Datenjournalismus ist überall. Medien, die auf digitale Themen spezialisiert sind, berichten ständig darüber. Es sind zahlreiche Bücher zum Thema erschienen und in wissenschaftlichen Journals werden immer mehr Studien über Datenjournalismus veröffentlicht. Datenjournalismus ist zurzeit zweifellos einer der größten Trends im Journalismus und seiner Wissenschaft.
Dabei ist allerdings ein gewisser Hype zu beobachten: Auf den ersten Blick scheint es, dass Datenjournalismus schon im Mainstream angekommen ist und auch von traditionellen Journalisten akzeptiert und respektiert wird. Dem ist nicht so. In vielen Redaktionen hat Datenjournalismus noch immer mit vielen Hürden zu kämpfen.
Zwei kürzlich veröffentlichte Studien zeigen, wie Datenjournalismus in Kanada und Großbritannien in die journalistische Praxis eingebunden wird.
Für die Studie „Finding the Data Unicorn“ haben Alfred Hermida und Lynn Young von der University of British Columbia die Auswirkungen des Datenjournalismus auf journalistische und redaktionelle Normen, Arbeitspraktiken und Kulturen in verschiedenen kanadischen Redaktionen untersucht. Die zwei Autoren haben die 17 wichtigsten Datenjournalisten (festangestellte und freie) von Zeitungen sowie von privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunkunternehmen des Landes befragt. Im Vordergrund stand dabei die Frage, inwiefern Datenjournalisten die Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb von Redaktionen beeinflussen, indem sie sowohl Berufsgrenzen als auch das Zusammenspiel von traditionellen und neuen journalistischen Rollen innerhalb der Organisationsstruktur herausfordern.
Datenjournalisten sehen sich selbst als vielseitige Spezialisten
Wie die Wissenschaftler herausgefunden haben, ist die Hybridität in den untersuchten Redaktionen unterschiedlich weit fortgeschritten. In einigen Redaktionen, die über eine fortgeschrittene „Techno-Kultur“ verfügen, ist der Datenjournalismus bereits vollständig angekommen, während andere sich noch damit schwertun, gut ausgestattete Datenjournalismus-Teams auf die Beine zu stellen.
Schon die unterschiedliche Bezeichnung der Datenjournalisten in den Redaktionen zeigt, so Hermida und Young, wie sehr dieses Berufsfeld noch im Fluss ist: Vor die geläufigen Berufsbezeichnungen wie Planer, Manager, Redakteur, Produzent oder Entwickler werden technologische Begriffe wie interaktiv, mobil, digital, Web und Daten gesetzt.
Die meisten der befragten Datenjournalisten aus Kanada sehen sich als „Tech-Journalisten“ oder „Einhörner“ – fabelhafte Spezialisten, die selbständig einen Artikel schreiben, programmieren und Daten analysieren können. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu dem einer Studie über Datenjournalisten in Großbritannien, die angaben, dass die Aufgaben zwischen Technologie und Journalismus klar getrennt seien.
Datenjournalisten können organisatorische Grenzen überwinden
Auch die Organisationsform der Redaktion gibt einen Hinweis darauf, ob es gelingen kann, technologische und journalistische Kompetenzen miteinander zu vereinbaren. In Kanada haben es der öffentlich-rechtliche Rundfunksender und zwei Zeitungen, die bereits Erfahrungen mit der computergestützten Recherche (CAR) gemacht haben, geschafft, mit dem Aufbau von Datenanalyse-Teams eine technologiefreundliche Redaktionskultur zu schaffen. Die technologische Expertise der hoch spezialisierten Teams durchdringt die gesamte Redaktion und fördert damit den Wandel hin zu einer digitalgestützten Strategie.
Einige der untersuchten Redaktionen wiederum ordnen Datenjournalisten eine „Service-Rolle“ zu, indem sie ihren Beitrag auf technische Aspekte reduzieren und damit ihre journalistische Autorität limitieren. Wieder andere verlassen sich auf eine datenjournalistische „One-Man-Show“.
Unterschiede sind aber auch hinsichtlich der journalistischen Praktiken erkennbar: Wie die Studie von Hermida und Young zeigt, haben alle befragten kanadischen Datenjournalisten eine Neigung zu informellen Formen der Zusammenarbeit; ein Konkurrenzdenken liegt ihnen fern. Sie greifen gerne auf Ressourcen von verschiedenen Seiten zurück und dies sowohl innerhalb als auch außerhalb der Redaktion. Ein befragter Journalist nennt diese Form der Zusammenarbeit „Macgyvering“. Dass Datenjournalisten organisatorische Grenzen überschreiten und mit ihrer Community (einschließlich der Wissenschaftler, die sich mit Datenanalyse befassen) in medienübergreifenden Teams zusammenarbeiten, ist ein gutes Beispiel dafür, wie heutiger Netzwerk-Journalismus aussehen kann.
In der zweiten Studie „Unravelling data journalism“ nimmt Eddy Borges-Rey von der University of Stirling die Arbeit von Datenjournalisten in britischen Redaktionen unter die Lupe. Auf der Basis von 24 Interviews, die er mit Datenjournalisten, Redakteuren, einem Programmierer und einem Grafiker geführt hat, analysiert er, ob und in welchem Umfang Datenjournalisten mithilfe von Datenbanken und Algorithmen Datenbroker – also Unternehmen wie Google oder Facebook, die enorme Mengen an Daten über User und Konsumenten sammeln – zur Verantwortung ziehen. Weil Daten und Algorithmen mehr und mehr unser Leben beherrschen, gibt es laut Borges-Rey eine wachsende aber noch nicht befriedigte Nachfrage nach Journalisten, die Daten und die dahinter verborgenen Macht- und Interessenstrukturen untersuchen und offenlegen können.
Die Ergebnisse zeigen, dass die befragten Datenjournalisten es nicht als ihre Kernaufgabe ansehen, die Fehler und Machenschaften von Daten-Konzernen aufzudecken. Auf Technologie oder Wissenschaft spezialisierte Journalisten berichten weitaus öfter über diese Themen. Datenjournalisten tragen zwar als Spezialisten zur Erstellung von Datenbanken bei, nicht aber zum journalistischen Inhalt. Dieses Ergebnis überrascht, da Datenjournalisten über eine große Expertise im Umgang mit Daten verfügen. Allerdings ist dieser Umstand darauf zurückzuführen, dass Datenjournalisten oft keinen Zugriff auf die Daten von Datenbrokern haben.
Datenjournalismus setzt der traditionellen Logik des Journalismus ein Ende
Datenjournalisten setzen in diesem Fall noch auf traditionelle, investigative Methoden wie Leaks oder Whistleblowers. Das zeigt einmal mehr die enorm wichtige Rolle der Menschen, die gewillt sind, Informationen von öffentlichem Interesse preiszugeben (und warum sie Schutz verdienen).
Im Vergleich zu den kanadischen Ergebnissen von Hermida und Young zeigt Borges-Rey, wie der Datenjournalismus in Großbritannien bereits weite Teile des journalistischen Mainstreams durchdrungen hat: Er setzt der traditionellen Logik des Journalismus ein Ende und das nicht nur, indem er computergestütztes Denken in die Redaktion holt, sondern auch, indem er die Wege des linearen Storytellings verlässt und stattdessen Inhalte anbietet, die interaktiver und für das Publikum ansprechender sind.
Wie die Studie zeigt, sind datenjournalistische Praktiken fest in den britischen Redaktionen verankert und haben sich im Laufe der Zeit zu drei Hauptformen herauskristallisiert: a) ein kurzes und tägliches Format des Datenjournalismus; b) ein komplexes und investigatives Format und c) eine spielerische Umsetzung von Datenjournalismus, der das Publikum unterhalten soll. Allerdings könnten die übermäßig positiven Aussagen darauf zurückzuführen sein, dass Borges-Rey Medienschaffende von führenden Datenjournalismus-Redaktionen befragt hat, darunter der Guardian, die BBC oder der Telegraph. In zahlreichen regionalen und lokalen Medienunternehmen Großbritanniens hat sich der Datenjournalismus aber noch nicht etabliert.
Insgesamt sind die beiden Länderstudien eine gute Ergänzung zum schnell wachsenden Bestand an wissenschaftlicher Literatur zu quantitativen Formen des Journalismus. Sie zeigen auf, dass Datenjournalismus in vielen Redaktionen noch nicht sein volles Potential entfaltet hat, was hauptsächlich organisatorischen Grenzen, aber auch einem stetigen Wandel des Felds geschuldet ist.
Einige Medienunternehmen haben den Dreh noch nicht ganz raus
Selbst in Großbritannien, wo der Datenjournalismus generell gut in den Redaktionen angekommen ist, hat er vor allem in kleineren Medienunternehmen noch mit Hürden zu kämpfen. Das liegt hauptsächlich an knappen Personal- und Wirtschaftsressourcen. Damit sind externe Kollaborationen gefragt, die, wie beide Studien bestätigen, sowohl in Kanada als auch in Großbritannien von großer Bedeutung für die Ausübung von Datenjournalismus sind.
Vor allem in Kanada, wie die erste Studie zeigt, wird der „freie Daten-Cowboy“, der mit verschiedenen Medienunternehmen zusammenarbeitet, zunehmend gefragter. Dies stellt im Übrigen eine überraschend ähnliche Situation zu Italien dar, wo die meisten Datenjournalisten als Freelancer tätig sind.
Letztlich zeigen die beiden Studien nicht nur, dass einige Redaktionen den Dreh mit dem Datenjournalismus noch nicht ganz raus haben, was nicht nur auf fortdauernde strukturelle Probleme hindeutet, sondern auch zeigt, dass Datenjournalismus eine große Bereicherung für Medienunternehmen ist. Denn durch ihn können im journalistischen Ökosystem Beziehungsnetzwerke aufgebaut werden – ein wichtiges Qualitätsmerkmal für Medienunternehmen, die ihre unaufhörliche Deinstitutionalisierung bewältigen wollen.
Borges- Rey, E. (2016). Unravelling Data Journalism. A Study of Data Journalism Practice in British Newsrooms. Journalism Practice. Published online, DOI: 10.1080/17512786.2016.1159921.
Hermida, A., & Young, M. L. (2016). Finding the Data Unicorn. A Hierarchy of Hybridity in Data and Computational Journalism. Digital Journalism. Published online, DOI: 10.1080/21670811.2016.1162663.
Der Beitrag wurde auch auf der englischen EJO-Seite veröffentlicht: How Data Journalism Is Changing Newsrooms…Slowly
Bildquelle: yosuke muroya / Flickr CC: Unicorn; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/
Schlagwörter:Alfred Hermida, Datenanalyse, Datenjournalismus, Eddy Borges-Rey, Großbritannien, Kanada, Lynn Young, Redaktionen