Seit Beginn von Bolsonaros Präsidentschaft prägen Hetze, Desinformation und Gewalt die Arbeit von Medienschaffenden in Brasilien. Die Corona-Pandemie wirkt dabei wie ein Brennglas.
Ein Präsident, der Corona verharmlost, hochinfektiöse Mutationen des Erregers und Menschen, die unter prekären Bedingungen leben und arbeiten – die brasilianische Bevölkerung steht in der Pandemie einer chaotischen und gefährlichen Kombination gegenüber.
Es sind unsichere Zeiten – auch und vor allem für Journalistinnen und Journalisten in Brasilien. Viele werden von der Angst beherrscht, ihre Gesundheit und ihre Arbeit zu verlieren. Dies ist nicht nur eine Folge der Covid-19-Pandemie, sondern auch eine Folge der politischen Entwicklungen und des Populismus im Land. Bei der aktuellen Polarisierung im Land kann man eigentlich von einer „doppelten Pandemie“ sprechen, die sich direkt auf den Alltag der Medienschaffenden auswirkt.
Es verbreiten sich immer mehr illiberale Meinungen, die Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten nach sich ziehen und ihre Sicherheitslage enorm verschlechtern. Aufgrund dieser „doppelten Pandemie“ wurde das Jahr 2020 für brasilianische Medienschaffende zum gefährlichsten Jahr seit den 1990ern, als der brasilianische Journalistenverband FENAJ begonnen hat, die Gewalt gegen Journalisten zu beobachten. Laut der FENAJ stieg die Gewalt gegen Medienschaffende im vergangenen Jahr um mehr als das Doppelte, begünstigt durch die Handlungen von Jair Bolsonaro. Der Präsident allein war für mehr als 40 % der Angriffe gegen Medien verantwortlich.
Die Präsidentin der FENAJ, Maria José Braga, weist darauf hin, dass Gewalt und Gewaltbereitschaft in Brasilien gegen Medienschaffende generell zugenommen haben: Die Anzahl der Gerichtsverfahren, die eine Zensur zum Ziel hatten, war mehr als dreimal so hoch wie im Jahr 2019 und stieg von 5 auf 16. Verbale und virtuelle Angriffe stiegen um fast das Vierfache von 20 auf 76, während Maßnahmen zur Informationskontrolle (einschließlich Selbstzensur von den Medienschaffenden) um fast das Achtfache auf 85 stiegen. Alarmierend ist auch die Zunahme der physischen Angriffe: Nachdem im Jahr 2019 die Zahl der angegriffenen Journalisten zurückgegangen war, stieg sie 2020 um mehr als das Doppelte auf 32 an.
Journalistinnen stehen besonders im Fokus der Angriffe
Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) nutzt das „System Bolsonaro“ vor allem soziale Medien als Hauptkanal, um Hass gegen bestimmte Personen, Medienorganisationen und die Presse im Allgemeinen zu verbreiten. Es zielt auch darauf ab, Bürger zu mobilisieren, sich gegen den freien Journalismus zu stellen. Dabei bekommt Bolsonaro viel Unterstützung von seinen Söhnen und engsten Ministern. Sie verübten etwa zwei Drittel aller Angriffe im Jahr 2020.
Frauen stehen dabei besonders im Fokus. Nach Angaben der brasilianischen Vereinigung für investigativen Journalismus (Abraji) trafen mehr als die Hälfte aller bis November 2020 beobachteten virtuellen Angriffe gegen die Presse Journalistinnen. Bolsonaro und seine Unterstützer greifen auch gezielt einzelne Journalistinnen auf persönlicher Ebene an.
Der Fall von Patrícia Campos Mello stellt die aktuelle Situation von Journalistinnen in Brasilien auf sehr alarmierende Weise dar. Im letzten Wahlkampf 2018 hatte die Journalistin aufgedeckt, dass Geschäftsleute illegal eine Desinformationskampagne für Bolsonaro über WhatsApp finanzierten. Als diese Vorwürfe publik wurden, verbreiteten Bolsonaro und andere Politiker die Behauptung, sie habe die Informationen von einem Beteiligten für sexuelle Gefälligkeiten erhalten. Diese Lügen lösten eine Welle von sexualisierten und frauenfeindlichen Beleidigungen gegen die Journalistin aus. Außerdem wurde ihr privater WhatsApp-Account gehackt und ihre Familienmitglieder wurden bedroht.
Es gibt Menschen, die die Hoffnung auf einen freien Journalismus nicht verlieren und versuchen, sich gemeinsam gegen Bolsonaro zu stellen: Im vergangenen Dezember unterzeichneten zehn Organisationen (u.a. Brazil Transparency, Ethos Institut und Brazilian Investigative Journalists Association) einen offenen Brief, in dem sie die mangelnde Transparenz der brasilianischen Regierung und die Risiken für die Gesellschaft anprangerten, darunter auch Zensurmaßnahmen für die Medien. Laut der Organisationen werden Informationen über die Covid-19-Pandemie unter Verschluss gehalten und zudem die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten untergraben, indem sie online diskreditiert werden. Zudem vermeide die Regierung Pressekonferenzen.
Desinformation und politische Polarisierung
Während das brasilianische Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt, lehnt Präsident Bolsonaro weiterhin Anti-Corona-Maßnahmen ab – und verbreitet Desinformationen und Fehlinformationen über die sozialen Medien.
Allein im ersten Quartal 2021 hat Jair Bolsonaro bereits 29-mal gegen die Regeln der Facebook-Community verstoßen. Mindestens 22 Vorfälle betrafen seine Live-Videos über Facebook Live, die er regelmäßig donnerstags abhält. Unter anderem kritisierte er darin Social Distancing, riet vom Tragen von Mund- und Nasenschutz ab und warb für Behandlungsmethoden, für die es keinen wissenschaftlichen Beweis gibt. Er verspottete auch kranke Menschen und sagte: „Wenn Sie meinem Appell nicht folgen wollen, kein Problem. Wenn Sie nicht mehr atmen können, folgen Sie dem Ratschlag von Minister Mandetta und gehen ins Krankenhaus.“ Während Bolsonaro das sagte, legte er eine Hand auf seine Brust und tat so, als bekomme er keine Luft mehr. Luiz Henrique Mandetta war bis April 2020 Gesundheitsminister. Er wurde entlassen, nachdem er noch versucht hatte, Ausgangs- und Kontaktsperren durchzusetzen. Mitte März wechselte Bolsonaro bereits zum dritten Mal seinen Gesundheitsminister aus.
Studien zeigen den Zusammenhang zwischen Desinformation und politischer Polarisierung in Brasilien. Unter anderem fanden Ajzneman, Cavalcanti und Da Mata Belege für den Zusammenhang zwischen dem Corona-Verleugnungsdiskurs des brasilianischen Präsidenten und der Achtung der Social-Distancing-Maßnahmen von Seiten der Bevölkerung im März 2020, indem sie Wahlinformationen mit geolokalisierten Daten von 60 Millionen Mobiltelefonen und persönlichen Kartentransaktionen kombinierten. Am Tag, nachdem Bolsonaro in einer Rede die Anti-Corona-Maßnahmen kritisiert und Covid-19 als „kleine Grippe“ bezeichnet hatte, missachteten in Gegenden mit einer größeren Anzahl von Bolsonaro-Wählern mehr Menschen die Social-Distancing-Maßnahmen als an anderen Orten.
Brasilien war das einzige Land, in dem im vergangenen November noch Desinformationen über Chloroquin, Ivermectin und Azithromycin zur Heilung von Covid-19 im Umlauf waren. Die Studie „Scientific [self] isolation“ zeigte, dass die Nutzung von Medikamenten mit nicht nachgewiesener Wirksamkeit als Frühbehandlung ein wichtiges Thema in der öffentlichen Debatte blieb, selbst nachdem sie durch mehrere Studien wissenschaftlich abgelehnt wurden. Laut Studienautor Machado und seinen Kollegen ist in Brasilien die Desinformation über Covid-19 stark mit politischen Auseinandersetzungen auf verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung verbunden.
Eine andere Studie legt dar, wie die Desinformationsagenda in WhatsApp-Gruppen politischen Themen in der öffentlichen Debatte folgt. Die Ergebnisse zeigen, dass „irreführende Informationen und gefälschte Inhalte verwendet wurden, um die Gefahren der Pandemie zu minimieren und von Bolsonaros Gegnern abzulenken,“ so Felipe Bonow Soares und sein Team. Sie kommen auch zu dem Schluss, dass „die Desinformation über das Virus politisch gerahmt war, was rechtsextremen Ansichten zugutekam und half, eine politische Krise zu umgehen, die Bolsonaros Regierung hätte schaden können.“
Gerade in der Corona-Krise ist zuverlässiger und qualitativ hochwertiger Journalismus entscheidend. Desinformation zu bekämpfen und den Menschen zu helfen, sich richtig vor dem Virus zu schützen, könnte eine wichtige Rolle für den Weg aus der Pandemie spielen. Dazu sind freie Medien notwendig, die weder unter gewalttätigem oder politischem Einfluss noch unter dem Druck ihrer Eigentümer stehen. Es ist wichtig, dass sie Unterstützung erhalten – auch auf internationaler Ebene. Organisationen wie Reporter ohne Grenzen sollten es nicht versäumen, die Situation in Brasilien zu beobachten und zu kritisieren.
Quellen
Ajzenman, Nicolás and Cavalcanti, Tiago and Da Mata, Daniel, More Than Words: Leaders’ Speech and Risky Behavior during a Pandemic (2020). Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3582908 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3582908
FENAJ. (2020). Violência contra jornalistas e liberdade de imprensa no Brasil – relatório 2020. 2021. Fenaj: Brasilia. Available in: https://fenaj.org.br/wp-content/uploads/2021/01/relatorio_fenaj_2020.pdf
Machado C. V.; Santos, J. G.; Santos, N.; Bandeira, L. (2020, November). Scientific [self] isolation: international trends in misinformation and the departure from the scientific debate. Available in: https://laut.org.br/wp-content/uploads/2020/11/Political-Self-Isolation-vF.pdf.
Soares et al. (2021) Research note: Bolsonaro’s firehose: How Covid-19 disinformation on WhatsApp was used to fight a government political crisis in Brazil. 2021. Harvard Kennedy School Misinformation Review. DOI: https://doi.org/10.37016/mr-2020-54.
Schlagwörter:Brasilien, Corona-Pandemie, Covid-19, Desinformation, Gewalt gegen Journalisten, Jair Bolsonaro, politische Polarisierung