Über Jahre hinweg betrachteten Medienschaffende im traditionellen Journalismus ihre Online-Kollegen als Journalisten zweiter Klasse und warfen ihnen gar vor, die journalistischen Berufsstandards zu untergraben. Eine Studie aus dem Jahr 2020, die professionelle Werte und Praktiken von Journalisten vergleicht, die offline, online und für mehrere Plattformen arbeiten, zeigt jedoch ein differenzierteres Bild, auch hinsichtlich Unterschiede zwischen ost- und westeuropäischen Journalisten.
In früheren Studien wurde festgestellt, dass sich Online- und Offline-Journalistinnen und -Journalisten oft als konkurrierende Berufsgruppen betrachten und Offline-Journalisten ihre Online-Kollegen gar als eine Bedrohung für professionelle Standards. In diesem Zusammenhang weisen Imke Henkel, Neil Thurman, Judith Möller und Damian Trilling in ihrem Beitrag auch auf einen Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hin, der im Jahr 2014 für Diskussionen sorgte. Darin wurde gefragt, was Stefan Ottlitz (geb. Plöchinger), damaliger Chefredakteur von sueddeutsche.de, als „Internetexperte“ in der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung „zu suchen“ habe.
Laut FAS besteht der Gegensatz zwischen “Internetexperten” und “Journalisten”. Sagt mehr über die FAS als über die SZ pic.twitter.com/fUOUSu374C
— Dirk von Gehlen (@dvg) March 23, 2014
Für ihre Studie verglichen Henkel, Thurman, Möller und Trilling anhand von Befragungsdaten der Worlds of Journalism Studie aus den Jahren 2013 bis 2017 professionelle Werte und Praktiken von mehr als 6.000 Journalistinnen und Journalisten aus neun west- und osteuropäischen Ländern (Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Kosovo, Lettland, Niederlande, Österreich, Schweiz). Dabei griffen sie auf vier bereits von Mark Deuze herausgearbeitete professionelle Werte zurück: der Dienst an der Gesellschaft, mit dem das berufliche Rollenverständnis einhergeht, Objektivität, Autonomie und Ethik.
Das Forschungsteam teilte die befragten Journalistinnen und Journalisten dafür in vier Kategorien ein: 1) Journalisten, die für traditionelle Medien wie Tages- und Wochenzeitungen, Radio, Fernsehen, Zeitschriften und Nachrichtenagenturen arbeiten, 2) Journalisten, die sowohl für Online-Medien als auch für traditionelle Medien tägig sind und damit noch mit der dort herrschenden Kultur verbunden sind, 3) Journalisten, die entweder nur für ein Online-Medium, das zu einem traditionellen Medium gehört oder für solch ein Medium und ein eigenständiges Online-Medium arbeiten, und 4) Journalisten, die nur für ein eigenständiges Digital-Native-Medium tätig sind.
Keine großen Unterschiede bei ethischen Standards
Im Gegensatz zu früheren Studien stellte das Team fest, dass Online- und Offline-Journalistinnen und -Journalisten im Großen und Ganzen die gleiche professionelle Ideologie teilten, was daran liegen könnte, dass im Laufe der Zeit die Grenzen zwischen beiden Gruppen immer durchlässiger geworden sind. Inzwischen scheinen Journalisten auch immer häufiger die Plattform zu wechseln, „um ihre Karriere voranzutreiben“, so das Forschungsteam.
Was den professionellen Wert der Objektivität betrifft, konnten Henkel et al. keinen Unterschied zwischen Online- und Offline-Journalistinnen und -Journalisten ausmachen. Auch bezüglich ethischer Standards unterscheiden sie sich nicht groß voneinander. Allerdings rechtfertigen ihren Ergebnissen zufolge Online-Journalisten eher die Veröffentlichung ungeprüfter Informationen. Wenn es um den Dienst an der Gesellschaft und das berufliche Selbstverständnis geht, fallen in der Untersuchung jedoch einige Unterschiede auf: Online-Journalistinnen und -Journalisten, insbesondere jene, die für Digital-Native-Medien arbeiten, zeigen deutlich weniger Interesse an der kritischen Watchdog-Rolle als ihre Offline-Kolleginnen und -Kollegen, d.h. sie sind weniger daran interessiert, Politiker zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl sie angeben, dass sie frei in ihren redaktionellen Entscheidungen seien.
Insbesondere Journalistinnen und Journalisten, die für ein Online-Medium, das zu einem traditionellen Medium gehört, finden es weniger wichtig, Politik und öffentliche Meinung zu beeinflussen, und dafür wichtiger, auf ihr Publikum einzugehen als Journalistinnen und Journalisten der drei anderen Kategorien. Diese Unterschiede könnten darauf hinweisen, dass Online-Journalisten in Medienunternehmen, die Online- und traditionelle Angebote haben, eine eher unterhaltungs- und publikumsorientierte Rolle übernehmen, während sie die kontroverse und investigative Berichterstattung ihren Kolleginnen und Kollegen der Offline-Medien überlassen.
Online-Journalisten in Osteuropa messen kritischer Watchdog-Rolle größere Bedeutung bei
In den unter die Lupe genommenen osteuropäischen Ländern allerdings zeigt sich ein umgekehrtes Bild. Hier messen Online-Journalistinnen und -Journalisten der kritischen Watchdog-Rolle eine größere Bedeutung bei als ihre Kolleginnen und Kollegen, die für traditionelle Medien arbeiten. Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis, so das Forschungsteam rund um Henkel, sei die „illiberale Wende“, die sich in den vergangenen Jahren in Mittel- und Osteuropa vollzogen hat. Das Internet könnte zu einem Ort geworden sein, an dem sich kritische Journalisten der politischen Kontrolle entziehen können.
Osteuropäische Online-Journalistinnen und -Journalisten scheinen sich zudem strenger an ethische Standards zu halten als ihre Offline-Kolleginnen und Kollegen, mit einer Ausnahme: Die Akzeptanz, vertrauliche Dokumente ohne Autorisierung zu verwenden, ist unter ihnen relativ hoch. Dies, so Henkel et al., spiegele möglicherweise die große Bedeutung wider, die sie der Watchdog-Rolle beimessen, werde doch diese Methode häufig im investigativen Journalismus genutzt.
Das Forschungsteam weist daraufhin, dass die Ergebnisse aus den osteuropäischen Ländern nur vorläufige Hinweise auf die Unterschiede zwischen Online- und Offline-Journalistinnen und -Journalisten in der Region geben könnten, da sich mit Bulgarien, Kosovo und Lettland nur drei Länder des Samples in Osteuropa befinden.
Es wäre mit Sicherheit spannend, diese Untersuchung auf mehr mittel-, ost- und südosteuropäische Länder, von denen Daten im Rahmen der Worlds of Journalism Studie vorliegen, auszuweiten wie z.B. Albanien, Tschechien und Ungarn.
Imke Henkel, Neil Thurman, Judith Möller & Damian Trilling (2020). Do Online, Offline, and Multiplatform Journalists Differ in their Professional Principles and Practices? Findings from a Multinational Study, Journalism Studies, 21:10, 1363-1383, DOI: 10.1080/1461670X.2020.1749111
Schlagwörter:Ethik, Online-Journalismus, Osteuropa, professionelle Werte, Westeuropa, Worlds of Journalism