wie Occupy, das sich wohl jüngst zu einer der bemerkenswertesten grenzübergreifenden Bewegungen entwickelt hat.
Occupy hinterfragte all jene Zustände, die innerhalb einer Gesellschaft sichtbar und hörbar existieren und griff die Wünsche und Anregungen der Bürger auf, um sie an die Politik heranzutragen. Die Aktivisten zielten also darauf ab, die politische Agenda zu verändern. Dabei fällt nicht nur ihre Forderung nach sozialem Wandel und ihr Bekenntnis zu politischem Aktivismus auf, am Beispiel von Occupy zeigt sich auch, welche Macht hinter Kommunikation steckt und wie sie verteilt wird.
Der auf Kommunikation spezialisierte spanische Sozialwissenschaftler Manuel Castells ist der Auffassung, dass Macht in der heutigen webgestützten Netzwerk-Gesellschaft vor allem derjenige ausübt, welcher der Allgemeinheit die Relevanz der eigenen Sache erfolgreich suggerieren kann, etwa in sozialen Netzwerken und anderen Online-Plattformen.
Unser Forschungsteam untersucht unter anderem, wie verschiedene Occupy-Gruppen mittels bestimmter Medienstrategien versuchen, eine gewisse Kommunikationsmacht aufzubauen. Teil der Untersuchung ist auch eine Analyse darüber, wie traditionelle Medien über die neuen Bewegungen berichten.
Da Occupy weltweit Fuß fasste, scheint dabei auch folgender Aspekt interessant: Was passiert, wenn lokale Aktionsgruppen und ihr Engagement sich ausbreiten und dabei Orte erreichen, an denen andere politische Rahmenbedingungen herrschen und die vom sonstigen globalen Geschehen sowie der Weltöffentlichkeit weitestgehend unbeachtet sind? Um dieser Frage nachzugehen, wurde der Fokus der empirischen Arbeit weg von den Zentren der Occupy-Bewegung in Spanien und Großbritannien, hinein in die Peripherie Europas verlegt, nach Schweden und Lettland.
Lettland hatte nie eine Occupy-Bewegung, die direkt mit der Mutterströmung aus den USA verbandelt war oder sich auf diese bezogen hatte. Dennoch formierte sich bereits im Herbst 2009 eine Gruppe, die in vergleichbarer Weise vorging. Etwa 20 Aktivisten zelteten vor dem Ministerial-Kabinett, dem Hauptschauplatz lettischer Regierungsgeschäfte. Die Besetzer blieben bis zum Sommer 2010 und artikulierten ein breites Spektrum an Forderungen an die Regierung. Zwei der Kernthemen waren Beschäftigung und die Austeritätspolitik – also die Einführung einiger Sparmaßnahmen, welche die Regierung kurz zuvor angesetzt hatte. Da die Protestierenden nicht an eine international vernetzte Gruppierung angedockt waren, blieb die Aufmerksamkeit der internationalen, aber auch der nationalen Medienöffentlichkeit gering.
In Lettland gab es auch davor schon einige auf die Krise bezogenen Proteste. Am 13. Januar 2009 geriet eine Demonstration gegen Sparmaßnahmen der Regierung zu einer gewalttätigen Ausschreitung. Zu dieser Zeit der Mobilisierung versuchten einige Aktivisten die Politiker daran zu hindern, in das Parlamentsgebäude zu gelangen, indem sie davor kampierten. Nach der Machtübergabe der Mitte-Rechts-Regierung im Februar 2009 verschwand der Protest schnell wieder aus dem öffentlichen Raum. Neben diesen direkten Aktionen existieren in Lettland lose, online organisierte Netzwerke, die unter dem Occupy-Label firmieren. Sie diskutieren über ökonomische Konzepte für ihre Gesellschaft, über politische Alternativen und eine demokratische Gesellschaftsorganisation.
Im Gegensatz zu dieser eher gesichts- und körperlosen Organisation des Protests gab es in Schweden zwischen Oktober 2011 und April 2012 Besetzungen öffentlicher Plätze, die sich ganz offensichtlich auf die weltweite Occupy-Bewegung bezogen und sich Occupy Stockholm nannten. Anfangs war die Gruppe sehr groß, sodass sie sich in verschiedene Sektionen unterteilte. Einige Aktivisten kümmerten sich um Organisatorisches, sie planten etwa Demonstrationen, während andere Engagierte Studienkreise bildeten, wo unter anderem wirtschaftswissenschaftliche Debatten geführt und Ideen weiter entwickelt wurden.
Eine der größten Gruppen war die Mediengruppe, die in kleinere Untergruppen aufgeteilt war, die sich jeweils um einen Kommunikationskanal wie etwa Facebook, Twitter, Youtube, gedruckte Poster oder um Grafiken kümmerten. Ihre Medienstrategie umfasste auch SMS-Gruppen, die hauptsächlich dazu genutzt wurden, Treffen zu organisieren, Assambleas (so nennen sich die Hauptversammlungen einer jeden Occupy-Gruppe) einzuberufen oder Unterstützung anzufordern, wenn ein Camp von der Polizei geräumt werden sollte.
Für größere Demonstrationen und sonstige Events nutzte Occupy Stockholm Facebook als Hauptplattform zur Mobilisierung. Welche Identität sich die Gruppe nach außen hin zu geben vermochte, hing stark von ihrer eigenen medialen Kommunikation ab, die zumeist über Online-Medien lief. Es zeigte sich immer wieder, dass Occupy Stockholm ein ausgeklügeltes System hatte, ihre Kommunikation gegenüber den traditionellen Medien zu organisieren, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Mitglieder der Mediengruppe wurden etwa von professionellen Journalisten trainiert, wie sie Presseerklärungen aufbauen und formulieren sollten, damit diese in den Medien aufgegriffen würden. Sie entwickelten außerdem das, was sich viele Medienmacher schon lange von Occupy gewünscht hatten: Eine Liste mit klaren Statements und politischen Forderungen, welche die Inhalte der Strömung greifbarer machen sollte. Dennoch gaben die Mainstream-Medien der neuen Protestströmung kaum eine Plattform, das anfängliche Interesse legte sich schnell wieder.
In Lettland versuchten die Aktivisten, sich auf Facebook und auf Blogs gegenüber den Mainstream-Medien zu positionieren und deren Darstellungen und Erzählperspektiven zu hinterfragen und teils zu kontern. Denn die traditionellen Medien portraitierten Occupy teils als wenig ernstzunehmende, eher erfolglose Bewegung. Die lettischen Medienaktivisten setzten es sich deshalb zum Ziel, ein anderes Bild von Occupy zu zeichnen und lenkten die Diskussion eher auf Demokratie-Defizite, Politik und ökonomische Gegebenheiten in Lettland.
Die Strategien der Aktivisten in Schweden und Lettland waren trotz allen Engagements nur in gewissem Maße erfolgreich – wenn man ihren Erfolg daran misst, inwiefern die traditionellen Medien und die breite Öffentlichkeit auf sie reagierten und die Ideen der Strömung aufnahmen. Die großen Zeitungen in beiden Nationen zeichneten jeweils ein sehr ähnliches Bild von der Bewegung: Neben der Tatsache, dass sie eine relativ kleine Anzahl an Artikeln über das Engagement der Aktivisten publizierten, zeigt eine Analyse der Berichte auch: Die Medien – in diesem Fall die schwedischen Zeitungen Aftonbladet, Expressen, Svenska Daglbadet Dagens Nyheter und die lettischen Zeitungen Diena Neatkariga Rita Avize, Latvijas Avize, Chas und Vesti – redeten die Bewegung und auch die Probleme, die sie ansprach, eher klein. Dies galt sowohl für die weltweit beachtete Occupy Wallstreet-Gruppe als auch für die lokalen Ableger.
Die Artikel der schwedischen Medien sympathisierten zwar meist mit den Besetzungen, allerdings lautete der Tenor der Autoren, dass die ökonomische Situation in Schweden wohl kaum mit den wirtschaftlichen Problemen vieler anderer Länder vergleichbar sei. So diskreditierten sie die Aktionen von Occupy Stockholm indirekt als eher spielerische Events denn als ernstzunehmenden politischen Protest. Die lettischen Publikationen negierten den Einfluss und die Möglichkeiten der Occupy-Bewegung, mit ihrem Protest etwas an der nationalen Lage und den ökonomischen Härten im Land zu verändern, von vorne herein. Keiner der Artikel diskutierte auch nur kleinste Zusammenhänge zwischen globalen Protestformen, den Aktivisten-Gruppen innerhalb Lettlands und der sozialen Lage im Land.
In beiden Fällen fällt auch auf, wie selten die basisdemokratischen Arbeits-, Kommunikations- und Abstimmungsformen der Occupy-Aktivisten geschildert und gewürdigt wurden. Damit ignorierten die Medien schlichtweg die zentralen Bemühungen der Strömung, namentlich neue Abstimmungswerkzeuge und Entscheidungswege zu finden. Occupy als Idee beinhaltet dezentralisierte und nicht hierarchisch geordnete Entscheidungsfindung. Diesen Grundgedanken, den die Aktivisten immer wieder als ihr wichtigstes Fundament beschrieben, griffen die schwedischen und die lettischen Medien kaum auf und falls doch, spielten sie dessen Wert herunter.
Es ist keineswegs klar, ob die geringe Medienöffentlichkeit der Hauptgrund dafür war, dass die Bewegung relativ schnell an Kraft verlor. Seine beeindruckendsten Aktionen erreichte Occupy erwartungsgemäß nicht in der Peripherie, sondern in den großen Städten Zentral- und Südeuropas. Doch selbst dort veränderte sich der Aktivismus in der Zeit zwischen dem ersten öffentlichen Auftritt und den ersten Räumungen von Occupy-Camps erheblich. Denn auch in den Metropol-Regionen reichte die Mobilisierung nicht aus, um langanhaltenden, breiten Protest zu zeigen. An einigen Orten verschwand Occupy, an anderen Orten veränderte die Bewegung ihre Selbstorganisation und startete neue Initiativen. Nur ein Beispiel: Nach der Räumung des Camps in der Bankenmetropole Frankfurt am Main im August 2012 startete eine kleinere Gruppe von Aktivisten die so genannte Occupy-Geld-Gruppe, die über die bisherige Geldschöpfung und das Marktsystem diskutierten und aus diesen Diskussionen heraus gezielte Aktionen mit Fokus auf Banken entwickelten.
Dass sich solche Gruppen bildeten, auch wenn die Hauptbewegung sich teilweise auflöste oder aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurde, zeigt einerseits die Vitalität und Flexibilität von Occupy. Andererseits mag der mangelnde mediale Erfolg weltweit doch einer der Gründe dafür sein, dass Occupy die so genannten 99 Prozent nicht mobilisieren konnte, die es eigentlich ansprechen wollte. So blieb es eher bei der politischen Arbeit im Kleinen, die gesellschaftliche Agenda konnten die Aktivisten damit nicht verändern. Diese Beschränktheit zeigte sich in Schweden und Lettland ganz besonders deutlich.
Während des Sommers 2012 und vor allem im Herbst wurde die Occupy Stockholm-Gruppe immer kleiner und die eigentliche Besetzung öffentlicher Plätze endete. Dennoch blieb eine Kerngruppe von etwa fünf Aktivisten bis Oktober 2012 in regem Kontakt und hielt regelmäßig eine Asamblea ab. Dann entschieden sich, die Aktivitäten von Occupy Stockholm auf unbestimmte Zeit ruhen zu lassen. Bisher gab es noch keine neuen Pläne, die Bewegung wiederzubeleben.
In Lettland könnte auch der Name „Occupy“ schuld daran gewesen sein, dass die Protestbewegung in der Bevölkerung auf keine große Resonanz stieß. Da Lettland in der Vergangenheit zunächst unter deutscher und später unter russischer Besatzung gelitten hatte, könnte der Begriff sowohl auf die gesamte lettische Gesellschaft als auch speziell auf potenzielle Aktivisten abschreckend gewirkt haben, wie Pickerill und Krinsky in einer Untersuchung 2012 feststellten. Denn das Land kämpft immer noch damit, diese Altlast aufzuarbeiten. In diesem Sinne drang die zentrale Botschaft der Occupy-Bewegung nicht durch: Alte Muster zu durchbrechen und die wirtschaftlichen Zwänge, die vielen Menschen von der heimischen und ausländischen Regierungen von außen aufgezwungen wurden, abzuschütteln.
Was hätte eine breite Diskussion in den traditionellen Medien daran ändern können? Das bleibt offen, denn die Studie über Occupy in Schweden und Lettland sowie über die Reaktionen der Zeitungen bildet ein eher typisches Muster ab, wie traditionelle Medien soziale Bewegungen mit radikalen Änderungszielen herunterspielen und ihnen bewusst jede Plattform verweigern. Was kommunikativen Einfluss und mediale Macht anbelangt, konnten Occupy Stockholm und Occupy Lettland kein Fundament aufbauen. Die Grundidee der Strömung, welche auf die Prinzipien der dezentralisierten, hierarchie- und autoritätslosen Organisation abstellte und radikale demokratische Partizipation einforderte, konnte in den öffentlichen Diskussionen innerhalb der beiden Länder nicht Fuß fassen. Damit verfehlte Occupy in der europäischen Peripherie exakt das, was die Bewegung in Amerika zu ihrem Markenkern erklärt hatte.
Dennoch ist Occupy ein interessantes Fallbeispiel dafür, welche Erzählformen sozialer Protest austestet, welcher Kommunikationskanäle er sich dabei bedient und wie erfolgreich er damit jeweils ist. In jeder Phase politischer Mobilisierung spielt die mediale Inszenierung des Protests eine wichtige Rolle, so auch bei der großen Depression 1929, bei der Ölkrise 1972/1973 und bei der Finanzkrise 2008. Ziel unseres Projekts ist ein Überblick, der zeigt, wie spezifische Medien jeweils zur politischen Mobilisierung eingesetzt worden sind und welche Rolle jeweils aufkommende neue Technologien dabei spielten.
Noch bleibt abzuwarten, welch überraschende Parallelen und Unterschiede zwischen Medien wie dem Radio, das in den 20er und 30er Jahren das Ohr der Bürger in die Welt war, der Fotokopie, die in den 70er und 80er Jahren die massenhafte Verbreitung politischer Pamphlete ermöglichte, und den heutigen Plattformen Facebook, Twitter und Co dabei erscheinen. Mit Sicherheit erscheint jedoch der aktuelle Hype um die Möglichkeiten sozialer Netzwerke als Instrument politischer Agitation danach in einem ganz neuen Licht.
Literatur
Castells, M. (2009). Communication Power. Oxford: Oxford University Press.
Mörtenböck, P., & Mooshammer, H. (2012). Occupy. Räume des Protests [Occupy. Spaces of Protest]. Bielefeld: transcript.
Pickerill, J., & Krinsky, J. (2012). Why does occupy matter? Social Movement Studies: Journal of Social, Cultural and Political Protest, 11(3-4), 279-287.
Ranciere, J. (2004). The Politics of Aesthetics: The Distribution of the Sensible. London, New York: Continuum.
Übersetzt aus dem Englischen von Karen Grass
Bildquelle: stanjourdan / Flickr
Schlagwörter:Facebook, Lettland, Mainstream-Medien, New York, Occupy, Protest, Schweden, Soziale Medien, soziale Netzwerke, Twitter, Wall Street