Den Fernsehjournalisten in die Karten schauen

25. August 2008 • Digitales, Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung

Eine schwedische Nachrichtenredaktion im Internet-Schaufenster
Die Redaktion einer schwedischen Nachrichtensendung lässt sich bei der Arbeit filmen. Jedermann kann darauf das Tun hinter den TV-Kulissen im Internet anschauen. Mit dieser Aktion will das öffentliche Fernsehen Transparenz herstellen und Verständnis gewinnen.

Was geschieht hinter den Kulissen einer Nachrichtensendung? Wie werden Nachrichten ausgewählt? Aus welchen Gründen wählt die Redaktion dieses oder jenes Bild aus? Auf solche Fragen will «Öppen Redaktion» (offene Redaktion) eine Antwort geben. Es handelt sich um ein schwedisches Projekt, das den Fernsehzuschauern einen Blick hinter die Kulissen des Nachrichtenmagazins «Aktuellt» gewährt, das jeden Abend um 21 Uhr ausgestrahlt wird.

Erklären, wie es funktioniert
Auf der Website von «Aktuellt» sind Filmaufnahmen von Redaktionssitzungen und weiteren internen Diskussionen zwischen den Journalisten abrufbar. So soll dem Publikum ermöglicht werden, das fertige Produkt besser zu verstehen und auch noch mehr schätzen zu lernen. Das geht über eine Reality-Show hinaus: «Wir wollen dem schwedischen Volk erklären, wie unser Nachrichtenmagazin funktioniert. Bei diesem Projekt geht es um einen Dialog und nicht um irgendeine Form von Voyeurismus», sagt Eva Landahl, die Leiterin der Sendung.

«Vor Beginn», erinnert sich Landahl, «gab es Bedenken unter den Journalisten, die sich fragten, ob sie wirklich <sie selbst> sein könnten, wenn sie beim Diskutieren gefilmt werden. Oder wie eine exklusive Meldung vor der Konkurrenz geheim gehalten oder die Anonymität einer Quelle geschützt werden könne. Nach wenigen Tagen veränderte sich aber ihre Einstellung. Denn das Projekt weckte auch viel Interesse, und so erklärten sie sich schliesslich zur Teilnahme bereit.»

Video-Reporter filmen Redaktoren
Zwei Video-Reporter wurden angestellt, die unabhängig operieren und denen Zugang zu sämtlichen Gesprächen und Sitzungen gewährt wird, und zwar ohne Ausnahme. Dabei ist es ihre Aufgabe, die interessantesten Unterhaltungen mit der Kamera festzuhalten und, nur wenige Minuten später, auf der Website des Nachrichtenjournals zur Verfügung zu stellen. Die Internetbenutzer können so fast live mitverfolgen, was im Innern einer Redaktion abläuft, oder sich ein Video herunterladen, auf dem etwa die Gedankengänge eines Journalisten festgehalten sind, der wenige Zeit später dem schwedischen Aussenminister Carl Bildt zum Interview gegenübersitzen wird – ein Politiker, der als sehr schwieriger Interviewpartner gilt. Die Reaktionen nach einem Interview werden ebenfalls registriert, so dass die Fernsehzuschauer den gesamten Produktionsprozess, von der Planung bis zur Realisierung des Endprodukts, inklusive der Momente danach, einsehen können.

Ein anderes Beispiel: Man kann beobachten, wie eine Live-Fernsehdebatte zwischen Politikern vorbereitet wird. Dabei erfährt der Zuschauer etwa, dass der schwedische Premier es ablehnt, in einem direkten Duell gegen den Oppositionsführer anzutreten, und man erfährt auch, welche Politiker es vorziehen, alleine vor der Kamera zu stehen. «Die Situation wird zunehmend schwierig», erklärt der für die Debatte verantwortliche Journalist den Internetnutzern. «Der Oppositionsführer hat den Premierminister zum direkten Rededuell eingeladen, was dieser aber dankend ablehnt. Was tun?»

Folgen für die politische Kommunikation
Bereits jetzt zeitigt die Veröffentlichung solcher intimen Details Folgen: Die schwedischen Politiker und ihre Kommunikationsstäbe überwachen die Website des Nachrichtenmagazins, und die Tatsache, dass gewisse bisher geheime Vorgänge auf diese Art publik gemacht werden, hat dazu geführt, dass sich die Politiker in der Öffentlichkeit deutlich vorsichtiger verhalten.

Auch auf die Journalisten hat sich das Projekt ausgewirkt, und zwar durchaus positiv: «Dadurch, dass wir bei der Arbeit von einer Kamera begleitet werden, hat sich das Niveau unserer internen Debatten und auch die Qualität der dabei vorgebrachten Argumente merklich gesteigert», sagt Eva Landahl. Es gibt auch Komplikationen, etwa bei der Manöverkritik zur Sendung vom Vortag. Man stelle sich vor, man sei ein Berufsjournalist, der für eine Leistung Kritik einstecken muss; und man stelle sich vor, man werde dabei noch gefilmt, und diese Bilder werden jedermann zur Verfügung gestellt: zweifellos keine leichte Sache. Ausserdem kann es ermüdend sein, unter ständiger Videobeobachtung zu stehen.

Abbau von Misstrauen
Heute, nach acht Monaten Laufzeit, stellt sich also die Frage: Hat sich das Ganze gelohnt? Aus Sicht der Projektverantwortlichen überwiegen die Vorteile klar. «Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren im Journalismus tätig und musste schon oft von den Zuschauern Kritik einstecken, was unsere Entscheidungen bei der Veröffentlichung gewisser Namen oder Bilder betrifft. Mein Eindruck ist, dass die Leute glauben, wir Journalisten würden dabei völlig willkürlich vorgehen.»

Dem Projekt «Öppen Redaktion» fällt dabei das Verdienst zu, den Bürgern und Bürgerinnen klarzumachen, dass solche Entscheidungen nicht auf die leichte Schulter genommen werden, ganz im Gegenteil: Einige der nun öffentlich gemachten Diskussionen – manchmal freundlich-liebenswürdig, manchmal lebhaft-erhitzt – gewähren tiefe Einblicke in die journalistischen Entscheidungsprozesse. Jeden Tag sehen sich zwischen 1500 und 2000 Internetnutzer die Website der Sendung an. «Meine Hoffnung ist es», sagt Eva Landahl, «dass unsere Zuschauer auf diese Weise die Sendung, die wir ihnen Tag für Tag anbieten, künftig besser einschätzen können und, nicht zuletzt, dass sich durch unsere Bemühung um grössere Transparenz auch das Vertrauen der Leute in unsere journalistische Arbeit vergrössert.»

Besseres Verständnis
Welches Hauptziel das Projekt auch verfolgen mag – echte Transparenz zu schaffen oder die Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen –, «Öppen Redaktion» bietet dem schwedischen Publikum in jedem Fall einen Zusatznutzen, erlaubt es ihm doch, die Abendnachrichten nicht nur zu konsumieren, sondern auch ein vertieftes Verständnis dafür zu entwickeln, was man sich gerade ansieht.

Sollen Redaktionskonferenzen öffentlich sein?
Ja, denn:

– das Publikum erhält Einblicke in die Funktionsweise einer Redaktion;

– die Redaktoren werden angeregt, genauer nachzudenken und besser zu argumentieren;

– die Glaubwürdigkeit einer Redaktion wird gesteigert, denn man zeigt, dass man nichts verheimlicht;

– Verschwörungstheorien wird der Boden entzogen;

– die Redaktion erhält ein umfassenderes Feedback über ihre internen Abläufe;

– die Distanz zwischen Redaktion und Publikum wird verringert;

– die Journalisten erfüllen selbst die Forderung nach Transparenz, die sie an andere Mitglieder und Einrichtungen der Gesellschaft stellen;

– der Dialog mit dem Publikum wird intensiviert;

– diejenigen, die für Lehre und Weiterbildung im Journalismus zuständig sind, erhalten wertvolles Anschauungsmaterial.

Nein, denn:

– die Konkurrenz erhält Zugang zu wertvollen, redaktionsinternen Informationen;

– die PR-Profis (Spin-Doctors) können ihre Aktionen noch besser planen und auf journalistische Enthüllungen reagieren;

– die internen Diskussionen verlieren an Spontaneität und Ehrlichkeit;

– es entsteht so bloss die Illusion von Offenheit; wirklich wichtige Entscheidungen werden einfach anderswo gefällt;

– eine bestimmte Redaktion gerichtlich zu belangen, wird so erleichtert;

– ernste Bemühungen um Transparenz könnten zur reinen PR-Aktion geraten;

– eine Redaktion wird auf diese Weise als ausgesprochen egozentrisches Gebilde dargestellt;

– die Dauerbeobachtung könnte zu monotonen Sendungen führen.

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