Im Interview mit Katarina Machmer spricht Reuters-Fotograf Edgard Garrido über seine Arbeit in Mexiko und den Zustand des Journalismus im Land.
„Meine Hand, Sie tun mir weh!“, ruft Edgard Garrido, als er abgeführt und auf die Ladefläche eines Streifenwagens gezwungen wird. Es ist der 30. Dezember 2021 in Mexiko-Stadt. Ein Video von Garridos Verhaftung, aufgenommen von der Journalistin Fanny Martínez, sorgt noch am selben Tag für Aufruhr auf Twitter. Denn laut Martínez hat Garrido „bloß seinen Job gemacht“ – nämlich Fotos.
Eineinhalb Monate später sind fünf mexikanische Journalist:innen tot. Mexiko blickt zurück auf einen landesweiten Protest von historischem Ausmaß Ende Januar. Sogar eine Petition an Präsident Lopez Obrador wurde gestartet, um auf die prekären Umstände aufmerksam zu machen, unter denen Reporter:innen in Mexiko leben und um ihr Leben fürchten müssen.
EJO: Herr Garrido, Sie wurden vor kurzem während einer Recherche festgenommen, wenig später aber als unschuldig befunden und wieder freigelassen. Was genau ist passiert?
Edgard Garrido: Ich habe über das Coronavirus berichtet, die neue Variante Omikron hier in Mexiko. Dafür habe ich ein Krankenhaus besucht, wo ich eine Krankenschwester dabei fotografierte, wie sie sich Notizen machte in Vorbereitung für Covid19-Tests. Letztendlich wurde ich dann der sexuellen Belästigung beschuldigt und verhaftet.
Laut Polizeiberichten hat die Krankenschwester Sie beschuldigt. Sie sei ohne ihre Zustimmung von Ihnen fotografiert worden. Wie die spanische Zeitung El País allerdings berichtet, gehören willkürliche Festnahmen von Journalist:innen zum Alltag in Mexiko . Wollte man mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung Ihre journalistische Arbeit blockieren?
Tatsächlich denke ich nicht, dass die Anschuldigung wirklich so gemeint war. Wir Journalist:innen sind heutzutage sehr verwundbar, vor allem in Lateinamerika. Leider unterstehen wir in Mexiko keinem soliden rechtlichen Schutz. Ein Journalist, der verhaftet wurde wegen etwas, das die angebliche Anklägerin möglicherweise niemals behauptet hat – das wäre in anderen Ländern der Welt undenkbar. Aber hier ist es das nicht, und genau deshalb sind wir so schutzlos. Ständig haben wir mit Hindernissen zu kämpfen. Ich bin nicht der einzige in dieser Situation, viele meiner Kolleg:innen hatten bereits ähnliche Erlebnisse.
Was ist die größte Herausforderung für Journalist:innen in Mexiko?
Mexiko ist ein sehr gefährliches Land für Journalist:innen – wir leben mit starken Einschränkungen. Überall auf der Welt sollte es legale Strukturen geben, auf deren Basis freier Journalismus ausgeübt werden kann. Leider passiert das hier nicht. In Konfliktsituationen lässt der Staat uns im Stich. Ich habe die Risiken meines Berufes immer hingenommen, obwohl ich nicht unter solchen Bedingungen arbeiten müssen sollte. Aber ich akzeptiere nicht, dass wir keine Unterstützung erhalten, um unseren Beruf ausüben zu können. Man fühlt sich so leer, wenn man weiß, dass einem während der Arbeit jeden Moment etwas passieren kann. Das ist traurig und mit der Zeit auch erschöpfend. Die Kosten für guten Journalismus sind hoch unter diesen Bedingungen. So, wie sich mein Beruf hier entwickelt hat, muss ich über alles wohlwollend berichten, oder meine Arbeit gilt nicht mehr als Journalismus.
Sie haben bereits auch in anderen lateinamerikanischen Ländern als Journalist gearbeitet. Ist kritischer Journalismus dort einfacher?
In Chile zum Beispiel wurde ich auch schon festgenommen. Man hat mich sogar mit Gummigeschossen attackiert. Aber damals hatte ich die Möglichkeit, einen Anwalt zu kontaktieren, und das Problem war gelöst. In Mexiko gibt es wenige Institutionen, die sich um Journalist:innen kümmern, und die, die existieren, sind nicht verlässlich. Leider habe ich auch das Gefühl, dass die Gesellschaft hierzulande die Bedeutung des Journalismus nicht versteht. Reporter:innen sind nicht besonders hoch angesehen und die Menschen vertrauen uns wenig, oder sie haben kaum Interesse an unserer Arbeit.
Haben Sie sich jemals selbst zensiert, rein aus Angst vor Verfolgung?
Nein, das ist nicht meine Art. Vielleicht war ich gerade deshalb schon öfter mit gefährlichen Situationen konfrontiert. In bin kein Held, auf keinen Fall. Aber ich sehe eine Verantwortung im Journalismus; eine Aufgabe, von der ich ein Teil bin. Journalismus ist mehr als ein Job; es geht um die Stärkung der Demokratie. Wir sind Beobachter:innen des aktuellen Geschehens.
Hat Sie das auch dazu motiviert, Journalist zu werden – trotz der Gefahr, die der Beruf in vielen lateinamerikanischen Ländern mit sich bringt, vor allem in Mexiko?
Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich diesen Beruf gewählt habe. Ich denke, dass meine Entscheidung mit dem Thema Menschenrechte zu tun hatte. Ich habe bereits in jungen Jahren viel über Gemeinwesenarbeit gelernt. Außerdem hatte ich immer schon ein Interesse daran, Geschichten zu erzählen. Zur gleichen Zeit war meine Berufswahl eine persönliche Entscheidung: Ich wollte anderen helfen und habe mich dazu entschieden, das mit meiner Kamera zu tun. Ich hatte während der letzten 16 Jahre mit gefährlichen Situationen zu kämpfen. Als ich in Honduras gearbeitet habe, galt das Land als eine der gefährlichsten Regionen für Journalist:innen weltweit, vor allem die Stadt San Pedro Sula, wo ich ein Jahr lang gelebt habe. Ich glaube, ich bin nach Mexiko gekommen, weil ich auf der Suche nach mehr Ruhe war, aber ich bin wohl bis heute nicht fündig geworden.
Werden Sie nicht von Reuters geschützt?
Reuters hat Büros in fast allen Ländern der Welt. Natürlich arbeitet jedes davon unterschiedlich, je nach lokaler Gesetzgebung. Ich reise nicht mit Bodyguards, aber ich habe einige Kurse zu Selbstschutz besucht. Außerdem erhalten Beschäftigte von Reuters Unterstützung in Fällen wie meiner Verhaftung, auch in psychologischer Hinsicht – Vorteile, die Freelancer nicht haben. Für diese Kolleg:innen wäre eine Verhaftung sehr viel komplizierter gewesen. Stellen Sie sich eine noch heiklere Situation vor. Ich könnte im Gefängnis sitzen, und niemand hätte mir beigestanden. Kein Mensch hätte einem Freelance-Fotografen geholfen.
Mexiko ist auch bekannt dafür, Journalist:innen auszuspionieren, wie die Enthüllungen des Pegasus-Projektes letztes Jahr wieder zeigten. Muss man sich als Reporter:in in Mexiko daran gewöhnen, überwacht zu werden?
Ich kenne Journalist:innen, die überwacht wurden, und ich verstehe die Reaktion, Überwachung als etwas Alltägliches abzustempeln. Es ist menschlich, bestimmte Situationen einfach irgendwann zu akzeptieren. Trotzdem müssen wir uns bewusst machen, dass Spionage natürlich keineswegs normal ist. Wir können die Situation, in der sich Reporter:innen hier befinden, nur durch wirkungsvolle Dokumentation verbessern, sowohl im journalistischen als auch im akademischen Bereich. Wenn jemand etwas ändern kann, dann sind das wir Menschen. Wenn wir unseren Planeten und das Umfeld des Journalismus nicht verändern, wer wird es dann tun? Niemand kann das außer uns selbst.
Herr Garrido, vielen Dank für das Gespräch.
Dieses Interview entstand im Rahmen eines Seminars zu Journalismus in Lateinamerika am Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus (Kursleitung: Prof. Dr. Antonio Brazil , Research Fellow an der TU Dortmund).
Die hier geäußerten Meinungen und Ansichten sind allein jene der Verfasser und spiegeln nicht den Standpunkt des EJO, seiner Mitarbeiter oder der mit dem EJO verbundenen Organisationen wider.
Foto Edgard Garrido: privat. Beitragsbild Mexiko-Stadt via unsplash.com.
Schlagwörter:Covid-19, Demokratie, Fotografie, Mexiko, Polizei, Pressefreiheit