Das Presse-Paradoxon

30. Januar 2019 • Pressefreiheit • von

Journalisten stehen vor einer neuen Herausforderung. Sie haben die verantwortungsvolle Aufgabe, Ruhe in die öffentliche Kommunikation zu bringen. Ausgerechnet sie, diese unsteten Geister.

1832 gründeten Vorkämpfer für die Pressefreiheit – unter ihnen Philipp Jakob Siebenpfeiffer – in Zweibrücken den „Deutschen Vaterlandsverein zur Unterstützung der Freien Presse“. Daran erinnert jedes Jahr die Siebenpfeiffer-Stiftung mit einem Festbankett.

Zum diesjährigen hielt Tanjev Schultz, Leiter des Journalistisches Seminars am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, eine Rede über die Freiheit der Medien und das Vertrauen in die Demokratie, die das EJO – leicht gekürzt – dokumentiert:

Es ist wohl etwas dran an der alten Mahnung: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.“ Wenn ein amerikanischer Präsident Journalisten als „Feinde des Volkes“ beschimpft, sollte die Zeit des Dösens wirklich vorbei sein. Zum Glück wachen viele tatsächlich auf. Es wirkt paradox: Da muss erst ein Politik-Rüpel kommen, damit Zeitungen wie die New York Times als Stützen der Demokratie erkannt und revitalisiert werden. Doch täuschen wir uns nicht. Es gibt noch viel zu viele, die den Attacken auf die Presse applaudieren. Es ist sogar zu befürchten, dass sich die Journalismusfeindlichkeit dauerhaft in einem relevanten Teil der Bevölkerung verfestigt. Auch in Deutschland.

Am Institut für Publizistik in Mainz befragen meine Kollegen und ich jedes Jahr die Bevölkerung nach ihren Einstellungen zu den Medien. Und auch wenn das Vertrauen der Mehrheit in Deutschland in den Journalismus noch immer recht groß und stabil ist, so sehen wir doch einen Anteil von zwischen 15 bis 25 Prozent, die sehr pauschal über die Medien schimpfen. Schlimmer noch: Die sagen, Medien und Politik steckten unter einer Decke und würden gemeinsam versuchen, die Menschen zu manipulieren. Der Lügenpresse-Vorwurf geht so schnell nicht mehr weg. Und es ist besonders bitter, wenn Bürger ausgerechnet in Qualitätsmedien eher finstere Mächte sehen als Aufklärer und Streiter fürs Gemeinwohl.

„Democracy dies in Darkness“ lautet das schöne Motto der Washington Post – und ja, die Demokratie stirbt in Geheimoperationen; sie stirbt in abgeschotteten Zirkeln wirtschaftlicher und politischer Macht, sie geht zugrunde in dunklen Gefängnissen und schmutzigen Kerkern. Aber, wiederum paradox, die Demokratie, sie stirbt heute auch im grellen Licht. Democracy dies in glare. Sie wird überbelichtet, sie wird geblendet, sie erblindet.

Was nützt eine freie Presse, wenn sie ihre Freiheit nicht nutzt?

Da sind die Regenten und Populisten, die unablässig twittern und plappern und agitieren. Alle Kanäle sind kommunikativ zugestopft  vom Proll oder vom Troll, von den Militanten und den Penetranten. Hört das Publikum noch hin, wenn eine leise Stimme der Vernunft spricht? Was nützt eine freie Presse, wenn sie ihre Freiheit nicht nutzt? Und was nützt eine freie Presse, wenn sie ihre Freiheit zwar nutzt, aber kaum noch durchdringt zum demos?

Doch Halt! Diese Gedanken sind ja fast schon Luxus in Anbetracht der Lage in vielen Ländern dieser Welt, in denen die Pressefreiheit noch immer oder schon wieder mit schnöder Gewalt und illegitimen Gesetzen eingeschnürt wird. Und das mittlerweile sogar mitten in der Europäischen Union. Amerika ist nun wirklich nicht das einzige Problem.

Wir sehen zu, wie in Ungarn die Medien zur Beute der Regierung und ihrer Freunde werden. Wir sehen zu, wie Journalisten in Tschechien verunglimpft werden. Oder wie die couragierte  Journalistin Daphne Galizia auf Malta buchstäblich weggebombt wird. Und denken wir an die Türkei, müssten wir eigentlich hier und heute sofort aufbrechen zum Hambacher Schloss und dort in Solidarität uns versammeln, gemeinsam mit allen ins Exil getriebenen Türken –  und noch dazurufen alle, die pfeifen auf den tumben Nationalismus, mit dem Populisten und Radikale die Tradition der Freiheit und die schwarz-rot-goldene Farbe der Demokratie kapern wollen.

Es sind keine leeren Worte zu sagen, alle weltoffenen Demokraten müssen zusammenstehen. Wir sind an einem Punkt angekommen in Europa, in Deutschland, an dem wir lernen müssen, unsere politische Kultur nicht mehr nur zu konsumieren wie unterwegs inhaliertes Fast-Food. Wir müssen wieder lernen, in Ruhe und mit Sorgfalt zu kochen. Wir müssen darauf achten, dass wir die Dinge auf der Zunge zergehen lassen.

Denn die Demokratie ist ein tägliches Fest. Wir müssen es feiern im Großen und im Kleinen. Wir wollen es gemeinsam tun, denn auch nur gemeinsam lässt sich gut streiten. Wir scheuen nicht die Auseinandersetzung und den Dissens, aber wir lieben die Freiheit des anderen so wie unsere eigene.

Trotz Freiheit verbreiten sich Verdruss und Unbehagen

Wir brauchen einander auch, um diese Liebe zur Freiheit gegen ihre Verächter zu verteidigen. Wir erinnern uns heute an Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der so bewundernswert unverzagt war. Auch er war nicht allein. Die Einladung zum „Nationalfest der Deutschen zu Hambach“ (Hambacher Fest, 7. Mai 1832) veröffentlichte er zusammen mit dem Publizisten Johann Georg August Wirth. Es war Wirth, der zuvor – am 3. Februar 1832 – in der „Deutschen Tribüne“ den Artikel „Deutschlands Pflichten“ geschrieben hatte. Darin attackierte er die Herrschenden, sprach von einer „Vernichtung der freien Presse“ und einem „Terrorismus gegen deren unabhängige Organe“.

Wie frustriert wären Wirth und Siebenpfeiffer, wenn sie erführen, wie schlecht es um diese Freiheit in vielen nahen und fernen Ländern bestellt ist! Und würden sie sich nicht Sorgen machen, dass die Lage in Deutschland auf Dauer weniger stabil sein könnte, als es den Anschein hat? Wer die Geschichte studiert, bekommt ein gutes, leider manchmal mulmiges Gefühl dafür, dass die Gegenwart morgen schon wieder Geschichte sein wird.

Wo das Leben vergleichsweise frei und die politischen Systeme vergleichsweise offen sind, verbreiten sich trotzdem Verdruss und Unbehagen. Es wirkt paradox. Es scheint so, als könnte man die Freiheit nicht schätzen und beanspruchen, ohne zugleich unter ihr zu leiden. So wunderbar die Meinungs- und Pressefreiheit ist, sie ist anstrengend. Sie lässt eben nicht nur eine glockenklare Stimme der Vernunft erklingen, sondern einen chaotischen Chor. In der Kakophonie stecken laute und leise Töne, Schwungvolles, aber auch furchtbar Ödes und Redundantes. Nur eines gibt es eigentlich nie: Ruhe. Nicht mal eine kurze Pause.

In modernen Gesellschaften wird den Massenmedien die Funktion zugesprochen, Themen, Meinungen und Aufmerksamkeit zu bündeln und eine gewisse Ordnung und Struktur der öffentlichen Kommunikation herzustellen. Im Zeitalter der sozialen und unsozialen Medien, in der sich jeder Einzelne mit Schlautelefonen bewaffnet und jederzeit einen publizistischen Angriff einleiten kann, fällt es allerdings immer schwerer, Ordnung zu stiften. Es ist eher wie im Wilden Westen: Wer zieht schneller?

Im Journalismus braucht es Substanz und einen langen Atem 

Journalisten stehen vor einer neuen Herausforderung. Paradoxerweise haben nun ausgerechnet sie die verantwortungsvolle Aufgabe, Ruhe in die öffentliche Kommunikation zu bringen. Journalisten, diese unsteten Geister, sollen für Ruhe sorgen? Ist das nicht so, als würde man der AfD die Aufgabe geben, auf dem Hambacher Schloss ein neues Grundgesetz auszuarbeiten?

Für den Journalismus ist traditionell kaum etwas so bedeutsam wie Aktualität und Neuigkeit. Wir haben den rasenden Reporter vor Augen. Die Eilmeldung. Die Sondersendung. Die Live-Berichterstattung. In der globalisierten, digitalen Echtzeit-Öffentlichkeit ist Tempo nichts Besonderes mehr. Worauf es mehr denn je ankommt: Substanz. Und tatsächlich: so etwas wie Ruhe, manchmal Gelassenheit. Beharrlichkeit. Langer Atem.

Der Nachrichtenjournalismus wird es sich auch in Zukunft nicht leisten können, lahme Enten zu beschäftigen. Vor allem aber wird er es sich nicht leisten können, Enten in die Welt zu setzen. Insgesamt braucht der Journalismus, im Nachrichtenwesen und erst recht in allen anderen journalistischen Genres, einen Sinn für die Kunst des Innehaltens. Um der Sache willen; und der Sachlichkeit. Damit nicht genug. Die Aufgabe, Ordnung und Sinn zu stiften, erfordert mehr denn je, sich der im Journalismus gern gepflegten übermäßigen Vereinfachung und spritzigen Zuspitzung zu verweigern – und sich selbst und sein Publikum mit Komplexitäten anzufreunden.

Es wirkt auch dies paradox. Traditionell wird dem Journalismus die Funktion zugesprochen, Komplexität zu reduzieren. Das ist nicht unbedingt falsch, wenn damit in erster Linie gemeint ist, etwas verständlich aufzubereiten. Die große Herausforderung besteht jedoch darin, die Komplexität vieler sozialer und technischer Prozesse und Phänomene überhaupt erkennbar und eine Kommunikation darüber jenseits abgeschirmter Fachzirkel möglich zu machen.

Auf der einen Seite leben wir in einer hochdifferenzierten Gesellschaft, die jeden kognitiv überfordern muss. Auf der anderen Seite leben wir in einer Medienwelt, in der beständig Erregungs-, Banalisierungs- und Vereinfachungswellen über uns schwappen und uns das Atmen und das Denken erschweren.

Guter Journalismus macht nachdenklich

Wir haben heute im Journalismus ein ausgefeiltes Methodenarsenal. Wir beschäftigen Datenjournalisten, die mit Big Data umgehen können. Wir haben zig Social Media Tools, wir haben Feedback-Instrumente, wir nutzen Datenbanken und operieren mit digitalen Mitteln der Verifikation. Doch es gibt eine Methode, die im Journalismus wie in der Demokratie bis heute die vielleicht stärkste und würdevollste ist. Es ist die Methode des Nachdenkens.

Besonders kunstvoll wird diese Methode, wenn sie von der monadischen und monologischen Form übergeht in den Dialog – und in Prozesse, in denen eine kollektive Vernunft sich entfalten kann und die Gesellschaft etwas lernt. Guter Journalismus beruht auf der Methode des Nachdenkens. Guter Journalismus macht nachdenklich. Guter Journalismus hilft dabei, kollektives Denken zu organisieren.

Denken und Nachdenklichkeit erfordern eine gewisse Ruhe. Schläfrigkeit oder Trägheit erfordern sie nicht. Nicht gefühlige Betroffenheit, wohl aber sensible Besonnenheit. Und schon deshalb müssen Journalistinnen und Journalisten – jawohl, ausgerechnet sie – für sich und für andere für die nötige Ruhe sorgen.

Ressourcen sind stets rar, der Druck zu sparen allgegenwärtig. Es darf dabei auf keinen Fall an der falschen Stelle gespart werden. Wenn der Journalismus seiner wichtigen Aufgabe gerecht werden soll, ist eines von höchster Bedeutung: Journalistinnen und Journalisten brauchen die Zeit und den Freiraum, um sorgfältig recherchieren zu können. Die Pressefreiheit ist wenig Wert, wenn die Freiheit fehlt, gründlich zu sein. Das gilt nicht zuletzt für den Lokaljournalismus – dort, wo uns die Demokratie am nächsten ist.

Adorno hat in seinen Minima Moralia geschrieben, die Aufgabe von Kunst sei es heute, „Chaos in die Ordnung zu bringen“. Ein schöner, selber kunstvoller Gedanke. Nun denke ich zwar, dass der Journalismus eine gewisse Ruhe und Ordnung ins kommunikative Chaos bringen sollte; dies aber bedeutet paradoxerweise oft, die vermeintliche Ordnung der Welt, die Oberflächenordnung, zu hinterfragen und damit alles zunächst einmal unordentlicher zu machen.

Guter Journalismus befreit die Wahrheit aus der Blendung des Offensichtlichen, er führt ins Gestrüpp vielfältiger Perspektiven und Relationen, Verbindungen und Verwebungen. Er raut glatte Oberflächen auf. Manchmal gelingt es ihm sogar, den Dingen auf den Grund zu gehen. Rerum cognoscere causas – die Ursachen der Dinge erkennen. Den Dingen auf den Grund gehen. So hat es sich der Berliner Tagesspiegel als Leitspruch auf den Zeitungskopf geschrieben. Eine Maxime, die für die gesamte Qualitätspresse Ansporn sein kann.

Doch nur wenn der Journalismus nicht sich aufführt, als könne er die Wahrheit für sich beanspruchen, leistet er einen wertvollen Beitrag zur Wahrheitsfindung.

Das ist das Paradoxe an unserer Zeit: dass all jene, die aus erkenntnistheoretischer Demut heraus bescheiden sind, was ihren Zugang zur Wahrheit betrifft, dass diese Skeptiker heute als starke Verteidiger von Fakten und Wahrheitsorientierung auftreten müssen gegen die politische und intellektuelle Scharlatanerie von Wahrheitszynikern wie dem hier ungenannten US-Präsidenten oder irgendwelchen postmodernen Spiegelfechtereien.

Der Fall Relotius ist eine besondere Tragödie

Pressefreiheit ist nicht die Freiheit, die Wahrheit zu verbiegen. Deshalb ist jeder Fall Relotius ein schlimmer Stich ins Innerste der Branche und ein Schlag für die demokratische Öffentlichkeit. In Zeiten von „Fake News“-Hetze und Medienfeindlichkeit ist der Fall Relotius eine besondere Tragödie. Gibt es wenigstens eine Katharsis?

Die Losung „Sagen, was ist“: Wirkt sie heute überhaupt noch oder klingt sie nur noch schal? Journalisten tun gut daran, sich von der Vorstellung zu verabschieden, sie hätten Wahrheit und Weisheit gelöffelt und qua Presseausweis einen exklusiven Zugang zur Welt erhalten. Es ist oft nicht leicht zu bestimmen und dann auszudrücken, was ist. Aber, und das ist bei aller notwendigen erkenntnistheoretischen Demut doch entscheidend: Das ernsthafte, wahrhaftige Bemühen um die Wahrheit macht den Journalismus aus.

Es braucht Skepsis gegenüber allem Apodiktischen und Dogmatischen, es braucht Offenheit, Zweifel, Multiperspektivität – und doch ein unbeirrtes Festhalten an der regulativen Idee der Wahrheit.

Und manchmal liegen die Dinge sehr klar. War ein Reporter in Ort X oder war er es nicht? Hat dort ein Mädchen das Lied Y gesungen oder hat sie es nicht? Es ist gut, wenn wir nicht mehr einem naiven Realismus anhängen und wenn wir bedenken, dass die Medien bereits durch die Auswahl von Themen und durch das Arrangieren der Aspekte eingreifen in die Wahrnehmung. Dass unser öffentlicher Diskus geprägt wird von bestimmten Rahmungen, von „Frames“, von Deutungsmustern und Deutungskämpfen.

Aber das gefährliche Propagieren „alternativer Fakten“ sollte eine Mahnung sein, es mit der Relativierung der Wahrheit nicht zu weit zu treiben. Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob etwas als Tatsache gelten kann oder nicht. Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob ein Reporter tatsächlich oder nur vermeintlich die Mühen einer sorgfältigen Recherche auf sich genommen hat.

Obwohl keine Branche gefeit ist vor Betrügern und Hochstaplern, so wäre es doch fahrlässig naiv zu glauben, der Fall Relotius sei lediglich ein Einzelfall. Es gab schon zu viele sogenannte „Einzelfälle“ in der Geschichte des Journalismus, und über das Dunkelfeld wissen wir naturgemäß wenig.

Ich bin übrigens, so offensiv und offenherzig der Spiegel jetzt im Fall Relotius zunächst wirkte, nicht sicher, ob Journalisten wirklich die besten Aufklärer in eigener Sache sind. Es wurde erstaunlich schnell wieder ruhig um den Fall. Gewiss, es ist nicht gut, wenn die Medienleute zu sehr um sich selbst kreisen. Und ja, es hat schon etliche Einwürfe zum Fall Relotius gegeben. Viele Einwürfe, relativ wenig Recherchen… Verglichen mit den monatelangen Skandal-Sagas, die die Medien entwickeln, wenn Politiker oder Manager die Delinquenten sind, flappte die Berichterstattung recht schnell wieder zusammen.

Mittlerweile erlaubt es sich der Spiegel sogar, so augenzwinkernd mit dem eigenen Versagen umzugehen, dass er auf dem Titelbild in der vergangenen Woche eine ironische Fußnote platzierte. Das Bild zeigt einen gelben Müllsack und dazu die Schlagzeile „Mogelpackung. Von wegen Vorreiter: Deutschlands Recycling-System ist Müll“. Am Wort „Mogelpackung“ ist ein Sternchen angebracht und am Rand des Covers die Fußnote in kleiner Schrift: „Mit echten Fakten“. Das fanden die Spiegel-Kollegen offenbar witzig.

Der Spiegel schmort im eigenen Saft 

Doch wie kommentiert der Spiegel, wenn Horst Seehofer Witzchen macht an unpassender Stelle? Wenn ernste Themen – in Seehofers Fall z.B. die Abschiebung von Afghanen – ins Lächerliche gezogen werden? Was würde der Spiegel schreiben, wenn ein Autokonzern einen Betrugsskandal herunterspielt und seinen Kunden versicherte, die Abgaswerte mögen manipuliert worden sein, aber die Bremsen würden doch funktionieren? Wie viel Gnade und Humor können andere erwarten, wenn sie vom Spiegel oder anderen großen Medien als Subjekte eines Skandals identifiziert werden?

Der Spiegel hat eine aus drei Personen zusammengesetzte Kommission eingesetzt, um den Fall Relotius weiter aufzuklären. Es sind ja keineswegs alle Fragen beantwortet. Wer wusste wann was? Welche Verantwortung tragen die Chefs? Gibt es noch andere Fälle? Wie sah konkret der Umgang mit dem Aufdecker des Skandals aus?

Der Aufklärungskommission gehören zwei Spiegel-Journalisten an sowie die Journalistin Brigitte Fehrle, frühere Chefredakteurin der Berliner Zeitung. Man schmort möglichst im eigenen Saft. Wie würde es der Spiegel kommentieren, wenn VW einen Skandal im eigenen Haus einzig von zwei eigenen Spitzenmanagern aufklären lässt plus einem Manager von BMW? Wie würde es der Spiegel kommentieren, wenn die Regierung einen Skandal im Verfassungsschutz von einem Sonderermittler ausgerechnet aus dem Innenministerium aufklären lässt? Warum hat sich das Magazin nicht getraut, die Türen zu öffnen und zum Beispiel einem ehemaligen Bundesrichter und einer Medienforscherin die Sache in die Hand zu legen?

Wer kontrolliert die vierte Gewalt? In manchen Situationen kann die Autonomie der Presse zum Problem werden.

In anderen Fällen ist es eher ein Problem, dass es der Presse nicht gelingt, sich von anderen abzugrenzen und unabhängig zu machen. Die Freiheit der Presse zu wahren bedeutet auch, Journalisten vor manipulierenden Eingriffen zu schützen. Seien es Eingriffe der Eigentümer, die der Redaktion hineinreden wollen. Seien es Eingriffe von Politikern, Unternehmern oder Bischöfen.

Es gibt eine wunderbare Szene in dem Oscar-prämierten Spielfilm „Spotlight“ (2015), der auf einer wahren Geschichte beruht. Es geht, vielleicht haben Sie den Film gesehen, um Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche. Die Zeitung Boston Globe hatte um die Jahrtausendwende mit ihrem Investigativ-Team auf Betreiben des damals neuen Chefredakteurs Martin Baron den Skandal ans Licht gezerrt. Baron und seine Redaktion legten sich mit der in Boston mächtigen Kirche an.

Die Szene geht nun so: Neu in der Stadt, wird Martin Baron vom Erzbischof empfangen zu einer Art Antrittsbesuch. Und der Erzbischof nutzt diese Gelegenheit. Er spricht vielsagend, in einer Mischung aus Drohen und Heranschmeißen: „Ich finde, eine Stadt gedeiht dann sehr gut, wenn ihre großen Institutionen zusammenarbeiten.“ Und wie ist die Reaktion des unbeugsamen Chefredakteurs? Er antwortet kühl: „Persönlich bin ich der Meinung, dass eine Zeitung, um ihr Bestes geben zu können, für sich allein stehen sollte.“

Journalisten müssen frei sein von Loyalitäten

Die Presse darf sich nicht gemein machen mit den Eliten, sie muss sich gemein machen mit der Demokratie. Sie muss sich gemein machen mit der Idee, die Mächtigen kritisch zu betrachten, und zugleich mit dem Wert einer zivilen öffentlichen Auseinandersetzung (was bedeutet, jeweils das richtige Maß der Kritik zu finden). Journalisten sind nicht positionslos, sie tragen zur Meinungsbildung bei, sie können auch selbst Meinungen vertreten. Aber sie müssen frei sein von Loyalitäten zu Institutionen und Personen, die vorbehaltlose Kritik und Kontrolle verdienen.

Medien müssen nah herankommen an Akteure und Institutionen, sie sollen nicht abgehoben sein, sie sollen fair sein und verstehen, wie die Leute ticken, die Behörden, die Parteien, Vereine und Firmen. Aber sie brauchen zugleich den Abstand, die Distanz, sie dürfen sich nicht vereinnahmen lassen.

Mittlerweile ist Martin Baron nicht mehr beim Boston Globe, sondern Chefredakteur der Washington Post. Die Post wurde vor ein paar Jahren gekauft vom heute reichsten Mann der Welt, dem Amazon-Gründer Jeff Bezos. Die Post ist eine ehrwürdige Zeitung, die mit unbeugsamen Journalisten wie Martin Baron oder Bob Woodward gesegnet ist. Aber natürlich ist der Einstieg von Bezos ins Verlegergeschäft eine delikate Konstruktion – denken wir nur einmal daran, wie wichtig es sein könnte, eine journalistische Enthüllungsserie über Amazon zu publizieren. Und wie sähe es aus, wenn Jeff Bezos nicht zufälligerweise ein großer Kritiker des amtierenden US-Präsidenten wäre, sondern dessen Fan und Vertrauter?

Staatliche Zensur und Verfolgung können der Presse die Freiheit abschnüren, aber auch Profitinteressen, wirtschaftliche Einflussnahme und die Machtgelüste von Eigentümern. Manchmal gehen staatliche und privatwirtschaftliche Einflussnahmen eine Liaison ein. Das Mediensystem in Ungarn ist dafür derzeit ein unheilvolles Beispiel. Deshalb ist alles gut, was die Unabhängigkeit des Journalismus organisatorisch wie finanziell stärkt.

Und deshalb ist bis heute vorbildlich, wie einst Siebenpfeiffer und Wirth mit ihren Freunden den Pressverein, den „Deutschen Vaterlandsverein zur Unterstützung der freien Presse“ ins Leben riefen und mit ihren Abonnements und Kampagnen eine frühe Form des  „Crowdfunding“ betrieben. Die Presse ist zu wichtig, als dass man sie ein paar Milliardären überlassen sollte.

Manchmal schreckt die Weltöffentlichkeit kurz auf

Die Pressefreiheit ist ein gefährdetes Gut sogar in vergleichsweise stabilen Demokratien. Und sie ist ein geschundenes oder schmerzlich fehlendes Gut in so vielen Autokratien und Diktaturen, dass wir uns daran auf gefährliche Weise gewöhnt haben. Manchmal, wenn es die Häscher und Zensoren zu arg treiben, schreckt die Weltöffentlichkeit kurz auf.

So war es, als vor wenigen Monaten der saudi-arabische Dissident und Journalist Jamal Kashoggi, der zuletzt für die Washington Post als Kolumnist gearbeitet hatte, in ein Botschaftsgebäude gelockt, ermordet und zerstückelt wurde. Wo waren eigentlich die großen Demonstrationen? Wo haben sich Studenten und Professoren vor Botschaften oder anderswo versammelt für Mahnwachen und Proteste? Ich habe davon recht wenig gesehen, das sage ich auch selbstkritisch.

Egal, ob auf der Straße, im Sport- oder Karnevalsverein, in Schulen und Hochschulen, in Parteien und Parlamenten, ob in den sozialen Netzwerken oder den klassischen Formen der Präsenzöffentlichkeit wie heute hier in Zweibrücken: Die Pressefreiheit und die freie Rede sind unsere Angelegenheit.

Und die Freiheit der Journalistinnen und Journalisten berührt unser aller Freiheit, und das über Grenzen hinweg.

Wenn ich vorhin die Notwendigkeit der Ruhe beschworen habe: Im Kampf für die Pressefreiheit und in der Verteidigung der Pressefreiheit ist Ruhe keine Bürgerpflicht. Unruhe ist hier das Gebot der Stunde.

 

Bildquelle: pixabay.com

 

 

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