Twitter ist Symbol für die Kurzlebigkeit von Themenkarrieren in Zeiten von Social Media. Zu Recht? Am Beispiel des TTIP-Diskurses sind wir der Frage nachgegangen, welche Rolle die Plattform bei langjährigen Diskursen spielt.
Kommunikationswissenschaftler wie Carlos Alberto Scolari betrachten die Medienlandschaft als ein System verschiedener Gattungen, die jeweils einen spezifischen Beitrag leisten innerhalb eines gemeinsamen Ökosystems. Sie zeichnen damit ein komplexeres Bild als das einer linearen Evolution von Medien – sie gehen vielmehr davon aus, dass sich für jede Spezies eine distinkte Nische im Gesamtsystem findet. Wie in der Biologie geht es den Vertretern der „Media Ecology“ darum, herauszufinden, welche Aufgaben einzelne Spezies in Relation zum Gesamtsystem übernehmen, wie sich Interdependenzen in ko-evolutionären Prozessen entwickeln.
Um eben dieser Frage nachzugehen, untersuchten wir in einer kürzlich erschienenen Studie*, welche Rolle Twitter bei der Entstehung und Fortführung eines langjährigen Diskurses spielt. Das Freihandelsabkommen TTIP wurde seit 2013 verhandelt – anfänglich jedoch weitestgehend abseits der Aufmerksamkeit klassischer Medien. Eine Analyse von rund 250.000 Tweets, die unter dem Hashtag TTIP seit Beginn der Verhandlungen 2013 bis Ende 2015 auf der Plattform gepostet wurden, zeigt indes, dass TTIP auf Twitter schon früh als Thema entdeckt wurde: In einem Vergleich mit 820 Zeitungsartikeln, die in den Leitmedien dreier beteiligter Länder erschienen (Guardian, Süddeutsche Zeitung, New York Times), zeigte sich, dass unterschiedliche Interessengruppen verschiedener Nationen den Diskurs in der Twittersphäre bereits zu einem Zeitpunkt dominierten, als TTIP für Zeitungen noch kein großes Thema war. Zizi Papacharissi und Maria de Fatima Oliveira nennen diese Prozesse affektive Nachrichtenströme: kollaborative, dabei nicht koordinierte Konstruktionsprozesse, getrieben von subjektiven Erfahrungen, Meinungen und Gefühlen.
Cross-Plattform-Analysen stellen eine besondere Herausforderung für Kommunikationswissenschaftler dar: Wie lassen sich soziale Medien in der Medienökologie verorten? Unter welchen Bedingungen lässt sich beispielsweise eine Plattform wie Twitter mit klassischen Massenmedien vergleichen – es gibt keine Redaktion, die Themen plant und doch kann Twitter Themen setzen. Der Intermediär gilt nicht als Leitmedium und doch wird Twitter zitiert, Twitter ist Rechercheinstrument. Twitter ist wie andere soziale Medien mehr als eine neutrale Struktur, die ihren Nutzern Kommunikation und Information ermöglicht. Die Politik der Plattform selbst, ihr Design und ihre Algorithmen formen Diskurs. Twitter ist damit medialer Akteur.
Im Fall von TTIP waren unter den aktivsten Usergruppen NGOs wie Attac, Foodwatch, Greenpeace, People’s NHS, WikiLeaks, und LobbyControl. Sie prägten den Diskurs schon früh in ihrem Sinne, das heißt: vor allem contra TTIP. Den auf diese Weise aus vielfältigen Quellen zusammengetragenen Gegenargumenten konnten die Verfechter des Abkommens, allen voran die eigens aktivierten TTIP-Accounts der EU-Kommission, nur wenig entgegensetzen. Journalisten und Politiker agierten auch zur Hochphase der TTIP-Diskussion vergleichsweise passiv.
Eine Sentiment-Analyse häufig geteilter Tweets zeigt eindrücklich, wie deutlich Anti-TTIP-Posts auf der Plattform schon Anfang 2014 den Diskurs bestimmten. Hier zeigt sich auch ein weiterer deutlicher Unterschied zu den klassischen Medien: Zwar dominierten auch hier schon früh Argumente gegen das Abkommen, doch wurden in gleichem Maße ausgewogene Inhalte veröffentlicht. Auf Twitter indes wurden neutrale wie auch positive Inhalte marginalisiert (siehe Grafik). Interessanterweise korreliert die Verschärfung des Tons auf Twitter mit einer deutlichen Zunahme an Usern, die sich unter #TTIP beteiligten.
Oftmals reduziert die Perspektive der Forschung Twitter auf ein erweitertes Forum klassischer Medien und – in Katastrophen- und Krisensituationen – auf eine Art alternative Nachrichtenagentur. Dieses Bild wird jedoch entscheidend von Restriktionen geprägt, mit denen Twitter-Forscher umgehen müssen: Der Zugang zu Daten ist limitiert, insbesondere historische Tweets sind über die Datenzugänge der Plattform nicht zu erhalten. Das hat zur Folge, dass sich Twitter-Forschung meist auf punktuelle oder vorhersehbare Medienereignisse konzentriert – die von der Plattform diktierten Bedingungen wissenschaftlicher Beobachtung verzerren ihr Ergebnis. Der Blick auf die Mediengattung Twitter bleibt unvollständig. Es schließt sich die Frage an, welche womöglich weitreichenderen Funktionen durch Beobachtungen unter veränderten Bedingungen zu studieren wären.
Unsere Analyse eines längeren Zeitraums legt die Vermutung nahe, dass Journalisten, die das soziale Medium häufig als Recherchequelle nutzen, vor allem mit Anti-TTIP-Argumenten konfrontiert wurden. Die Gegenargumente waren hier deutlich sichtbarer und vielfältiger als die der Freihandelsbefürworter. Ob und inwiefern sich die gleichsam vorverhandelten Frames auf die Berichterstattung ausgewirkt haben, bleibt aber ungewiss und soll in weiterführenden qualitativen Studien betrachtet werden.
Sicher scheint indes, dass Twitter innerhalb der Medienökologie die Funktion einer Plattform übernimmt, auf der Nachrichten und ihre Frames (auch) kollaborativ verhandelt werden. Problematisch erscheint hierbei die Marginalisierung ausgeglichener Informationen im Zuge der Polarisierung des Diskurses.
* von Nordheim, Gerret/ Boczek, Karin/ Koppers, Lars/ Erdmann, Elena (2018): Reuniting a Divided Public? Tracing the TTIP Debate on Twitter and in Traditional Media. International Journal of Communication 12 (2018), 548–569.
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