Plötzlich spricht jeder über die Europäische Union. Es ist die Ironie des Brexit, dass ausgerechnet die Schock-Wahl der Briten, die das Brüsseler Projekt auf nahe Zukunft bedrohen könnte, ein nie dagewesenes Interesse an der Union, seinen Anführern und Institutionen hervorgerufen hat. Damit rückt auch der Bedarf an einer europäischen Öffentlichkeit, die die Angelegenheiten Europas nicht durch eine nationale Brille wahrnimmt, wieder in den Fokus.
„Über Jahrzehnte wurden Brüssel und die EU als langweilig abgetan“, sagt Matt Kaminski, Chefredakteur der Online-Zeitung Politico Europe, die 2015 als europäischer Ableger der Washingtoner Politik-Zeitung an den Start ging. „Wir denken nicht, dass das stimmt, was auch die vergangenen 16 Monate gezeigt haben.“
„Unsere Website ging zwei Wochen vor den britischen Wahlen (im Mai 2015), die nun zu diesem Ausgang (Brexit) geführt haben, online“, so Kaminiski, „und dazwischen waren die griechische Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und die Terroranschläge – Europa hat seit 1989 nicht mehr so im Mittelpunkt des Interesses gestanden.“
Politico Europe spricht die EU-Community so stark an wie kein anderes Medium zuvor. Vor allem der tägliche Newsletter „BrusselsPlaybook“, der schon einige Male die Gerüchteküche in Brüssel hat brodeln lassen, sorgt für viel Gesprächsstoff. Der Erfolg ist auch messbar: Im Juni dieses Jahres verzeichnete die Website, die ein Joint Venture von Politico in den USA und Axel Springer ist, zwei Millionen Besucher und fünf Millionen Seitenaufrufe.
Doch nicht jeder hat sich von dem erfolgreichen Neuling beeindrucken lassen. Viele Medienpersönlichkeiten werfen der Online-Zeitung einen spöttischen Ton vor. Von alten Hasen in Brüssel wurde die Redaktion der Sensationsgier bezichtigt und Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, verurteilte ihre Berichterstattung als „Peep-Show“-Journalismus, nachdem sie über seine gesundheitlichen Probleme berichtet hatte.
Kaminski aber zeigt sich von den Kritikern unbeeindruckt, vor allem von der Junckers. „Das ist doch albern, wenn jemand behauptet, wir seien oberflächlich, wenn wir mehr über diese Stadt veröffentlichen, als das jemals der Fall war.“
Zielgruppe von Politico Europe: Insider
Politico Europe hat inzwischen 60 Mitarbeiter, von denen 45 in Brüssel arbeiten; darunter sind viele Politik-Experten. „Wir arbeiten schneller als alle anderen in der Stadt“, sagt Kaminski und betont, dass sich seine Publikation an eine hoch spezialisierte Zielgruppe richte. „Unser Auftrag besteht darin, für die Insider zu berichten.“ Die Einnahmen von Politico Europe stammen einerseits von Werbekunden, die Anzeigen für eine spezialisierte Zielgruppe schalten, und von Abonnenten, die etwa 10.000 Euro für die sogenannten „PRO“-Abos zahlen, die Informationen zu Themen wie Technik und Finanzdienstleistungen liefern; der Preis für ein Abo hängt davon ab, wie viele Lizenzen es pro abonnierendem Unternehmen gibt.
Zwar berichte Politico Europe „in einem anderen Ton“ über Brüssel als viele Medien, doch sei es nicht seine Aufgabe, die Massen über die EU zu informieren. „Wir haben auf keinen Fall den Anspruch, so viele Leser wie möglich in Europa zu erreichen“, sagt er.
Wolfgang Blau, Chief Digital Officer bei Condé Nast International und einer der führenden Verfechter für transeuropäische Medien, zeigt sich enttäuscht über den „etwas abfälligen Ton gegenüber der EU“, den Politico Europe seiner Ansicht nach an den Tag legt. Er wünscht der Publikation zwar alles Gute, beanstandet aber, dass sie von Brüssel als „town“ spricht und die EU oft in einer Art und Weise erklärt, „wie man sie Amerikanern erklären würde.“
Entwicklung transeuropäischer Medien wird durch verschiedene Faktoren gebremst
Besonders jetzt nach dem Brexit, so Blau, wachse der Bedarf an transeuropäischen Medien. „Wir brauchen gerade in den kommenden Monaten und wahrscheinlich auch in den folgenden Jahren, wenn die EU und das Vereinigte Königreich ihre Beziehung zueinander neu definieren, Plattformen, auf denen Europa eine Unterhaltung mit sich selbst darüber führen kann, was es sein möchte.“
Die Dominanz der englischen Sprache in Medien weltweit sei der Grund dafür, dass in Großbritannien ansässige Medien – viele von ihnen äußerst euroskeptisch – bislang eine überproportionale Rolle in der Berichterstattung über die EU gespielt hätten, so Blau.
Er glaubt, dass die Entwicklung transeuropäischer Medien einerseits durch die Sprachbarrieren, andererseits durch den großen Wert, den viele führende Medienunternehmen in Bezug auf ihre nationale Agenda legen (mit Titeln wie El Pais, der im wahrsten Sinne des Wortes durch den Nationalstaat definiert ist) sowie den wirtschaftlichen Problemen der Medienbranche gebremst werden.
Als Direktor für Digitalstrategien beim Guardian hatte Blau die Idee eines pan-europäischen „Guardian Europe“ verfolgt, war dann aber wieder von ihr abgekommen. Da das Unternehmen von Natur aus mehr Richtung USA und ehemalige Commonwealth-Länder blickte, hatte sich Blau auf den Launch des Guardian US (seit 2011) und des Guardian Australia (seit 2013) konzentriert.
Europäische Öffentlichkeit: „Schon immer ein Elite-Projekt“
Charlie Beckett, Professor für Medien an der London School of Economics und Gründer von POLIS, einem Think-Tank für internationalen Journalismus und Gesellschaft, meint, dass die Idee einer europäischen Öffentlichkeit „schon immer ein Elite-Projekt“ gewesen sei. Die britischen Medien, sagt er, hätten diese Idee nie wirklich angenommen und viele ihrer Korrespondenten aus Brüssel abgezogen.
„Im Vereinigten Königreich ist diese Debatte schon in guten Zeiten an uns vorbeigegangen, und das ist jetzt auch in schlechten Zeiten so“, sagt er. Ein Anzeichen dafür sei die Lücke, die die Europa-Ausgabe von Politico nun in Brüssel fülle. „Es ist nicht das Problem, dass britische Journalisten euroskeptisch geworden sind, sondern dass sie überhaupt nicht in Europa sind.“
Es gibt aber auch britische Medien, die eine pro-europäische Linie fahren. Robert Shrimsley, Managing Editor von FT.com hat kürzlich erzählt, dass sich die Financial Times als „europäisches Medienunternehmen“ sehe. Andrew Tuck, Herausgeber des internationalen Magazins Monocle, sagt: „Als wir 2007 an den Start gingen, hatten wir das Gefühl, es gibt Platz für eine europäische Stimme. Wir wollten auf keinen Fall als eine britische Marke wahrgenommen werden, die durch eine englische Brille auf das Weltgeschehen blickt.“
Der pan-europäische Nachrichtensender Euronews hat seine Rolle während der Brexit-Debatte darin gesehen, „dem Fehlen einer verständlichen pan-europäischen Perspektive entgegenzuwirken“, sagt Chefredakteur Peter Barabas. „Der Brexit hat uns gelehrt, dass es in Krisenzeiten einen großen Bedarf an verantwortungsbewussten, objektiven und sorgfältig arbeitenden transeuropäischen Medien gibt, die allen Europäern sachliche Einblicke in Themen geben, die nationale und lokale Medien nicht auf ihrer Agenda haben, weil sie zu beschäftigt mit der lokalen Politik sind.“
Nach dem Mauerfall hat der in der Tschechoslowakei geborene britische Herausgeber Robert Maxwell 1990 die europäisch angelegte Wochenzeitung The European gegründet, mit dem Ziel den Geist der neuen Einheit des Kontinents einzufangen. Zwei Jahre später wurde sie von den Barclay-Brüdern übernommen, die 2004 auch die britische Telegraph Media Group kauften. The European zielte vor allem darauf, die Institutionen in Brüssel und Straßburg zur Verantwortung zu ziehen. Charles Garside, dienstältester Redakteur der Wochenzeitung (und nun Managing Editor bei der euroskeptischen Daily Mail), erinnert sich allerdings daran, dass die Institutionen der damals nur 12 Mitgliedstaaten völlig resistent gegenüber der Kritik waren.
Neuerliches Interesse an europäischen Angelegenheiten
The European wurde 1998 eingestellt. Die Wochen-Zeitung New Europe, die vom griechischen Herausgeber Basil Koronakis 1993 in Brüssel gegründet wurde, hat sich dagegen bis heute gehalten und zu einem multimedialen Produkt entwickelt. Der Sohn des Gründers, Alexandros Koronakis, hat New Europe übernommen und betont, dass es durchaus ein europäisches Publikum gebe, das an seiner Website und auch an den Publikationen seiner Konkurrenten Interesse habe. Für das neuerliche Interesse an europäischen Angelegenheiten sieht er zahlreiche Gründe: „Die politischer gewordene Europäische Kommission, einige starke Persönlichkeiten als Staatsoberhaupte, und natürlich die aufeinanderfolgenden Krisen sind Auslöser für das Wiederaufleben einer EU-Öffentlichkeit gewesen.“
New Europe blicke nun schon knapp 25 Jahre lang hinter die Kulissen der EU-Institutionen und schlage eine Brücke zu den EU-Bürgern, so Koronakis. Er akzeptiere, dass es Politico Europe gelungen ist, „mit seinem sehr großen Budget Wellen zu schlagen“, aber fragt sich, ob es sich auch auf Dauer halte. Politico Europe, sagt er, scheine auf alle Fälle das Ziel zu verfolgen, „Lärm zu machen.“
Bei Politico Europe zeigt sich Kaminski derweil zufriedenmit seiner Art des Journalismus. „Wenn die alte Garde, die in der Brüssel-Blase sitzt, unseren Ton nicht mag, dann ist es so. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, eine interessante, gut geschriebene Publikation herauszubringen.“ Politico, sagt er, gehe neue Wege und verfolge einen anderen Ansatz als die traditionellen Nachrichtenmedien, die sich vor allem auf das eigene Land konzentrieren und in ihren „Silos“ denken.
Vor allem ist Kaminiski davon überzeugt, dass er in Brüssel im Zentrum des weltweiten Nachrichtengeschehens sei. „Trump ist eine spannende Story“, sagt er. „Aber die wirklich weltverändernden historischen Ereignisse haben sich hier ereignet – wie wir auch am Brexit sehen.“
Original-Version auf Englisch: Has The Media Failed Europe?
Übersetzt von Tina Bettels-Schwabbauer
Bildquelle: European Parliament / Flickr CC: Behind the scenes at the hearings of the candidate commissioners; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/
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