Mit ihrer 360-Grad-Rundumsicht ermöglicht die VR-Technik Perspektiven, die neue Formen journalistischer Berichterstattung erlaubt. Allerdings hat die virtuelle Realität auch Grenzen.
Journalismus soll objektiv sein. Doch ist das möglich, wenn doch notgedrungen immer Subjekte berichten und ihre Sicht der Dinge schildern? Wäre es da nicht viel besser, wenn wir uns alle ein eigenes Bild machen könnten, als ob wir selbst am Schauplatz des Geschehens wären? An diese Vision knüpfen Virtual Reality-Journalisten an, die mit 16 Objektiven der Rundum-Kamera eine 360°-Berichterstattung liefern. Statt die Welt durch das Objektiv eines Reporters zu sehen, steuern wir die Kamera mit der Computermaus selbst. Wir zoomen und schwenken, um uns umzusehen und können uns so ein vermeintlich eigenes Bild von noch nicht gebauten Bahnhöfen und gescheiterten Flughafenprojekten machen oder Flüchtlingsretter auf dem Mittelmeer begleiten.
Wie hilfreich ist es, mittendrin statt nur dabei zu sein? Erfahren wir mithilfe der virtuellen Realität (VR) mehr über die Wirklichkeit? Die Forschung zeigt bereits heute: Der Einsatz von VR im Journalismus kann durchaus informativ sein, wenn es um den räumlichen Eindruck geht. Und vor allem eignet sich VR zur Erregung von Mitgefühl. Wenn es nicht beim bloßen Augenkitzel bleiben soll, müssen aber neue Erzählformen gefunden werden. An die Stelle des linearen Berichts eines Reporters tritt der vom Nutzer selbst erzeugte sphärische Eindruck. Und nicht alles am Horizont ist gleichermaßen wichtig, ohne Standpunkt und Fokussierung verliert man rasch die Orientierung. Frei bewegen und entscheiden kann der Mediennutzer bislang nur im Rahmen des verfügbaren Videomaterials. Und das stellt nach wie vor einen journalistischen Ausschnitt der Wirklichkeit dar oder beruht auf aufwändigen Inszenierungen.
Womöglich stehen 360-Grad-Videos erst am Anfang einer Entwicklung zum immersiven Journalismus: Mithilfe von Bildschirmbrillen und Datenhandschuhen versetzen wir uns dann vollständig in fotorealistisch simulierte Situationen und Schauplätze hinein, um zu erleben, was wir bislang durch Nachrichten nur erfahren: Das Medium selbst macht sich unsichtbar.
Die sachliche Betrachtung und nüchterne Beurteilung komplexer politischer Fragen werden aber auch künftig räumliche und zeitliche Distanz zum Geschehen sowie einen klaren Standpunkt voraussetzen.
Literaturtipps:
de la Peña, Nonny et al. (2010): Immersive Journalism: Immersive Virtual Reality for the First-Person Experience of News. Presence, Vol. 19, Nr. 4, S. 291-301.
Sirkkunen, Esa et al. (2016): Journalism in Virtual Reality: Opportunities and Future Research Challenges. AcademicMindrek’16, October 17-18, 2016; DOI: http://dx.doi.org/10.1145/2994310.2994353.
Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 6. August 2017
Bildquelle: Nan Palmero / Flickr CC: Woman Using a Samsung VR Headset at SXSW, Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/
Schlagwörter:360 Grad, Süddeutsche Zeitung, Virtual Reality (VR), ZDF