Selbstzensur bei lettischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten

18. Oktober 2024 • Internationales, Pressefreiheit, Top • von

Selbstzensur in den Medien wird seit langem als ein bedeutender Faktor diskutiert, der die Meinungsfreiheit und die Qualität des Journalismus beeinträchtigt. In Lettland hat dieses Thema in letzter Zeit besondere Aufmerksamkeit erlangt, insbesondere im Bereich der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wie Latvian Radio (LR) und Latvian Television (Latvijas Televīzija, LTV). Seit Beginn der großangelegten Invasion Russlands in der Ukraine nehmen Journalist:innen eine Verstärkung der Selbstzensur wahr – dies verdeutlicht ein tiefgreifendes Problem, das über die Nachrichtenredaktionen hinausgeht und das soziale Gefüge der lettischen Gesellschaft berührt.

Bildquelle: Wikimedia Commons

Bis 2022 betrachteten lettische Journalisten Selbstzensur selten als dringendes Problem. Der Ausbruch des Krieges Russlands gegen die Ukraine hat diese Wahrnehmung jedoch dramatisch verändert. Im April 2024 veröffentlichte die Redaktion des lettischen Rundfunks einen offenen Brief, in dem sie ihre Besorgnis über die Einschränkung der Pressefreiheit zum Ausdruck brachte und auf die anhaltenden Angriffe auf Journalist:innen und die anhaltende Politisierung der Reform der öffentlichen Medien verwies.

Das Problem der Selbstzensur ist jedoch nicht auf die Medien beschränkt. Die Autoren der Studie stellen fest, dass der politische Einfluss auf die lettischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine lange Geschichte hat. Dieser Einfluss hat seine Wurzeln in der sowjetischen Vergangenheit Lettlands, als die staatlichen Medien in öffentlich-rechtliche Medien umgewandelt wurden. Auch nach der Umwandlung wurden diese Medienanstalten von Personen geleitet, die mit dem ehemaligen Regime in Verbindung standen.

Die öffentlichen Rundfunkanstalten Lettlands sind trotz ihrer Unterfinanzierung nach wie vor zentrale Akteure auf dem Medienmarkt des Landes und genießen ein etwas höheres Vertrauen als der Durchschnitt (51 %) der EU (49 %). Sie haben jedoch erhebliche Schwierigkeiten, Minderheiten und Jugendliche zu erreichen, was Bedenken hinsichtlich ihrer Rolle bei der Stärkung demokratischer Werte aufwirft.

In einer neuen Studie der lettischen Autorinnen Anda Rožukalne, Aija Kažoka und Linda Siliņa werden die Veränderungen bei der Selbstzensur in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Lettlands in den letzten zwei Jahren und die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine untersucht. Die Studie verwendet zwei Hauptmethoden: halbstrukturierte Interviews mit Medienfachleuten und qualitative Inhaltsanalyse von kriegsbezogenem Material. Die Stichprobe umfasst Journalisten, Ermittler, Produzenten, Moderatoren und Redakteure lettisch- und russischsprachiger Plattformen (Radio, Fernsehen und digitale Medien).

Die Ergebnisse zeigen: Seit Beginn der groß angelegten Invasion Russlands hat sich der Inhalt der öffentlichen Rundfunkanstalten Lettlands erheblich verändert. Experten, die diese Inhalte analysierten, kamen zu dem Schluss, dass die Medien im Allgemeinen hohe journalistische Standards einhielten. Obwohl keine schwerwiegenden ethischen Verstöße festgestellt wurden, bemerkten die Forscherinnen Anzeichen von Selbstzensur, insbesondere bei der Auswahl der Quellen und Themen für die Berichterstattung.

Wahrnehmung von Selbstzensur

Selbstzensur in der redaktionellen Tätigkeit der Medien hat viele Aspekte: psychologische, berufliche und betriebswirtschaftliche. Unabhängig von ihrer Erfahrung und ihrem beruflichen Status empfinden Mitarbeitende öffentlicher Medien Selbstzensur oft als ernstes Hindernis, das die Entscheidungsfindung erschwert. Dieses Gefühl der Unsicherheit und Angst, bestimmte Themen zu veröffentlichen oder Informationsquellen auszuwählen, schränkt die Autonomie und redaktionelle Unabhängigkeit von Journalist:innen ein. In Krisenzeiten wie dem Krieg in der Ukraine wird die Selbstzensur noch ausgeprägter und zwingt Journalisten dazu, die Grundlagen des Journalismus und ihre beruflichen Gewohnheiten zu überdenken.

Interviewpartner 2:

„Der Krieg war eine neue Herausforderung für uns, und wir wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten. Die Hauptsorge war, wie wir arbeiten sollten, ohne dem Feind einen Vorteil zu verschaffen und unsere humanistische Position zu bewahren. Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich Putin interviewt, obwohl viele meiner Kollegen der Meinung sind, dass ich das nicht tun sollte“.

Interviewpartner 1:

„Ich bin bei der Wahl meiner Worte und Betonung viel vorsichtiger geworden, weil ich ständig über mögliche Reaktionen besorgt bin. Es herrschen ein großes Gefühl der Unsicherheit und die Angst, Fehler zu machen.“

Faktoren, die zur Selbstzensur beitragen

Selbstzensur in den Medien wird oft durch externe und interne Faktoren beeinflusst. Externe Faktoren lassen sich in zwei Haupttypen unterteilen: den Einfluss des Publikums und den Einfluss von Politikern (oder Beamten). Führungskräfte in öffentlichen Medien erkennen das Problem zwar an, stellen sich ihm aber nur selten. Ein Redakteur (Interviewpartner 13) merkt an: „Ich selbst bin selten von Selbstzensur betroffen und versuche, meinen Kollegen viel Freiraum zu geben.“ Allerdings können Führungskräfte nicht immer erkennen, ob ein Journalist Selbstzensur in einer Weise betreibt, die nicht auffällt.

Das Publikum übt durch Kommentare, Direktnachrichten und persönliche Angriffe Einfluss aus. Am häufigsten erhalten Medienschaffende negatives Feedback auf der Plattform X (früher Twitter), wo ihre beruflichen Aktivitäten, ihr Privatleben und manchmal auch ihr Aussehen diskutiert werden. Interviewpartner 11 merkt an, dass diese Angriffe besonders laut erscheinen, weil die Betroffenen schweigen, weil sie Angst haben, auf Twitter verurteilt zu werden. Insbesondere die Zahl der Angriffe auf die WhatsApp-Plattform hat zugenommen, mit versteckten Drohungen und Hassreden. Gleichzeitig kann die Kritik des Publikums Medienschaffende dazu zwingen, ihre Arbeit nach professionellen Kriterien zu bewerten. Es ist wichtig zu wissen, dass die Unzufriedenheit von Einzelpersonen oder Gruppen nicht immer zu Selbstzensur führt.

Interviewpartner 9 fügt hinzu, dass auch Politiker die Arbeit von Journalisten behindern, Informationen blockieren und sich aktiv gegen die Medien stellen können. Interviewpartner 12 beschreibt Politiker als die aktivsten Anstifter von Hass:

„Politiker und Meinungsführer schüren aus eigennützigen Gründen eine Atmosphäre des Hasses gegenüber den Medien als Quelle aller Probleme. Es besteht die Gefahr, dass jemand während der Sendung Gewalt verübt, wie es in den USA geschehen ist.“

Was interne Faktoren betrifft, so glauben einige Befragte, dass heikle Themen oft vermieden werden, um weitere Angriffe zu vermeiden. Dies kann sich auch in der Weigerung von Quellen äußern, an Programmen teilzunehmen, aus Angst vor öffentlichen Angriffen und Demütigungen.

Mechanismen zur Überwindung der Selbstzensur

Die häufigste Form der Selbstzensur ist das Schweigen, um neue Angriffe zu vermeiden. Dies kann in Form einer Weigerung, sich zu äußern, der Suche nach Rechtsbeistand bei Verleumdungsfällen, dem Verlassen des Arbeitsplatzes oder der Änderung der eigenen Praktiken bei der Erstellung von Inhalten geschehen. Mechanismen zur Überwindung der Selbstzensur lassen sich in drei Kategorien einteilen: Widerstand und Unterstützung, Schweigen und Apathie.

Journalisten entscheiden sich oft für die Vermeidung, um sich selbst zu schützen, aber Kollegen können Empathie und Unterstützung zeigen, indem sie sie beispielsweise vor negativen Informationen schützen, die sich gegen ihre Kollegen richten. Der Austausch mit Kollegen ist ein wichtiger Bestandteil der Unterstützung, da er das Gefühl vermittelt, mit seinen Erfahrungen nicht allein zu sein. Erfahrene Journalisten können mit Angriffen in der Regel leichter umgehen, während jüngere Kollegen anfangen könnten, an der Fortsetzung ihrer beruflichen Tätigkeit zu zweifeln. Interviewpartner 2 kommentiert:

„Ich versuche, soziale Medien zu meiden. Selbst wenn ich ein Foto von Blumen aus meinem Garten poste, werde ich beschimpft und belästigt. Gegner sind nicht nur besorgt über das, was wir sagen, sondern auch über die Tatsache, dass wir es wagen, es zu sagen.“

 

Dieser Artikel wurde zuerst auf der ukrainischen EJO-Seite veröffentlicht. Übersetzt von Johanna Mack mithilfe von DeepL.

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