Wenn es um Pressefreiheit und Meinungsvielfalt in Europa geht, gehört Ungarn zu den problematischsten Ländern. Grund dafür ist die Medienpolitik der Regierung Viktor Orbáns. Der Medienmarkt ist nicht mehr in der Lage, dem politischen Druck effektiv zu widerstehen. Der Printmedienmarkt ist aber auch wirtschaftlich am Boden und die Online-Nachrichtenbranche kann kaum erfolgreiche alternative Geschäftsmodelle aufweisen.
Der Trend, dass gedruckte Zeitungen mehr und mehr Leser verlieren, ist weltweit zu beobachten. Die Entwicklung des digitalen Marktes hat nicht nur die Lesegewohnheiten, sondern auch den Werbemarkt drastisch verändert. Die traditionellen Medien haben immer weniger Werbeeinkommen und brauchen neue Finanzierungsmodelle. In Ungarn haben Printmedien noch größere Verluste hinnehmen müssen als in Westeuropa – mit fatalen Folgen.
„Es gibt heute in Ungarn keine überregionale politische Tageszeitung mehr, die sich allein durch Werbe- und Verkaufserlöse finanzieren könnte”, sagt Ágnes Urbán, Dozentin an der Corvinus-Universität in Budapest. Laut der Medienforscherin haben ungarische Tageszeitungen mit Werbung noch nie viel verdient. Dazu seien dann noch die Verkaufszahlen Jahr für Jahr dramatisch gesunken.
Inzwischen treten der ungarische Staat, seine Unternehmen und Institutionen als Werbekunden auf dem Markt auf und finanzieren damit indirekt aus Staatsgeldern vor allem diejenigen Zeitungen, die regierungstreu berichten. Einen wirklichen Wettbewerb gibt es auf dem ungarischen Zeitungsmarkt schon lange nicht mehr.
Die zwei großen Traditionszeitungen, die linke Népszabadság und die konservative Magyar Nemzet, wurden von den jeweiligen Eigentümern eingestellt – die Entscheidung hatte in beiden Fällen einen politischen Hintergrund.
Zum Zeitpunkt der Schließung hatten beide Zeitungen schon die Mehrheit ihrer zahlenden Kunden verloren. Von der linken Népszabadság wurden täglich nur noch 37.000 Exemplare verkauft, etwa 87 Prozent weniger als 1993. Für die konservative Magyar Nemzet stehen bis 2000 keine vergleichbaren Auflagezahlen zur Verfügung. Im Jahr 2000 betrug ihre Auflage 68.000. Als die Zeitung 2018 eingestellt wurde, lag sie bei nur noch 13.000.
Die linke Nepszava ist die letzte kritische Tageszeitung Ungarns; von ihr werden täglich 21.000 Exemplare verkauft. Von den regierungsnahen Zeitungen stehen keine offiziellen Zahlen zur Verfügung. Laut Schätzungen des Wirtschaftsnachrichtenportals G7.hu, das die öffentlichen Jahresberichte der Verlage eingesehen hat, beträgt die Auflage der Tageszeitung Magyar Idök – die seit 6. Februar unter dem Namen Magyar Nemzet herausgegeben wird – knapp 8.000 und die der Tageszeitung Magyar Hirlap etwa 6.000.
In den Nachbarländern sieht es besser aus
Die Auflagezahlen in anderen Ländern der Region bekräftigen, dass der ungarische Printmedienmarkt ein besonders problematischer Fall ist. Sowohl in der Slowakei als auch in Tschechien sind die Auflagezahlen der überregionalen Tageszeitungen eindeutig höher als in Ungarn. Von der slowakischen Tageszeitung Plus jeden den wurden 2018 täglich 38.000 Exemplare verkauft, von der Tageszeitung SME 22 1.000 und von Hospodárske Noviny 8.500. Diese Zahlen sind besonders bemerkenswert, wenn man berücksichtigt, dass in der Slowakei nur etwa halb so viele Menschen leben wie in Ungarn, nämlich 5,4 Millionen.
Auch in Tschechien, das etwa so viele Einwohner wie Ungarn hat, sieht es besser aus. Sowohl von Hospodárske Noviny als auch von Lidovné noviny werden über 30.000 Exemplare verkauft, von Mladá fronta Dnes 116.000 und von Pravda 68.000.
Laut Ágnes Urbán gibt es diverse Gründe, warum die ungarische politische Presse es nicht geschafft hat, ihre Leser zu halten. Neben Management-Problemen – so konnten sich zum Beispiel bei der Népszabadság der Mehrheitseigentümer (die SchweizerRingier Mediengruppe) und der Minderheitseigentümer (die Parteistiftung der ungarischen Sozialistischen Partei) in geschäftlichen Fragen oft nur schwer einigen – sei es auch ein großes Manko gewesen, keine wettbewerbsfähige Online-Strategie zu haben. Die großen Nachrichtenportale, die teilweise auch noch heute unabhängig von der Regierung berichten können, wurden von neuen Akteuren etabliert, nicht von den traditionellen Pressehäusern. Viele junge und innovative Journalisten wechselten in die Online-Branche oder fingen erst gar nicht an, bei Traditionszeitungen zu arbeiten.
Außerdem, meint Urbán, sei die Frage, ob Ungarn nicht mindestens eine Qualitätszeitung brauche, die politisch weder rechts noch links, sondern in der Mitte stehe, nie gestellt worden.
Ein Land komplett ohne Paywalls
In Polen sind zwar die Auflagezahlen der Printzeitungen genauso stark gesunken wie in Ungarn – allerdings ist Polen Vorreiter in Sachen Paywall, während es in Ungarn bis heute keine einzige Paywall bei Online-Nachrichtenmedien gibt.
„Das Medienunternehmen, das jetzt in Ungarn eine Paywall einführen würde, hätte wahrscheinlich keine Überlebenschance, weil die Leser sich gar nicht daran gewöhnen könnten, für Online-Inhalte bezahlen zu müssen. Sie würden wahrscheinlich weiterhin die kostenlosen Inhalte der Konkurrenz nutzen anstatt für die Inhalte zu zahlen”, so Ágnes Urbán.
Die Medienforscherin kann sich vorstellen, dass eine gemeinsame Plattform der kritisch berichtenden Medien und eine gemeinsame Paywall wirtschaftlich tragbar sein könnten. Moralisch sei das allerdings keine gute Idee, da sich dann noch mehr Bürger der kostenlosen Regierungspropaganda zuwenden könnten anstatt für die regierungskritischen Inhalte zu zahlen.
Rettung durch Crowdfunding und das „neue Vertrauen”?
Einige ungarische Online-Nachrichtenmedien haben Crowdfunding als alternatives Geschäftsmodell für sich entdeckt. Die Investigativplattform Atlatszo.hu verwendete dieses Finanzierungsmodell als erstes – die Redaktion finanziert sich bis heute aus Spenden heimischer und ausländischer Stiftungen und von Lesern. Inzwischen hat sie zahlreiche Nachahmer gefunden, darunter das Investigativportal Direkt36.hu, die linke Nachrichtenplattform Merce.hu, das Nachrichtenportal 444.hu und das erst kürzlich gegründete konservative Online-Medium Valasz.hu.
Auch die Redaktion des größten Nachrichtenportals Index.hu wandte sich nach Veränderungen in der Eigentümerstruktur, die Anlass zur Sorge um die finanzielle Unabhängigkeit gab, an die Öffentlichkeit und sammelte Spenden.
Die ehemaligen Redakteure der Tageszeitung Magyar Nemzet gründeten im April 2018 das gedruckte Wochenblatt Magyar Hang, dessen erste Ausgaben komplett aus Spenden finanziert wurden. Inzwischen finanziert sich die Zeitung auch durch Vertriebserlöse und zu geringen Teilen durch Einnahmen aus Werbung.
Redaktionen, die sich ausschließlich aus Vertriebserlösen und Spenden finanzieren, müssen zwar mit einem kleinen Budget und wenigen Mitarbeitern auskommen, aber dafür genießen sie ein neues Vertrauen von Lesern, die mit ihren Spenden bewusst diese bestimmte Redaktion fördern, obwohl andere Inhalte weiterhin kostenlos zu nutzen sind.
Die Medienpolitik der Regierung Orbáns kann mit dieser Entwicklung kaum etwas anfangen. Die Presseanfragen mehrerer kritischen Medien werden von der Regierung sowie von Ministerien und Behörden systematisch ignoriert. Anfang Januar 2019 wurde den Journalisten der Wochenzeitung Magyar Hang und der Online-Plattform Merce.hu keinen Zutritt zur Pressekonferenz des Ministerpräsidenten gewährt.
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