Algeriens zweite Revolution

8. April 2020 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Internationales, Pressefreiheit • von

Nach zwei Jahrzehnten in Stagnation ist die algerische Bevölkerung repolitisiert und in einer ungeahnten Protestbewegung vereint. Doch staatliche Repressionen gefährden eine unabhängige, kritische Berichterstattung der Ereignisse.

Die Medien sind gefragt, über die Proteste in Algerien zu berichten und sie einzuordnen.

Im nationalen Gedächtnis Algeriens sind die Erinnerungen an den blutigen Bürgerkrieg noch immer lebendig. Sie versetzten das Land seit über 20 Jahren in politischen Stillstand. Doch im vergangenen Jahr eroberte eine Protestbewegung die Straßen des Landes. Langzeit-Machthaber Abdelaziz Bouteflika hatte seine fünfte Kandidatur ankündigt – und zog sie angesichts der Proteste zurück. Das Regime verkündete Neuwahlen.

Dennoch wuchs der Widerstand an zu einer friedlichen Massenbewegung aller sozialen Schichten und Altersgruppen. Unter dem Namen „Hirak“ nahm die Bewegung am 22. Februar 2018 ihren Anfang. Seitdem erheben sich ohne Unterlass Millionen gegen Machtmissbrauch und Korruption. Der neue Präsident Abdelmadjid Tebboune repräsentiert nur das fortwährende Machtregime. Mit diesem bloßen Personalwechsel geben sich die Demonstranten nicht zufrieden und fordern stattdessen eine umfassende Revision des bestehenden Systems.

Algerische und auch internationale Medien sind gefragt, über die Ereignisse zu berichten und sie einzuordnen. Doch im Kontext der Aufstände sehen sich Journalisten und Medienhäuser zunehmend Repressionen ausgesetzt; ausländische Journalisten kommen kaum ins Land. In der Rangliste der Pressefreit von Reporter ohne Grenzen (RSF) rutschte Algerien innerhalb eines Jahres von Platz 136 auf 141 – und die NGO meldet immer weitere Verhaftungen.

Verhaftete Journalisten, gesperrte Nachrichtenseiten

Seit dem Wahlkampf Ende 2019 verschärfte sich die Situation. Das betraf vergangenes Jahr etwa den Journalisten Aissa Moussi der regierungsnahen Zeitung Le Temps d’Algérie und drei ihm solidarische Kollegen, die kurzerhand suspendiert wurden. Auf seinem Facebook-Account hatte er die Zeitung wegen ihrer verzerrenden Berichterstattung über die Proteste zugunsten des Regimes kritisiert. Khaled Drareni, unter anderem RSF-Korrespondent und Leiter des Nachrichtenportals Casbah Tribune, wurde festgenommen, nachdem er Anfang März das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen eine Hirak-Demonstration filmte. Er ist seitdem in Untersuchungshaft (Stand 8. April 2020).

In einem anderen Fall traf es eine ganze Redaktion: Die Nachrichten-Webseite Tout sur Algérie (TSA) hält an ihrem kritischen Standpunkt fest. Jedoch ist sie in Algerien nicht mehr zugänglich; die Regierung hat die Webseite landesweit gesperrt. Die Beispiele sind bezeichnend, wie in der aktuellen Situation Anstrengungen für unabhängigen Journalismus ersticken.

Zögerlich hatte das Mediensystem in den Jahren vor dem Hirak Instrumente hervorgebracht, die einen Qualitätsjournalismus im Sinne medienethischer Normen stärken und sich externer Regulierung entgegenstellen. Kommunikationswissenschaftler sprechen von Media-Accountability-Instrumenten und benennen konkrete Anwendungen des Konzepts. Mit diesen beschäftigten sich etwa der französische Wissenschaftler Claude-Jean Bertrand, der Vorreiter komparativer Forschung in dem Bereich, und das länderübergreifende Forschungsprojekt MediaAcT.

MediaAcT berücksichtigt zwölf Instrumente: hoch institutionalisierte wie einen Presserat oder kaum institutionalisierte wie Weblogs, Mediensystem interne wie Medienkritik oder Mediensystem externe wie Kommentare in den sozialen Medien. Wie auch andere Studien identifiziert MediaAcT Charakteristika von Mediensystemen, die das Entstehen und Funktionieren von Accountability-Instrumenten bedingen oder verhindern.

Regelmäßig vernachlässigen die Kommunikationswissenschaften Mediensysteme im Globalen Süden und so haben sie bisher auch Media Accountability in Algerien ignoriert. Doch Fragen nach Stand und Chancen von Media Accountability sind drängend im Kontext zunehmender staatlicher Repressionen. Die Maßnahmen gegen Journalisten und die Nachrichten-Website TSA sind repräsentativ.

Das Land der Zeitungsleser

Algerien gilt als ein Land der Zeitungleser. Auflagen waren lange auf einem Niveau vergleichbar mit denen in südeuropäischen Ländern und einzigartig für die MENA-Region. Algeriens demokratischer Frühling in den späten 1980er Jahren bescherte den Medien ein gewisses Maß an Freiheit; der Parteienpluralismus reflektierte in der Medienlandschaft. Die polarisierende „Presse d’opinion“ lieferte Kaufanreize, band mit kritischem Meinungsjournalismus die Leserschaft und stärkte die Rolle der Presse.

Die Maison de la Presse in Alger: Auf dem ehemaligen Kasernengelände vereinen sich heute viele Zeitungsredaktionen.

Auf den demokratischen Frühling folgte der Bürgerkrieg, den die Algerier nur „La décennie noir“, das schwarze Jahrzehnt nennen. Die komplexen Konfliktlinien wirken bis heute und zeichnen auch die Medienlandschaft. Längst sind Spitzenwerte bei den Auflagen von einst Geschichte und der finanzielle Druck eine weitere Bedrohung des Journalismus.

Um einen alternativen Diskurs anzustoßen, weichen Journalisten regelmäßig auf Social-Media-Plattformen aus. In dem virtuellen Kommunikationsraum sprechen sie aus, was die klassischen Medien nicht publizieren. So fand Aissa Moussis Kritik an dem Aufmacher der Le Temps d’Algérie auf seinem privatem Facebook-Account statt; so zählt der Twitter-Account von Khaled Drareni über 144.000 Follower (Stand: 8. April 2020).

Einer vergleichenden Studie zu Media Accountability im Maghreb[1] zufolge sind in Algerien Debatten in den sozialen Netzwerken entscheidend für nachhaltige Medienkritik. Als ein partizipatives und kaum institutionalisiertes Instrument messen die befragten Journalisten ihnen mehr Bedeutung zu als etwa einem Presserat als hoch-institutionalisiertes Instrument. Ein entsprechendes, branchenweit akzeptiertes Organ setze sich in Algerien bisher nicht durch. In autoritären Systemen bleiben Bedenken, dass ein Presserat je nach der personellen Besetzung und den Sanktionsmöglichkeiten zu einem weiteren Druckmittel externer Regulierung verkommt. Doch um presseethische Qualitätsstandards zu stärken, bedarf es branchenweit akzeptierter Selbstregulierung.

Der Ruf nach unabhängigen Medien

Online Media-Accountability-Instrumente jenseits der sozialen Medien nutzen Medienhäuser und Journalisten kaum. Diese könnten dem Leser etwa Nachrichtenproduktion und Selektionskriterien transparent machen, Vertrauen aufbauen und Glaubwürdigkeit stärken. Dieses Ziel verfolgen beispielsweise interne Konferenzen, die Redaktionen im Web streamen. „Wir haben noch nie erwägt, Rezipienten virtuellen Zugang zu internen Abläufen zu gewähren. Was in der Redaktion passiert, soll in der Redaktion bleiben“, heißt es von einem der Journalisten im Einklang mit der Mehrheit der Befragten. Er ergänzt: „Ohnehin würde das Internet hierzulande die Datenmenge wahrscheinlich nicht störungsfrei übermitteln.“

Wandmalereien in Alger erinnern an den Unabhängigkeitskrieg. Damals kämpfte das Land gegen Kolonialmacht Frankreich. Jetzt erheben sich die Algerier gegen das korrupte Regime.

In der Tat hinkt Algerien etwa seinen Nachbarstaaten technologisch hinterher und baute erst verzögert ein Breitbandnetz auf. Die traditionellen Medien nutzen die Möglichkeiten des Internets nur zurückhaltend. Die Kommentarfunktion auf den eigenen Webseiten stellen sie oft lieber ab, statt die Debatten zu moderieren und mit ihren Lesern zu kommunizieren.

Junge Nachrichten-Webseiten wie l-info.com machen vor, wie sie mit unabhängiger Berichterstattung ihre Leser erreichen. Ein Vorreiter unter diesen reinen Online-Diensten ist die frankophone Nachrichten-Webseite TSA. Sie verzeichnet unter den journalistischen Webseiten die höchste Reichweite im Land und wird regelmäßig auch von Exil-Algeriern konsultiert.

Das Regime wollte TSA wiederholt zum Schweigen bringen und sperrte die Homepage erstmals im Oktober 2017 – ohne Ankündigung und Begründung. Mit Algérie Télécom (AT) hat es ein Monopol über das Breitbandnetz und führte diese Macht im Juni vergangenen Jahres erneut vor. TSA war in Algerien nicht mehr erreichbar, wurde im November für drei Wochen freigeschaltet, bis die Internetzensur erneut zuschlug. Die Pressefreiheit im Land zu stärken, sei bloß eine leere Versprechung, verurteilt TSA das Vorgehen der Regierung. Die Willkür bedrohe das finanzielle Überleben der Webseite.

Im Durchschnitt zählt TSA 200.000 Visits pro Tag. Der Hirak bescherte der Nachrichtenseite zwischenzeitlich bis zu einer Million Visits, wie es in einem Beitrag der französischen Zeitung Le Monde hieß. Die Zahlen belegen: Die algerische Bevölkerung will einen Systemwechsel. Ebenso will sie unabhängige Medien, die kritisch darüber berichten.

 

Quellen:

Bertrand, Claude-Jean (2002): Media ethics and accountability systems. London: Transaction.

Fengler, Susanne; Eberwein, Tobias; Leppik-Bork, Tanja: Mapping media accountability – in Europe and beyond. IN: Fengler, Susanne; Eberwein, Tobias; Leppik-Bork, Tanja (edts.) (2011): Mapping media accountability – in Europe and beyond. Köln: Halem Verlag, p. 7–21.

Gerlach, Daniel (2015): Algerien: Im Land der Zeitungsleser. IN: Richter, Carola; El Difraoui, Asiem : Arabische Medien. Konstanz: UKV Verlagsgesellschaft, p. 167–178.

 

[1] Caroline Lindekamp hat für ihre Promotion qualitative Interviews mit Journalisten sowie Experten-Interviews in Algerien, Marokko und Tunesien geführt. Sie ergänzte die Erhebungen mit einem Think-Aloud-Test und einer Desk Study. In Algerien befragte sie 22 Journalisten. Aus verschiedenen Gründen hat Caroline Lindekamp ihren Interviewpartnern Anonymität in der Dissertation sowie damit verbunden Publikationen zugesagt. Zitate sind sinngemäß aus dem Französischen übersetzt.

 

Fotos: Caroline Lindekamp

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