Mit ENTR ist vergangene Woche ein transnationales Social-Media-Projekt für junge Europäerinnen und Europäer an den Start gegangen. Auf drei Plattformen – YouTube, Facebook und Instagram – und in sechs Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch, Portugiesisch und Rumänisch – wollen die Macher Menschen zwischen 18 und 34 Jahren ansprechen.
Die Idee zum ENTR-Projekt hatte die Deutsche Welle, die das Projekt koordiniert; daneben sind Zeit Online, die Stiftung Genshagen (Deutschland), France Médias Monde (Frankreich), RTP (Portugal), Ringier Axel Springer Polska (Polen), RFI România und G4 Media (Rumänien) sowie Tailored Films (Irland) beteiligt. Gefördert wird ENTR von der Europäischen Kommission und dem Auswärtigen Amt.
Das EJO hat mit Redaktionsleiterin Gönna Ketels und Videoautorin Kathrin Wesolowski, die auch an der Formatentwicklung mitgewirkt hat, über Inhalte und Ziele von ENTR gesprochen.
EJO: Wie ist die Idee zu ENTR entstanden?
Gönna Ketels: Das war in erster Linie eine Initiative der Deutschen Welle. Die Idee, etwas Grenzüberschreitendes mit europäischen Partnern zu machen, kam vor circa zwei, drei Jahren auf – zusammen mit dem französischen Auslandsrundfunk France Médias Monde. Mit dem haben wir als DW auch schon an anderen Projekten zusammengearbeitet, da hatten wir schon gute Erfahrungen gemacht und gute Kontakte. Nach und nach haben wir dann auch die Partnermedien in den anderen europäischen Ländern gefunden. Das sind ganz unterschiedliche Medien, in Portugal mit RTP ein öffentlich-rechtlicher Sender, in Rumänien mit G4media.ro eine News-Website, in Polen mit onet.pl und noizz.pl zwei große Websites der Ringier Axel Springer Polska Gruppe.
Und in den Beiträgen steht immer Europa im Fokus?
Gönna Ketels: Ja, wobei wir nicht explizit über Europa reden möchten, sondern eher implizit. Wir versuchen über Themen heranzugehen, die junge Menschen interessieren, ohne dabei zu sagen, also so funktioniert und macht das die EU. Uns geht es vor allem um gemeinsame Anknüpfungspunkte.
Wir möchten mit ENTR junge Erwachsene zwischen 18 und 34 Jahren ansprechen, die in diesem Alter oft in einer Umbruchphase sind – zwischen Schule, Ausbildung, Studium, Eintritt in den Beruf, Familiengründung… Diese Umbruchphase kann natürlich sehr unterschiedlich verlaufen, was von der Gesellschaft des jeweiligen Landes, aber auch von persönlichen Faktoren abhängt.
Auch was das Interesse an Europathemen angeht, bzw. erst einmal die Offenheit dafür, gibt es natürlich Unterschiede. Wir wollen bewusst junge Menschen mit einem ganz diversen Hintergrund ansprechen und ganz gezielt auch diejenigen, die mit Europa vielleicht nicht so viel anfangen können und auch die „Nicht-Kosmopoliten“, die irgendwo auf dem Land und nicht in einer EU-Hauptstadt leben. Der größere Anteil der jungen Menschen ist aber Europa gegenüber eher positiv eingestellt. Allerdings sind manchmal die Erwartungen, die junge Menschen an Europa haben, unterschiedlich, so wird beispielsweise in Rumänien und Polen das Thema Wirtschaft höher gehängt, als das in Deutschland der Fall ist.
Kathrin Wesolowski: Unsere Themen sind so bunt und vielfältig wie auch die jungen Leute in Europa. Wir haben ein Format, das wir ‚Entschieden‘ genannt haben und worin es um getroffene Entscheidungen geht. In der ersten Folge ging es um das Coming Out von Homosexuellen, darin kam eine junge Person zu Wort, die vor kurzem ihr Coming Out hatte, und eine Person aus einer älteren Generation, die sich vor 20 Jahren als homosexuell geoutet hat. Damit wollen wir Orientierung und Entscheidungshilfe geben, auf der anderen Seite aber auch Debatten anregen.
Aktuell arbeite ich an einem Beitrag über einen rumänischen Saisonarbeiter, wobei der konstruktive Ansatz eine große Rolle spielt. Wir wollen nicht nur Bekanntes zeigen – Rumäne kommt nach Deutschland und wird ausgebeutet -, sondern warum das ein junger Mensch überhaupt macht, was es für Auswirkungen auf seine Familie und die Freunde zu Hause macht. Dafür arbeite ich mit Journalist:innen in Rumänien zusammen und wir versuchen dann, die Geschichten aus zwei Ländern in eine Geschichte zu bringen. Wir wollen Themen einfach ein bisschen anders angehen als andere Medien und auch andere Formate schaffen. Das ist jetzt beispielsweise auch für öffentlich-rechtliche Medien nicht die typische Berichterstattung, es ist schon ein bisschen revolutionär, was wir da probieren.
Erscheinen alle Beiträge immer in allen Sprachen?
Kathrin Wesolowski: Der Plan ist, dass wir mit den Partner-Redaktionen eine gemeinsame Themenwoche haben, letzte Woche war es Homosexualität, in den kommenden Wochen gibt es eine zum Thema EU-Migration. Trotzdem kann jeder Kanal verschiedene Ansätze haben. Es kann Videos geben, die auf allen Kanälen laufen, es kann aber auch sein, dass eins nur auf Polnisch und Rumänisch läuft und ein anderes wiederum nur auf Deutsch. Die jeweilige Redaktionsleitung kann entscheiden, was zur jeweiligen Zielgruppe passt.
Gönna Ketels: Es gibt auch durchaus Themen, bei denen das dann auch mal kontrovers diskutiert wird. Im Juni haben wir zum Beispiel eine Themenwoche zu fairer Mode und dem EU-Lieferkettengesetz. Wir wollen schauen, wie fair faire Mode wirklich ist, wie schlimm Fast Fashion ist. Die Anregung kam aus Frankreich. In Deutschland ist nachhaltiger Konsum auch ein großes Thema bei jungen Menschen. Unsere Kolleg:innen aus Rumänien sagten aber, für uns sei das eine Luxusdebatte; wenn man ein monatliches Einkommen von 600 Euro hat, ist faire Mode eher nicht das Erste, womit man sich auseinandersetzt, schon gar nicht, wenn wir alle jungen Menschen und nicht nur eine Elite ansprechen wollen.
Auch gerade beim Thema Homophobie, das letzte Woche lief, spielt es natürlich eine Rolle, wie akzeptiert und bekannt das Thema schon ist. Das Team in Rumänien hatte dazu zum Beispiel keine Coming Out-Geschichte veröffentlicht, sondern eine Instagram-Story gemacht, in der sie die unterschiedliche Situation in Europa abgebildet haben. Sie sind das Thema also ein bisschen niedrigschwelliger angegangen als das deutsche Team. Bei uns sind LGBTQIA-Themen ja auch schon in den Medien sehr präsent. Also ich glaube, da gibt es bei ENTR schon große Unterschiede, wer was wie macht und für sein Publikum aufbereitet.
Wie sind die Redaktionsteams aufgebaut und wie läuft die Zusammenarbeit ab?
Gönna Ketels: Das ist ganz unterschiedlich organisiert. In einigen Ländern sind es Kolleg:innen aus bestehenden Redaktionen, die etwas zuliefern, in Deutschland sind wir ein eigenes kleines ENTR- Team, das auch relativ autark von der Deutschen Welle operiert, und wir arbeiten natürlich auch mit freien Kolleg:innen, die dann teilweise Aufträge übernehmen. In der Regel haben wir sehr junge Teams, die das Alter der Zielgruppe haben, die wir erreichen möchten. In jedem Land gibt es eine Person, die sich um die Redaktionsleitung kümmert, was auch ein sehr zentraler Job ist, weil ganz viel Absprache und Koordination notwendig ist. Im Moment haben wir mit unseren Kolleg:innen aus dem Ausland zwei Redaktionskonferenzen pro Woche.
Würde die Zusammenarbeit ohne die Corona-Pandemie anders aussehen?
Gönna Ketels: Es war schon geplant, dass wir uns am Anfang unseres Projekts treffen… Unser Wunsch wäre auch, dass man mal zu einer Art Austausch kommt, dass eine Person aus einem Team eine Zeitlang bei einem anderen Team arbeiten kann. Dass man sich nicht mal face-to-face gegenüberstehen und treffen kann, fehlt natürlich ganz massiv – so wie es momentan überall fehlt.
Kathrin Wesolowski: Wir haben ja nicht nur die Redaktionen aus den anderen Ländern nicht kennengelernt, wir haben uns auch im deutschen Team untereinander nicht kennengelernt, das darf man nicht unterschätzen. Die Zusammenarbeit ist total digital gestartet und die Kommunikationswege sind so oft nochmals länger.
Auf was muss man bei solch einer transnationalen Zusammenarbeit besonders achten?
Gönna Ketels: Manche Dinge muss man einfach sehr explizit sagen; man setzt viel voraus, weil man denkt, so wird es bei uns doch immer gemacht und so wird es dann bei den anderen wohl auch sein, was aber nicht der Fall ist. Ganz viele Dinge, die man aus dem eigenen Redaktionsalltag kennt, werden in anderen Ländern nicht unbedingt auch so gehandhabt. Mein Job ist es ja auch zu koordinieren, was die Partnerredaktionen so machen, und da hat im Vorfeld Vertrauen eine sehr große Rolle gespielt, weil man noch keine fertigen Beiträge sehen konnte. Am Ende haben natürlich alle etwas produziert, sind aber auf ganz unterschiedlichen Wegen da hingekommen. Da spielen dann nicht nur die unterschiedlichen Nationalitäten eine Rolle, sondern wahrscheinlich auch die unterschiedlichen Unternehmenskulturen und -strukturen.
Kathrin Wesolowski: Ich habe gemerkt, dass ich, wenn ich über Themen nachdenke, wirklich diese Waage halten möchte, man möchte einfach nicht das eine Land über das andere stellen, man möchte nicht sagen, nur in Polen gibt es Homophobie und in Deutschland nicht. In jedem Land gibt es einen anderen Fortschritt, und man darf nicht vermitteln, dass Osteuropa weniger entwickelt ist und das westliche Europa das Vorbild von den anderen Ländern ist. Das ist ja pauschal auch einfach nicht richtig.
ENTR ist auf YouTube, Instagram und Facebook vertreten – publiziert seine Inhalte aber nicht auf einer eigenen Website. Erreicht man Ihre Zielgruppe nur noch über die sozialen Medien?
Gönna Ketels: Ich weiß nicht, wie viele junge Leute sich heute noch durch die Websites von Medienangeboten klicken. Wir müssen die Menschen da erreichen, wo sie sind, und in dem Fall haben wir uns natürlich auf Social Media fokussiert.
Die Inhalte von ENTR landen aber trotzdem nicht nur auf Social Media, sondern finden sich zum Teil auch in den Angeboten der Partnermedien wieder. Auch die Deutsche Welle veröffentlicht in ihren Online-Angeboten ENTR-Videos.
Warum ist überhaupt Facebook mit dabei? Hört man nicht immer wieder, dass dort nur noch die Eltern- und Großelterngeneration unterwegs ist?
Gönna Ketels: Das dachte ich tatsächlich auch – wir haben uns allerdings, als es um die Auswahl der Plattformen ging, an einer Umfrage orientiert, die die Deutsche Welle im Oktober 2020 in Auftrag gegeben hat. Da liegt in unserer Zielgruppe, die mit 18 bis 34 Jahren ja recht breit ist, Facebook in vielen Ländern tatsächlich immer noch ganz vorne. In den sechs ENTR-Ländern nutzen 73 Prozent unserer Zielgruppe täglich Facebook. In Deutschland sind es nur 53 Prozent, in Polen dagegen 90 Prozent.
Sie sind zwar erst letzte Woche gestartet, aber denken Sie möglicherweise schon an einen Ausbau des Angebots nach? Mehr Plattformen, mehr Sprachen…?
Gönna Ketels: Eigentlich ist es ja schon ziemlich ambitioniert, drei verschiedene Social-Plattformen in sechs Sprachen zu bespielen. Wir würden natürlich auch gern noch Tik Tok machen, aber man muss ja erst einmal irgendwo anfangen. Vor allem ist es unser Traum, dass wir unser Angebot auf noch mehr europäische Sprachen ausweiten, denn darum geht es uns ja: möglichst viele junge Menschen in Europa zu erreichen und miteinander zu vernetzen.
Quelle Titelbild: DW
Schlagwörter:Deutsche Welle, Deutschland, ENTR, EU, Europa, Facebook, France Médias Monde, Instagram, Irland, Polen, Portugal, Rumänien, transnational, Videos, youtube