Online-Gewalt ist ein Phänomen, das jede Person, die im Internet unterwegs ist, betreffen kann. Für Journalistinnen kommen aber noch weitere Herausforderungen und Formen der Gewalt hinzu. Das International Center for Journalists (ICFJ) und UNESCO haben dazu eine internationale Studie gefördert. Die Resultate sind ernüchternd: 73 Prozent der Journalistinnen haben Online-Gewalt erfahren, 20 Prozent haben die Konsequenzen sogar bis ins Offline-Leben gespürt. Die Pandemie hat die Situation noch verschärft. Die Autor:innen schlussfolgern, dass ein ganzheitlicher Ansatz nötig ist, um die Betroffenen besser zu schützen und zu unterstützen.
Das Ausmaß
Innerhalb von drei Jahren haben ICFJ und UNESCO, geleitet von Julie Posetti, die Online-Gewalterfahrungen von Journalistinnen untersuchen lassen, mit über tausend Teilnehmenden und Fallstudien aus 15 Ländern Afrikas, Asiens, Europas und Amerikas. Die Ergebnisse zeigen, dass Online-Gewalt gegen Journalistinnen kein Randphänomen und nicht regional begrenzt ist. 73 Prozent der Teilnehmenden geben an, von Online-Gewalt betroffen zu sein und 20 Prozent erleben im Zusammenhang mit Online-Gewalt sogar Übergriffe im „realen“ Leben. Diese Zahlen bestätigen die Ergebnisse einer Studie von IWMF und TrollBuster aus dem Jahr 2018.
Obwohl alle Menschen, die im Internet aktiv sind, von Online-Gewalt betroffen sein können, ist die Situation von Journalistinnen besonders prekär. Frauen erleben Online-Gewalt oft in sexualisierter Form, in privaten Chaträumen. Diese Gewalterfahrungen in privaten digitalen Räumen sind öffentlich nicht erkennbar und können schwerwiegende Auswirkungen auf das Privatleben der betroffenen Person haben. Am stärksten von Online-Gewalt betroffen sind, laut vorliegender Studie, Journalist:innen, die auch Mehrfachdiskriminierung erleben – basierend auf Geschlecht, Sexualität, Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, etc.
Formen digitaler Gewalt
Doxxing: Veröffentlichung von personenbezogenen Daten, wie Anschrift, Telefonnummer, etc.
Cyber-Stalking: Unerwünschte Kontaktaufnahme und andauernde Belästigung von Einzelnen durch private Kommunikationskanäle.
Trolling: Verfassen von provozierenden Kommentaren, ohne direkte Beleidigungen auszusprechen führt oft zu Cyberharassment oder Cybermobbing.
Cyberharassment: Verletzende oder vulgäre Kommentare, auch Androhungen von Gewaltanwendung, in der Regel in öffentlichen Bereichen des Internets.
Cybermobbing: Ausgrenzung von jemandem aus einer Gruppe.
Sexting, Sextortion: Die unerwünschte Zusendung von pornografischen Bildern oder Videos, Androhung, intimes Bildmaterial anderer zu veröffentlichen.
Fake Profil/ Deep Fakes: Informationen, die andere im Internet veröffentlicht haben, manipulieren und als Falschaussagen verbreiten, um ausgewählte Personen zu diskriminieren.
Hate Speech: Hasskommentare sind digitale Formen von Menschenfeindlichkeit, die sich gegen Personen richtet, die einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden. Sie äußert sich in abwertender, menschenverachtender und volksverhetzender Sprache und Inhalten. Zudem richtet sie sich oftmals auch gegen jene Personen, die sich online wie offline für die Rechte bestimmter Gruppen einsetzen.
Es gibt noch viele weitere Formen digitaler Gewalt. Mehr dazu unter www.hilfetelefon.de
Eine erschreckende Erkenntnis der Studie ist, dass 41 Prozent der Journalistinnen angeben, gezielt durch organisierte Desinformationskampagnen angegriffen worden zu sein. In den meisten Fällen bleiben die Angreifer anonym (57 %), aber politische Akteure wurden am zweithäufigsten als Täter identifiziert (37 %).
Letztendlich hat sich die Situation durch die Pandemie noch verschlechtert, da Online-Aktivitäten zugenommen haben, und sich daher das Risiko, digitale Gewalt zu erfahren, vergrößert hat.
Das Problem mit Online-Gewalt gegen Journalist:innen besteht hauptsächlich darin, dass Journalist:innen auf soziale Medien angewiesen sind, etwa um Informationen zu sammeln, um Reichweite zu generieren oder um mit der Leserschaft Kontakt zu pflegen. Facebook, Twitter, WhatsApp, YouTube und Instagram zählen zu den wichtigsten Arbeitskanälen für Journalistinnen. Gleichzeitig exponieren diese Kanäle sie, Gewalt zu erfahren. Laut der vorliegenden Studie scheint besonders Facebook ein hohes Risiko für Gewalterfahrungen zu bergen. Anders war die Situation auf Twitter: Journalistinnen geben an, dass sich das Klima – zumindest vor der Übernahme der Plattform durch Elon Musk – verbessert hatte.
Die Konsequenzen für Medienfreiheit
Gewalt gegen Journalist:innen, dazu gehört auch Online-Gewalt, ist ein gesellschaftliches Problem. Denn es hängt eng mit der Medienfreiheit zusammen. Die vorliegende Studie, wie auch die Studie von Samiksha Koirala, zeigen, dass gerade Online-Gewalt die Meinungsfreiheit vieler beeinträchtigt.
Die Studie von ICFJ und UNESCO beschreibt folgende Auswirkungen von Online-Gewalterfahrungen auf Journalist:innen:
- Physische Konsequenzen: verstärkte Sicherheitsvorkehrungen im „realen“ Leben oder Umziehen, da die Anschrift öffentlich gemacht wurde.
- Psychische Konsequenzen: Online-Gewalt kann die betroffene Person und ihr Umfeld stark belasten, bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung.
- Gesellschaftliche Konsequenzen: der passive Umgang mit Online-Gewalt zieht ein Klima der Straflosigkeit mit sich und kann dazu führen, dass die Hemmschwelle, Gewalt gegen Journalist:innen auszuüben, kleiner wird.
All diese akuten und langfristigen Folgen von Online-Gewalt führen dazu, dass viele Journalist:innen sich aus dem Online-Raum zurückziehen oder sich selbst zensieren. In der Studie wird von einem „Abschreckungs-Effekt“ gesprochen. Zusätzlich geben Journalist:innen an, dass ihre Produktivität unter der Online-Gewalt gelitten hat, dass sie sich weniger sichtbar machen, oder sogar überlegen, den Beruf ganz zu verlassen.
Was können die Medienunternehmen tun? Ernst nehmen, reagieren, vorbeugen.
Laut der Untersuchung von ICFJ und UNESCO haben sich die Medienunternehmen in den letzten Jahren in die richtige Richtung bewegt. Jedoch muss noch viel getan werden, um Journalist:innen im Cyberspace zu schützen. Denn vieles geschieht vermehrt in privaten Online-Räumen oder auf Social Media und nicht mehr direkt auf den Webseiten der Medienunternehmen. Dafür seien viele Medienhäuser noch nicht genügend gerüstet.
Das Defizit im Bereich Cybersecurity spiegelt sich in der Studie wider: Nur ein Viertel der Befragten geben an, dass sie Online-Gewalt dem Arbeitgeber gemeldet haben. Warum nur so wenige? Die Antworten deuten auf ein Defizit der Unternehmen und des Managements hin, richtig zu reagieren. Oft gibt es keine Mechanismen oder das Management und die Arbeitskultur unterstützen Meldungen von Online-Gewalterfahrungen nicht. Aber es fehlt zum Teil auch an Informationen über mögliche Anlaufstellen für Betroffene. Nur 21 Personen, die an der Befragung teilnahmen, geben an, dass ihre Meldung von Online-Gewalt auch Unterstützung im Bereich Cybersecurity nach sich gezogen hat. In den meisten Fällen jedoch seien die Reaktionen des Arbeitgebers ernüchternd: keine Antwort, „Du musst halt ein dickeres Fell aufbauen“, oder sogar Schuldumkehr, sogenanntes „victim blaming“.
Um insbesondere intersektionalen Diskriminierungen und organisierten Hetzkampagnen gerecht zu werden, brauche es ein Umdenken. Medienunternehmen müssten sich ganzheitlich mit dem Phänomen auseinandersetzen und digitale, physische und psychologische Sicherheit zusammen mit Geschlechter-sensibler Redaktionspolitik denken.
Was können Medienunternehmen konkret tun? Die Studie schlägt folgendes vor:
- Psychologische Unterstützung anbieten
- Physische Sicherheit gewährleisten
- Techniken des investigativen Journalismus auf organisierte Online-Gewalt anwenden, um diese aufzudecken
- Unterstützende Mediennutzer:innen gewinnen
- Betroffene Journalist:innen öffentlich und sichtbar unterstützen.
Außerdem betonen die Autor:innen, dass genügen Mittel zur Verfügung gestellt und mit anderen Medienhäuser zusammengearbeitet werden muss, um die digitale Sicherheit ihrer Angestellten zu gewährleisten.
Was müssen die Big-Tech-Unternehmen tun? Proaktiv und transparent werden.
Teilnehmer:innen der vorliegenden Studie sind sich einig, dass die großen IT-Unternehmen im Internet sehr ineffizient, langsam, passiv oder gar inaktiv bleiben, wenn Online-Gewalt gemeldet wird. Es wird nichts oder nur selten etwas unternommen, um Journalist:innen zu schützen und die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Obwohl es auf allen Plattformen Strategien und Guidelines gegen Belästigung gibt, werden diese oft nicht durchgesetzt. Jedoch gibt es sehr große regionale Unterschiede, je nach Land und Region werden bestehende Regeln besser oder schlechter eingehalten.
Die Studie betont auch, dass viele der Big Tech Unternehmen intransparent sind, was ihre Aktionen gegen Belästigungen und Gewalt angeht. Solange man nicht weiß, was die Plattformen gegen Gewalt unternehmen, ist es auch schwierig, deren Effizienz einzuschätzen und sie in die Verantwortung zu nehmen.
Oft wird daher ein „one-size-fits-all“ Ansatz angewandt, der nicht Kontext-sensibel ist und meist auf englischsprachigen Algorithmen beruht, sodass viele sprachliche und kulturelle Nuancen der Online-Gewalt nicht als solche erfasst werden. Nur mit menschlichen Ressourcen kann dagegen angekämpft werden. Denn Algorithmen funktionieren nur schlecht, sind verzerrt und verstärken Ungleichheiten.
Aber es gab auch positive Beispiele: Die Studie beschreibt, wie Twitter Journalistinnen frühzeitig gewarnt hatte, dass sich etwas gegen sie zusammenbraute. So konnten sie sich darauf vorbereiten und entgegenwirken. Jedoch verlangen Journalistinnen in der Studie, dass vermehrt menschliche Stimmen und Ombudspersonen für die Sicherheit von exponierte Gruppen, wie etwa Journalistinnen, eingesetzt werden.
Die Studie schließt, dass die Verantwortung von den Medienhäusern, Big-Tech-Unternehmen und der Politik übernommen werden muss, um Online-Gewalt gegen Journalist:innen entgegenzuwirken und damit die Verantwortung nicht an den Betroffenen hängen bleibt.
Die komplette Studie von Julie Posetti und ihrem Team, gefördert von ICFJ und UNESCO, finden Sie hier.
Bildquelle: Pixabay
Quellen
Council of Europe (n.d.). Cyberviolence against women. COE.
Hilfetelefon (n.d.), Digitale Gewalt. Gewalt gegen Frauen.
IWMF, & TrollBusters. (2018). Attacks and Harassment: The Impact on Female Journalists and Their Reporting.
Koirala, S. (2020). Female Journalists’ Experience of Online Harassment: A Case Study of Nepal. Media and Communication, 8(1), 47–56. https://doi.org/10.17645/mac.v8i1.2541
Schlagwörter:Big Tech, Journalistinnen, Medienunternehmen, Online-Gewalt, Pressefreiheit
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