Wie oft wird ein Artikel gelesen? Welche Themen kommen gut an? Um das herauszufinden, können Redaktionen digitale Messinstrumente nutzen – und ihr Angebot so verbessern und leserfreundlicher gestalten. Allerdings sollte Lesernachfrage nicht mit kritischer Öffentlichkeit verwechselt werden.
Bislang waren Werbekunden für die meisten Medien wichtiger als das Publikum – zumindest wirtschaftlich. Mittlerweile muss sich die Presse überwiegend durch ihre Leser finanzieren, die damit an Bedeutung gewinnen. Doch Journalisten wissen herzlich wenig von ihren „Kunden“: Sporadische Leserpost und pauschale Befunde über werberelevante Zielgruppen verraten nichts darüber, wie bestimmte Themen und Artikel ankommen. Journalisten glauben zu wissen, was ihre Leser wollen. Doch Auflagenverluste und „Lügenpresse“-Rufe lassen Zweifel aufkommen.
Warum also nicht die Möglichkeiten der Webanalyse nutzen, um herauszufinden, wie viele Menschen einzelne Artikel lesen, welche Themen gut ankommen, welche Schlagzeilen Aufmerksamkeit erzielen? Digitale Messinstrumente halten nun Einzug in die Redaktionen, wie eine Studie des Reuters Institute belegt. Webanalyse-Daten zeigen beispielsweise, ob mehrere Artikel zum selben Thema gelesen werden oder ob sie weiter empfohlen und diskutiert werden, also verstärkt zur Meinungsbildung beitragen. Journalisten können so ihr Angebot verbessern und leserfreundlicher gestalten.
Ganz anders sieht es aus, wenn Journalisten untereinander um die meisten Clicks konkurrieren oder Artikel einzeln verkauft werden: Webanalysen belegen genau, wieviel Aufmerksamkeit, Leser- und Werbegeld eine Reportage über das Ende der Meinungsfreiheit in der Türkei oder ein Bericht über einen verletzten Nationalspieler einspielen. Ökonomisch vernünftig erscheint es dann, künftig lieber auf teure Reportagen zu verzichten. Redakteursbefragungen aus den USA zeigen: Je unsicherer Journalisten ihre wirtschaftliche Lage einschätzen, umso eher neigen sie zum Aufhübschen der Clickraten und zur Anpassung an die Nachfrage.
Gut, wenn Journalisten als Dienstleister nun dem bislang nahezu unbekannten Leser mehr Aufmerksamkeit schenken. Allerdings sollte man Lesernachfrage nicht mit kritischer Öffentlichkeit verwechseln: Unbequeme Themen und Meinungen, schlechte Nachrichten und hässliche Bilder erzielen weniger Likes oder Euro, gehören aber zum Kern von Journalismus. Gefährlich wird es, wo die alte Werbeabhängigkeit durch eine neue Abhängigkeit von Kundenkennzahlen abgelöst wird.
Erstveröffentlichung: Der Tagesspiegel vom 19. Juni 2016
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Schlagwörter:Clickraten, Meinungsbildung, Webanalyse