Eingeschränkte Sicht durch restriktive Pressefreiheit?

22. Juni 2020 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Pressefreiheit • von

Blinde Flecken im investigativen Journalismus – wann und warum Themen in der medialen Berichterstattung nicht stattfinden.

Sicher haben Sie schon einmal vom sogenannten „blinden Fleck” gehört – ein Punkt in beiden Augen, an dem Licht nicht verarbeitet werden kann und der dazu führt, dass wir an dieser Stelle nicht sehen können. Weit weniger bekannt ist der Begriff der „blinden Flecken” im Journalismus. Es gibt Themen, die von JournalistInnen nicht recherchiert werden und folglich in der medialen Berichterstattung sowie in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden. Der Unterschied: JournalistInnen sind grundsätzlich nicht blind für bestimmte Themen, sondern aus verschiedenen Gründen nicht dazu in der Lage, sie öffentlich sichtbar zu machen. Welche Themen können als blinde Flecken identifiziert werden? Welche Gründe stecken dahinter und vor allem, welche Möglichkeiten sehen InvestigativjournalistInnen, um blinde Flecken in der Berichterstattung zu bekämpfen?

Warum lohnt es sich, nach blinden Flecken zu fragen?

Verschiedene ForscherInnen haben sich bereits mit dem Themengebiet der blinden Flecken („blind spots“) im Journalismus beschäftigt. Nennenswerte Ergebnisse lieferte unter anderem die Worlds of Journalism Study (Datenerhebung 2012-2016). JournalistInnen aus 67 Ländern wurden hier nach ihrer Entscheidungsfreiheit bei der Auswahl ihrer Geschichten befragt. Dabei stellte sich heraus, dass JournalistInnen aus Ländern mit schlechter Lage der Pressefreiheit (z.B. China, Ägypten) deutlich weniger Freiraum bei der Themenwahl haben als ihre KollegInnen aus Ländern, in denen eine hohe Pressefreiheit herrscht.

Eine Auseinandersetzung mit blinden Flecken im Investigativjournalismus blieb bislang aus. Im Rahmen der Global Investigative Journalism Conference (GIJC), die im September 2019 in Hamburg stattfand, haben Studierende der Universität Hamburg deshalb bei 89 investigativen JournalistInnen aus 60 Ländern nachgefragt – mit teils überraschenden Antworten. Die Interviewergebnisse werden vor dem Hintergrund der Pressefreiheit in dem jeweiligen Land der Befragten betrachtet und eingeordnet, da diese – wie vorangegangene Studien gezeigt haben – einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeit von JournalistInnen hat. Orientiert an der Rangliste der Pressefreiheit 2019 von Reporter ohne Grenzen ergab sich für die Stichprobe (n=89) folgende Aufteilung:

Eingeschränkte Pressefreiheit als Ursache für blinde Flecken?

Die Ergebnisse der Befragung haben gezeigt, dass mit Einschränkungen in der Pressefreiheit die Tendenz für blinde Flecken in der Berichterstattung zunimmt. Investigative JournalistInnen, die Probleme mit der Pressefreiheit haben, nennen deutlich häufiger Themen, die sie nicht recherchieren können. Zudem zeichnen ihre Antworten ein klares Bild: Die Felder Politik, Korruption und Kriminalität sehen die Befragten mehrheitlich als vernachlässigt in ihrer Berichterstattung an, während Gesundheits-, Kultur- und Sportthemen kaum genannt werden. Welche Gründe stecken dahinter?  

Warum JournalistInnen schweigen statt schreiben

Die fehlende Unabhängigkeit der Medien identifizieren die JournalistInnen als Hauptursache für die blinden Flecken, ebenso wie das politische System in ihrem Land. Dieser Zusammenhang war erwartbar, da investigative JournalistInnen – durch eine unfreie Presse, verbunden mit staatlicher Zensur und einem fehlenden Zugang zu Informationen – unter besonderer Beobachtung stehen. „Im Grunde genommen entscheidet die Regierung, worüber berichtet wird“, sagt eine Online-Journalistin aus Ägypten. Damit verknüpft fürchten JournalistInnen durch kritische Recherchen Konsequenzen, wie Verfolgung, Verschleppung oder Tötung.

Blinde Flecken trotz freier Presse?

In Ländern mit guter Lage der Pressefreiheit berichten die befragten JournalistInnen – wenn auch seltener – ebenfalls von blinden Flecken bei der investigativen Recherche. „Es ist schwierig, Dinge zu veröffentlichen, die staatliche Institutionen kritisieren”, sagt ein Print-Journalist aus Deutschland. Neben politischen Themen, sehen diejenigen JournalistInnen, die ohne Angst arbeiten, vor allem Nachholbedarf in der Recherche zu Umweltthemen.

Ein amerikanischer Online-Journalist sieht hingegen im medialen sowie im öffentlichen Interesse das Problem für blinde Flecken: „Es gibt eben Themen, die sexy sind, und es gibt Themen, die nicht sexy sind.“ Auch der Mangel an finanziellen Ressourcen spiele eine Rolle, wenn es darum geht, blinde Flecken zu begründen:Es scheitert manchmal daran, dass freie Journalisten es sich einfach nicht leisten können, jahrelang zu recherchieren”, so ein deutscher Journalist.

Journalistische Blindheit für blinde Flecken?

Die Interviews lassen erkennen, dass es eine Vielzahl an Themen gibt, die medial nicht stattfinden. Gleichzeitig berichten Befragte davon, keine blinden Flecken in der Berichterstattung des eigenen Landes identifizieren zu können: „Wir können uns frei äußern, wir können alles machen, was wir wollen”, sagt eine freie Journalistin aus dem Sudan – ein Land, in dem Medien seit Jahren systematisch schikaniert und zensiert werden. Mangelt es hier an Klarheit bezüglich des Begriffs „blind spots”? Fühlen sich die JournalistInnen im Interview nicht sicher genug, um frei über die Zustände in ihrem Land zu berichten? Oder sind sie derart an Widerstände und Gefahren während der Recherche gewöhnt und blinde Flecken somit ein notwendiger Teil ihres Grundverständnisses als Investigative JournalistInnen? Zukünftige Forschung sollte hier genauer hinschauen und aufspüren, welche Gründe hinter einer solch divergierenden Wahrnehmung stecken.

Sicherheit durch Zusammenarbeit

Für die Frage nach möglichen Methoden, blinde Flecken zu umgehen, lassen die Interviews eine verallgemeinerbare Tendenz erkennen: „Kollaboration” lautet das am häufigsten genannte Stichwort. Durch Redaktionen und Länder übergreifende Zusammenarbeit können einerseits Ressourcen, wie Finanzen und Wissen, gebündelt werden. Andererseits sehen vor allem JournalistInnen, die in Ländern mit schwieriger Lage der Pressefreiheit arbeiten, in einem Rechercheverbund die Möglichkeit, Themen mit dem Rückhalt der Gemeinschaft umzusetzen und schließlich auch zu veröffentlichen. Für sie spielen außerdem Anonymität und die Publikation im Internet eine wichtige Rolle, um sich selbst zu schützen. „Ich schreibe alles, ich recherchiere alles über Korruption, aber ich gebe nie meinen Namen preis. Niemals”, sagt eine Journalistin aus Kolumbien.

Die Interviews haben gezeigt: An Themen und Ideen mangelt es InvestigativjournalistInnen weltweit nicht. Doch müssen Wege gefunden werden, um Missstände sichtbar zu machen. Für die Zukunft bleibt abzuwarten, wie sich der investigative Journalismus in den verschiedenen Ländern und vor dem Hintergrund – teils kritischer – Pressefreiheit entwickelt. Konferenzen, wie die GIJC, die Journalist*innen aus der ganzen Welt zusammenbringen und Raum für Austausch und Vernetzung bieten, sind dabei ein bedeutender von vielen Schritten in die richtige Richtung.

 

Dieser Beitrag ist in einem Forschungsseminar im Masterstudiengang Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg unter der Leitung von Dr. Jessica Kunert und Prof. Dr. Michael Brüggemann entstanden. Das Seminar greift auf Daten des Forschungsprojekts „Global Investigative Journalism“ (GIJ) zurück, das den Einfluss digitaler Recherche- und Verifikationspraktiken auf den investigativen Journalismus untersucht und sich mit grenzübergreifenden Herausforderungen und „blinden Flecken“ im investigativen Journalismus beschäftigt.

 

Bildquelle: pixabay.com

 

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