Rechtspopulisten ist es ein Dorn im Auge, wenn Flüchtlinge Smartphones nutzen. Die vermeintlichen Luxusgeräte erfüllen aber gerade auf der Flucht nach Europa viele wichtige Funktionen – und können Leben retten.
Seit sich im Spätsommer 2015 die Flüchtlingssituation zugespitzt hat und Hunderttausende Europa erreicht haben, sind in der Berichterstattung Fotos von Migranten mit Smartphones allgegenwärtig. Dieser Anblick erregt viel Unverständnis, ja, das Bild des Flüchtlings mit vermeintlichem Luxushandy ist Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer Argumentationen: Wer sich ein Smartphone leisten könne, der brauche doch keine europäische Hilfe! Dass das Gerät weder vor Luftangriffen noch vor Gräueltaten zu schützen vermag, ist dabei offensichtlich egal. Flüchtlingen den Besitz von Smartphones zum Vorwurf zu machen, zeugt aber auch von Unwissenheit über die Nutzungssituation außerhalb reicher Volkswirtschaften: Denn während Smartphones hier Teil gut ausgestatteter Haushalte mit Fernseher, Laptop, Internet- und Festnetzanschluss, vielleicht noch einer Spielekonsole oder einem Tablet-PC sind, ersetzen Smartphones in ökonomisch weniger entwickelten Ländern all diese Geräte und Zugänge.
Hersteller haben sich auf die wachsende Nachfrage an diesen Alleskönnern außerhalb von Industriestaaten eingestellt: Sie bieten Gebrauchtgeräte an (jene Exemplare, die kaufkräftige Kunden hierzulande in „Alt-gegen-Neu“-Aktionen eintauschen) sowie Modellvarianten, in denen günstigere Komponenten verbaut sind als in den optisch ähnlichen Premiummodellen. All das kommt nicht zur Sprache, wenn Migranten ihr Smartphone-Besitz vorgeworfen und ihnen ihre Hilfsbedürftigkeit als Kriegsflüchtlinge abgesprochen wird – insbesondere aber nicht der ganz konkrete Nutzen, den die Geräte auf der Flucht an sich haben.
Alleskönner auf der Flucht
Wie Smartphones von Flüchtlingen tatsächlich eingesetzt werden und welche Rolle sie auf der Flucht spielen, wurde in einer aktuellen Interview-Studie am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität untersucht. Die Studienergebnisse zeigen, wie wichtig Smartphones sind, um die Flucht körperlich und mental bewältigen zu können:
- Während der lebensgefährlichen Etappe über das Mittelmeer verfolgen Flüchtlinge per GPS die Route und können im Notfall Hilfe zu diesen Koordinaten rufen. Die präzise geografische Angabe macht es wesentlich wahrscheinlicher, vor dem Ertrinken gerettet zu werden.
- Auf dem Weg über die Balkanroute orientieren sich Flüchtlinge an Erfahrungsberichten in sozialen Netzwerken und erhalten von Vertrauten Anleitung über Messenger-Dienste wie WhatsApp. So erhöhen sie die Chance, eine sichere Route zu wählen – und solchen Schleppern zu entgehen wie im Fall der 71 in einem Kühl-LKW erstickten Flüchtlinge.
- Auf der Reise erlaubt das Smartphone außerdem, mit der Familie in Kontakt zu bleiben, die sich meist weiterhin im syrischen Krieg befindet. Diesen geliebten Menschen durch Nachrichten und Selfies mitteilen zu können, dass man am Leben ist, und gleichzeitig zu erfahren, wie es der Familie geht, ist psychologisch für alle Beteiligten kaum zu überschätzen.
- Die Flüchtlinge sind oft mit einer Gruppe unterwegs, für deren schwächere Mitglieder – alte, junge oder kranke Verwandte – sie verantwortlich sind. Indem die eigene Position gegenseitig mitgeteilt oder ein verloren gegangenes Gruppenmitglied über soziale Netzwerke gesucht werden kann, verringert das Smartphone die Gefahr, sich im Chaos der Flucht auf Jahre zu verlieren, wie es zu anderen Zeiten der Fall war.
- Um wichtige Dokumente wie Pässe und Urkunden nicht etwa im Meer zu verlieren, hinterlegen Flüchtlinge digitale Versionen auf dem Smartphone oder im Internet. Wenn die Originale zur Sicherheit bei Verwandten gelassen wurden, macht das Smartphone es möglich, Kopien zu empfangen.
Potential für Integration?
Angesichts der Vielfalt an Funktionen, die während der Flucht genutzt werden können, um möglichst heil ans Ziel zu kommen, ist es tatsächlich nur logisch, dass insbesondere Flüchtlinge aus dem Nahen Osten Smartphones verwenden. Sie wissen bereits aus den Konflikten während des sogenannten Arabischen Frühlings um das Potential dieser mobilen, vernetzten Medientechnologien. Aus all diesen Erfahrungen heraus setzen Flüchtlinge die Smartphones auch nach ihrer Ankunft in Österreich produktiv ein: Sie orientieren sich geografisch mit „Google Maps“ und „Quando“, nutzen „Google Translate“, solange ihre Deutschkenntnisse noch nicht für den Alltag ausreichen, und üben mit Sprachkursen in „Duolingo“ oder auf „YouTube“ Deutsch, damit es bald so weit ist. Womöglich erweist es sich also auch für unsere Gesellschaft als nützlich, dass so viele der Menschen, die nun hier leben, bereits ein Smartphone besitzen und es produktiv einzusetzen wissen.
Erstveröffentlichung: derstandard.at vom 28. Juni 2016
Bildquelle: Fotomovimiento / Flickr CC: 2015_11_19_AntonioLitov (05); Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/
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