Kisha Clubs: Japans Medien in Geiselhaft?

9. August 2022 • Aktuelle Beiträge, Pressefreiheit • von

Agenda Setting, das Setzen von Themenschwerpunkten in den Medien, ist sowohl in der Medienpraxis als auch in der Journalismusforschung ein geläufiger Begriff. Weniger bekannt ist ein Phänomen, über das sich Expertinnen und Expert bei einem Panel des DW Global Media Forum Ende Juni ausgetauscht haben: Agenda Cutting. Vor allem ein Problem in Japan.

Im Panel „Between agenda cutting and wilful omission” auf dem DW Global Media Forum diskutierten u.a. Hektor Haarkötter von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (1.v.l.) und Yosuke Buchmeier von der Ludwig-Maximilians-Universität München (3.v.l.) über die Bedeutung von Kisha Clubs für den japanischen Journalismus.

Wo die Pressefreiheit zurückgeht, leiden Demokratien. Während in Deutschland gerade erst die Stellung von Journalisten durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestärkt wurde, sieht es im Rest der Welt nicht überall so rosig aus, wie die diesjährige Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen zeigt. In Myanmar (Platz 176 von 180) machte die Junta nach dem Militärputsch im vergangenen Jahr unabhängigen Journalismus quasi unmöglich. Redaktionen wurden gestürmt, Journalist*innen inhaftiert und teils gefoltert. Unabhängigen Medienhäusern sind Sendelizenzen entzogen worden, kritische Journalisten mussten untertauchen oder ins Exil flüchten. Wie viele genau ist unbekannt. In Belarus (Platz 153) verfolgt Diktator Alexander Lukaschenko unabhängige und kritische Medienschaffende weiterhin mit großer Härte, mehr als 20 sind laut Reporter ohne Grenzen inhaftiert. Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hat die Misshandlung von inhaftierten Journalist*innen dokumentiert, sowie Versuche von Behörden Medieneinrichtungen zu schließen, das Internet zu zensieren und Redaktionen zu durchsuchen. Zudem wird fortwährend versucht Medienschaffende zu schikanieren, während gegen inhaftierte Journalist*innen immer weitere Anschuldigungen erhoben werden. Mindestens 300 von ihnen haben bis jetzt Belarus verlassen, während andere versuchen weiter vor Ort zu arbeiten und dort aktiv sind.

Ein weiteres Beispiel für eine massive Beschneidung der Medien ist Ungarn (Platz 85 der diesjährigen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen): Dort wurde vergangenes Jahr dem letzten unabhängigen Radiosender Klubrádio endgültig die Lizenz entzogen. Medien werden in ihrer Freiheit eingeschränkt, indem der Staat systematisch seine rechtliche, regulatorische und wirtschaftliche Macht ausnutzt. Das ausgegebene Ziel ist die Kontrolle über öffentlich-rechtliche Medien und private Medien in regierungsnahen Oligarchen-Konglomeraten zu konzentrieren. Es sind reihenweise Medien von regierungsnahen Unternehmern aufgekauft worden, die seitdem kaum noch kritisch berichten und zu pro-orbánischen Sprachrohren transformiert oder komplett geschlossen wurden. Die politische Stiftung KESMA ist beispielhaft für die Vorgänge in Ungarn. KESMA wird geleitet von einem treuen Orbán-Unterstützer und konzentriert seit 2018 knapp 500 der Regierung wohl gesonnene Medien. Die Stiftung kontrolliert dabei de facto alles: von Presseerzeugnissen über Fernseh- und Radiosender bis zu Druckereien oder Zustellern. Unabhängiger Journalismus kann so nicht stattfinden.

Aber Pressefreiheit wird nicht immer so offensichtlich beschnitten. Genau in diese Sparte fällt das Agenda Cutting.

Yosuke Buchmeier, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München, bricht das Prinzip so herunter: “Nehmen wir das fiktive Paar Tom und Jerry. Tom verreist über das Wochenende und lässt Jerry alleine zu Hause, der in dieser Zeit eine Affäre hat. Tom kehrt von seinem Ausflug zurück und fragt Jerry, wie denn so sein Wochenende war. Jerry möchte natürlich nicht, dass Tom von seiner Affäre erfährt. Also lässt er wissentlich dieser Information aus und sagt nur ‘Och ja, es war ein ruhiges Wochenende, nicht viel los’. Beim Agenda Cutting geht es genau um das. Informationen werden aufgrund einer vorliegenden Agenda bewusst zurückgehalten, von der Agenda abgeschnitten. Informationen, an die jemand nur gelangen kann, wenn man sehr spezifische Fragen stellt. Agenda Cutting ist also eine Form der Selbstzensur. Durch nicht-stattfindende Berichterstattung werden Probleme mit Politik oder Big Business umschifft.“

Zwischen Schweigekultur und exklusiven Presseklubs

Yosuke Buchmeier, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München, beobachtet in Japan folgendes: “Japan hat ein signifikantes strukturelles Problem in seinem Mediensystem und es gibt eine Menge an Tabuthemen innerhalb der japanischen Gesellschaft, zum Beispiel: Kritik an der Regierung, Wirtschaftsprobleme, nukleare Energie oder auch das Kaisersystem. Stattdessen wird die öffentliche Aufmerksamkeit auf andere [weniger kritische Themen; Anm. d. Red.] umgeleitet”, so Buchmeier. Bestimmte Themen werden also aus kulturellen Gründen totgeschwiegen – oder bewusst von der Agenda gestrichen. Alternativ werden eher kleine Nachrichten beziehungsweise harmlose Themen aufgebläht, wie beispielsweise das Zuspätkommen der U-Bahn im sonst durchgetakteten Tokyo, sagt Buchmeier.

Der Medienmarkt in Japan ist ebenso interessant wie auch bedenklich strukturiert. In Japan findet eine starke Verflechtung von Politik/Wirtschaft und Journalismus statt, denn der Zugang zu Information ist durch sogenannte Kisha Clubs exklusiv und streng reguliert. Diese Kisha Klubs sind Presseklubs, die auf eine ganz andere Art und Weise funktionieren, als man es in Europa kennt. Wenn Journalisten und Politiker über Inhalte sprechen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, dann in der Regel maximal im Kontext eines Hintergrundgespräches. In Japan sind diese aber durch die Kisha Klubs institutionalisiert: Es handelt sich um exklusive, feste Büros, die von Regierungsorganisationen und Unternehmen für die Presse bereitgestellt werden. Zu diesen Kisha Klubs erhalten nur wenige Medien Zugang, wie zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Sender NHK. Es erfolgt also eine extreme Regulierung der Informationsflüsse und so auch des Informationsoutputs.

“Die Medien befinden sich in regelrechter Geiselhaft”

„Das Spannende ist, dass international sowie national die Existenz dieser Kisha Klubs kaum bekannt ist“, sagt Buchmeier weiter. Die Medien, die Zugang haben, entsenden Journalisten an die jeweiligen Presseklubs, wo entweder stationär oder zumindest temporär gearbeitet wird. Insgesamt soll es rund 800 von diesen Institutionen geben, ohne das genaue Zahlen dazu bekannt sind. Aber jede wichtige Einrichtung von Lokalregierungen bis zu Ministerien, aber auch Unternehmen oder Verbände haben solche Klubs. Eine massive Einschränkung der Informationsfreiheit, die gleichzeitig ein extremes Problem für unabhängige Berichterstattung und die Pressefreiheit Japans darstellt.

Die Machtverhältnisse sind verkehrt und von einer vierten Gewalt oder Watchdog-Rolle der Medien kann nicht die Rede sein, dafür ist die Abhängigkeit vom Staat zu groß. Denn bei unliebsamer oder kritischer Berichterstattung kann schlicht der Zugang wieder entzogen werden. Buchmeier geht sogar so weit beim Panel zu sagen: “Die Medien befinden sich regelrecht in Geiselhaft”. Das Ergebnis davon ist, dass keine freie Berichterstattung stattfinden kann und Redaktionen kritische Inhalte bewusst zurückhalten, damit sie ihren Zugang nicht verlieren. Kritische Informationen werden regelmäßig nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben und Agenda Cutting ist damit gewöhnlicher Teil der japanischen Medienkultur.

Mechanismen ähnlich zu Embedded Journalism

Buchmeier stimmt im Interview zu, dass die Mechanismen der Kisha Klubs an die Mechanismen des Embedded Journalism erinnern. Beim Embedded Journalism begleiten Journalisten militärische oder paramilitärische Truppen, um Zugang zu Kriegsgebieten oder Ähnlichem zu bekommen. So entstehen persönliche Beziehungen, die Einfluss nehmen können auf die Haltung zu den Subjekten der Berichterstattung. Diese Nähe birgt Chancen, aber auch starke Risiken.

Ein Risiko ist das sogenannte “Capture Bonding”. Durch das enge Beisammensein und die miteinander verbrachte Zeit entsteht ein übersteigertes Mitgefühl und Sympathie für die Truppen – ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom, wenn Geiseln mit ihren Entführern sympathisieren, wie das deutsche Journalistenkolleg erklärt. Dem Embedded Journalism wird oft vorgeworfen, dass die Journalisten zu nah dran seien, um objektiv berichten zu können. Im besten Fall sind sich die Journalisten im Klaren darüber und lassen sich nicht instrumentalisieren, aber das ist nicht automatisch gegeben.

Die ehemalige TAZ-Korrespondentin Bettina Gans sagt im Gespräch mit der Bundeszentrale für politische Bildung: “Man muss sich über die Begrenzung sehr im Klaren sein, dass natürlich alles, was man hört und sieht, gefiltert ist. (…) Wer Journalisten mitnimmt, der weiß, was er ihnen zeigen will.”

Ein schwacher öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Gleiches gilt für die Kisha Klubs in Japan. Die Mechanismen ähneln sich, aber die Struktur der Kisha Klubs geht noch erheblich weiter. Interessant ist in diesem Kontext, dass es in Japan keinen starken, öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr gibt, wie Japanologe Yosuke Buchmeier erzählt. Ähnlich wie in Deutschland ist nach dem zweiten Weltkrieg ein unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk eingeführt worden und ebenso wie in Deutschland ist versucht worden, diese Unabhängigkeit zu untergraben. Doch während Adenauers Pläne in Deutschland gescheitert sind, einen Staatssender zu gründen, um unabhängigen Journalismus zu untergraben, waren die Pläne in Japan erfolgreich und bis heute spürbar. Die 1950 eingeführte, unabhängige Medienregulierung wurde 1952 schon wieder abgeschafft. Buchmeier stimmt zu, dass ein starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk essentiell sei, um kritischen Journalismus zu ermöglichen.

Resultat ist, dass in den vergangenen Jahren die Medienfreiheit in Japan rapide gesunken ist. Öffentlich kaum bekannte, institutionalisierte Einflussnahme und daraus resultierendes Agenda Cutting verhindern zu großen Teilen kritischen Journalismus. Das hat sich erst kürzlich wieder gezeigt bei der Aufdeckung von Verflechtungen von japanischer Regierung und religiösen Sekten. Diese war seit Jahren bekannt, aber von journalistischen Agenden gestrichen worden. Journalist*innen beklagen vor allem seit dem Amtsantritt des kürzlich ermordeten Ex-Präsident Shinzo Abe 2012 ein Klima des Misstrauens gegen sie, wie Reporter ohne Grenzen schreibt. 2013 hatte die Abe-Regierung Whistleblowing per Gesetz kriminalisiert und im gleichen Atemzug auch die Pressefreiheit eingeschränkt. Denn die Verbreitung von geheimen Informationen kann seit dem Geheimhaltungsgesetz mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden, investigativem Journalismus wird ein erheblicher Riegel vorgeschoben. De facto gesetzliches Agenda Cutting. Konsequenterweise ist Japan im diesjährigen Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen in den letzten 10 Jahren um fast 50 Plätze abgerutscht, von Rang 22 (2011) auf Rang 71.

Quellen

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Buchmeier, Y. (2022). Schweigekultur, Tabus und der öffentliche Diskurs: Agenda Cutting in Japan. In H. Haarkötter & J.-U. Nieland (Eds.): Agenda Cutting. Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden. Untersuchungen der Initiative Nachrichtenaufklärung, Wiesbaden: Springer VS.

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Pfau, M., Haigh, M., Gettle, M., Donnelly, M., Scott, G., Warr, D., & Wittenberg, E. (2004). Embedding Journalists in Military Combat Units: Impact on Newspaper Story Frames and Tone. Journalism & Mass Communication Quarterly, 81(1), 74–88. https://doi.org/10.1177/107769900408100106

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Beitragsfoto: DW/Böll

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „Pressefreiheit und Medienpluralismus“ am Institut für Journalistik der TU Dortmund unter Leitung von Tina Bettels-Schwabbauer, das mit einer Exkursion zum DW Global Media Forum verknüpft war.

Dieser Artikel ist eine am 31.10.2022 leicht angepasste Version mit von den Gesprächspartner*innen autorisierten wörtlichen Zitaten. Die Urspungsversion erschien am 09.08.2022.

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