Medienvielfalt in der EU zunehmend in Gefahr

29. Juli 2020 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Pressefreiheit • von

Mit dem Media Pluralism Monitor wollen die Forscherinnen und Forscher des European University Institute den Medienpluralismus als eine der „Säulen der Demokratie“ messbar machen. Doch augenscheinlich – und bekanntlich – bröckelt diese Konstruktion.

Risiken politischer Einflussnahme auf Medien in Europa; Quelle: Screenshot MPM2020

In die aktuelle Analyse für die Jahre 2018 und 2019 wurden die (damaligen) Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Albanien und die Türkei einbezogen. Makellos abgeschnitten hat keines der insgesamt 30 Länder. Im Gegenteil: Medienpluralismus scheint vor allem im digitalen Zeitalter nur ein Ideal zu sein, das kein Land jemals ganz erreichen wird, solange die Medienbranche ihre Dynamik behält und vor allem stets unter dem Einfluss gesellschaftlicher und politischer Faktoren steht. 

Laut dem Forschungsteam des Robert-Schuman-Zentrums am European University Institute in Florenz lässt sich Medienpluralität an vier Faktoren und entsprechenden Indikatoren messen: Marktpluralität, politische Unabhängigkeit, soziale Inklusivität und Basisfaktoren (u.a. Regulationsmechanismen, Status von Journalistinnen und Journalisten, Zugang zu Medien und Internet).

Die allgemein größte Bedrohung für die Medienpluralität in Europa erkennen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Bereich der Marktpluralität: ein Risikowert von 64 Prozent, „bemerkenswert höher“ als im Media Pluralism Monitor 2017, als das Risiko noch 53 Prozent betrug. Grund: Immer stärkere Medienkonzentrationen, immer weniger Transparenz hinsichtlich der Besitzverhältnisse und eine geringe ökonomische Nachhaltigkeit. Keines der 30 Länder hat in der Kategorie „Marktpluralität” einen niedrigen Risikowert (d.h. < 33 Prozent), was das Forschungsteam als Signal für die wachsende ökonomische Bedrohung im Mediensektor wertet.

Ein ebenfalls eindeutiges Risiko geht vom Faktor der sozialen Inklusivität aus (52 Prozent), die in keinem der untersuchten Staaten zufriedenstellend gewährleistet ist: an einigen Stellen mangelt es an Zugangsmöglichkeiten für Minderheiten, an anderen an der Inklusion von Menschen mit Behinderung, wieder in anderen Ländern – über ganz Europa verteilt – fehlt Frauen der Zugang in die Chefetagen von Redaktionen und Verlagen.

In 28 countries, with the exception of Albania and Estonia, women are, in some cases, or in some media, under-represented in news and current affairs broadcasting, or are largely depicted in a stereotyped way.

In einem Großteil der untersuchten Länder, und zwar in allen bis auf Albanien und Estland, seien Frauen, so die Studie, „in den Nachrichten und dem tagesaktuellen Rundfunk unterrepräsentiert oder werden weitgehend stereotypisiert.” Als Beispiel dafür führen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, dass der Großteil der in Talkshows eingeladenen Expertinnen und Experten in allen Ländern Männer und Frauen die Ausnahme seien.

Hohe horizontale Medienkonzentration

Nur vier Staaten (Frankreich, Deutschland, Griechenland und die Türkei) weisen ein mittleres Risiko im Kontext der horizontalen Medienkonzentration auf, alle anderen untersuchten Länder sind von dem Phänomen auf ihren Märkten stark bedroht. Vor allem, erklärt das Forschungsteam, könne man dieses Risiko im audiovisuellen Bereich erkennen: Die Zahl der Medien, die die breite Masse mit Informationen versorgen, ist in keinem der untersuchten Länder groß genug, um definitiv von einer intakten pluralistischen Marktabdeckung sprechen zu können. Auch der Wettbewerb zwischen Online-Plattformen sei in mindestens 23 Staaten deutlich zu niedrig. Die absolute Marktkonzentration im Online-Bereich stelle in allen 30 untersuchten Ländern eine Gefahr dar.

Mit dieser Entwicklung geht die bedrohte Existenz von Zeitungen und Lokalmedien einher: Unter dem Faktor „Newspaper Viability“, der untersucht, wie existenzfähig Zeitungen sind,  verzeichnet die Studie ein europaweites Risiko von 80 Prozent, unter dem Faktor „Local Media Viability” ein Risiko von 76 Prozent. Die Studie greift damit das oft beschworene Aussterben der Lokalpresse auf – es bedrohe „Kommunen, […] deren demokratische Teilhabe und die Überwachung lokaler Machtverhältnisse”.

Politischer Einfluss und Autonomie

Vor allem die Medien in osteuropäischen Staaten und der Türkei haben laut der Studie mit politischer Einflussnahme zu kämpfen. Auch die redaktionelle Unabhängigkeit sei in diesen Ländern bedroht, was einerseits daran liege, dass politische Mächte Einfluss auf die Ernennungen von Redaktions- und Verlagsleitungen nehmen, andererseits aber auch daran, dass Gesetze in vielen Staaten keine effiziente Selbstkontrolle zulassen.

Ebenso stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine mangelnde Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien in vielen ost-, aber auch südeuropäischen Staaten fest: „Öffentlich-rechtliche Medien werden in der Regel vom Staat eingeführt und in einigen Fällen dauerhaft von diesem beeinflusst.” Gemessen wird das entsprechende Risiko an den Indikatoren Finanzierung und Zuständigkeiten in den Bereichen Management und Vorstand. Es sei eine „relativ eindeutige Teilung zwischen Nord- und Westeuropa auf der einen Seite und Mittel-, Ost- und Südeuropa auf der anderen Seite” zu erkennen, heißt es in der Studie. Doch dem hohen Risiko, das von mangelnder Unabhängigkeit ausgeht, seien nicht nur osteuropäische Staaten ausgesetzt: Auch Luxemburg, Österreich und Italien wird ein hoher Risikofaktor zugeordnet.

PSM [Anm.: Public Service Media] systems are usually established by the state, which, in some cases, still maintain influence over them.

Ein Risiko, das jedoch in allen europäischen Ländern erkennbar ist, resultiert aus dem Mangel an Regularien im Bereich der politischen Werbung, vor allem im Online-Sektor. Hier beträgt das Risiko 65 Prozent. Auch Länder wie Deutschland und Dänemark, die in vielen anderen Bereichen gut abschneiden, sind hier bedroht. Das liege vor allem an mangelnder Transparenz und schlecht nachvollziehbaren Geldflüssen zwischen Online-Anbietern und politischen Akteuren.

Höheres Risiko im digitalen Kontext

Isoliere man von allen Messgrößen und Indikatoren die Werte, die sich einzig auf die digitalen Medien beziehen, lasse sich daraus ein größeres Risiko für die Medienpluralität schließen: “Mit Ausnahme des Bereichs der Marktpluralität ist das generelle und das durchschnittliche Risiko bezogen auf die digitalen Medien in allen Bereichen höher”, heißt es in der Studie. Das liege vor allem an einer mangelnden Kontrolle und Transparenz von Online-Plattformen, am unangemessenen Umgang mit Menschen –  vor allem mit Minderheiten –  im Netz (Stichwort „hate speech”) und der „ineffizienten Implementierung der Netzneutralität”.

Praxisempfehlungen aus der Wissenschaft

Neben dem „proaktiven Schutz” der Meinungsfreiheit durch den Staat fordern die Forscherinnen und Forscher unter anderem auch europaweit gleiche Standards im Bereich Medienselbstkontrolle und -regulierung sowie die Sicherstellung medialer Unabhängigkeit als Aufgabe der Europäischen Union.

From this perspective, a form of “digital service tax” [Anm.: DST] (hopefully, harmonised at a supranational level) could help media pluralism in two ways: by reducing the disparity in the fiscal burden between industries which are players in the same market; and by earmarking a part of the DST’s revenue to support media pluralism.

Desweiteren empfiehlt die Studie „regulatorische Anreize” im Bereich der Medienmärkte, die das Überleben von kleineren Medien sichern könnten. Bei Maßnahmen wie diesen sei jedoch Vorsicht geboten, denn es dürfe dadurch nicht zur Einflussnahme durch den Staat kommen.

Auch eine Digitalsteuer – „hoffentlich auf überstaatlichem Level“ – käme laut der Studie in Frage. Sie könnte unter anderem finanziell dazu beitragen, die Medienpluralität in Mediensystemen zu sichern.

Hinsichtlich sozialer Ungerechtigkeit in Redaktionen sowie innerhalb des Publikums empfiehlt das Forschungsteam neben einer „gender equality policy” auch die aktive Einbindung von gesellschaftlichen Minderheiten sowie die organisierte Unterstützung kommunaler Medien.

Es ist ein ziemlich düsteres Bild, das die Studie von der europäischen Medienlandschaft zeichnet – und der nächste Media Pluralism Monitor wird mit Sicherheit in vielen Bereichen noch düsterer, werden doch dann die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Medien und die Folgen der Pandemie auf die Pressefreiheit Eingang darin Eingang finden.

 

Der Media Pluralism Monitor 2020 kann auf der Website des European University Institute heruntergeladen werden. 

 

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