Türkei: Eine Teststätte für Kontrolle und Zensur

5. August 2020 • Internationales, Pressefreiheit • von

Vier Jahre nach dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 wird der Raum für Medienpluralismus in der Türkei immer enger. Neue Gesetze, die bereits in Kraft sind oder es bald sein werden, ziehen die Grenzen für die wenigen unabhängigen Medien noch enger, während zahlreiche regierungsfreundliche Medien die Szene dominieren.

Die gesamte traditionelle Medienlandschaft, vom Fernsehen über das Radio bis hin zu den Printmedien, steht unter mehr oder weniger direkter Kontrolle der türkischen Regierung.

Nach dem versuchten Staatsstreich im Jahr 2016 wurden 170 Medienangebote (Zeitungen, Fernsehsender, Presseagenturen und Online-Nachrichtenseiten, die als subversiv galten) von der Regierung geschlossen oder unter die Kontrolle der Regierung gestellt, was die ohnehin starke Medienkonzentration in der Türkei noch verschärft hat.

Ein grundlegender Wendepunkt in den Eigentumsverhältnissen der Mainstream-Medien war der Verkauf der Doğan Gruppe an Erdoğan Demirören im Jahr 2018. Eigentümer und Geschäftsmann Demirören ist ebenso wie die gleichnamige Mediengruppe für seine regierungsfreundlichen Positionen bekannt. Der Besitzwechsel betraf einige der reichweitenstärksten Medien des Landes, wie den Fernsehsender Cnn Türk, die Zeitung Hürriyet und die Nachrichtenagentur Dha, er wirkte sich aber auch negativ auf die landesweite Verbreitung kleiner unabhängiger Titel aus.

Laut dem Bericht Turkey – Media Ownership Monitor gehören derzeit etwa 71% der Medien des Landes vier regierungsnahen Unternehmen: Turkuvaz/Kalyon, Doğuş , Ciner und dem bereits erwähnten Demirören. Letzteres besitzt zusammen mit den Gruppen Albayrak und İhlas die 40 beliebtesten Titel in der Türkei und investiert auch in mehrere andere Sektoren, vom Bauwesen über den Bergbau bis zur Ölförderung, vom Finanzwesen über den Tourismus bis zur Telekommunikation. Das türkische Fox TV, das zur Walt Disney Company gehört, ist der einzige der zehn größten Fernsehsender, der sich noch außerhalb dieses Systems befindet. Laut dem Digital News Report 2020 gilt dieser Sender als der vertrauenswürdigste und seine Nachrichtensendungen werden am häufigsten geschaut. Mehr als 70% der Bevölkerung des Landes informieren sich über das Fernsehen  – die Nachfrage nach alternativen Nachrichten ist also groß. Diese Nachfrage spiegelt sich auch in der häufigen Nutzung von Online-Medien – einschließlich sozialer Medien – wider, die laut dem Digital News Report im städtischen Kontext über 80% beträgt, obwohl nur 55% der Nutzer den auf diesem Weg erhaltenen Informationen vertrauen.

Kriminalisierung des Journalismus

Mit über 80 inhaftierten Medienschaffenden ist die Türkei derzeit das weltweit größte „Gefängnis“ für Journalisten. Nach Angaben des International Press Institute ist in 73% der Fälle ihre Arbeit der Grund, der zur Strafverfolgung herangezogen wird: Aufgrund ihrer Berichterstattung werden Journalisten, meist aus den pro-kurdischen Medien, der Beleidigung des Präsidenten und der Nation, der Gefährdung der nationalen Sicherheit und in den letzten Jahren mehr denn je der Propaganda, der Kollaboration mit oder der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen beschuldigt.

Zensur und Selbstzensur sind an der Tagesordnung, auch für die kurdische Mehrheit im Südosten des Landes. Wie die Journalistin Hatice Kamer, die in Diyarbakır arbeitet, erklärt, führten das Scheitern des Friedensprozesses mit den bewaffneten kurdischen Gruppen im August 2015 und die darauf folgende Periode gewaltsamer Zusammenstöße dazu, dass die Menschen ihre Meinung für sich behalten. „Früher, als die Polizeigewalt noch nicht so umfangreich war, schreckten die Menschen nicht davor zurück, ihren Unmut oder ihre Wut zum Ausdruck zu bringen. Nach dem Putschversuch und den darauffolgenden Dekreten, den Entlassungen und den „schwarzen Listen“ mit auffälligen Personen wurde es für Journalisten fast unmöglich, vor Ort zu arbeiten, weil die Leute sich so unsicher fühlten, dass sie sich nicht mehr trauten, mit den Medien zu reden”, sagt Kamer.

Laut einer aktuellen Studie ist die Türkei von den Repressalien gegen den Journalismus vor dem Staatsstreich (2013-2016) zu einer institutionalisierten Unterdrückung des Journalismus (2016-2018) übergegangen. Während die Situation bis 2016 von „unsystematischen Angriffe auf den Journalismus gekennzeichnet war […], die zu einem Klima der Angst führten, das sich in einer unvermeidlichen Selbstzensur ausdrückte […], beruht die Unterdrückung heute auf Verfassungsreformen und Gesetzen zur systematischen Untergrabung der zivilen journalistischen Institution”. Systematisch sei auch die „Trägheit des Justizapparats, wenn Journalisten oder journalistischen Organisationen versuchen, gegen Verletzungen und Gewalt durch staatlich unterstützte Akteure vorzugehen”.

Die aktuelle Pandemie scheint als ein weiterer Grund missbraucht zu werden, die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit zu untergraben. Wie es in einem aktuellen Bericht von Amnesty International heißt, kann Kritik am Krisenmanagement während der aktuellen Gesundheitsnotlage mit zwei bis vier Jahren Haft geahndet werden. „Wenn die Veröffentlichung eines Journalisten nicht mit den Daten der offiziellen staatlichen Quellen übereinstimmt, kann das zu Komplikationen führen“, so Kamer. Allein im März 2020 wurden 12 Journalist*innen wegen Anstiftung zur „Missachtung der Gesetze“ oder zum „Hass“ verhaftet, und mehrere Ärzte wurden der Verbreitung von Falschinformationen und der Förderung von „Panik innerhalb der Bevölkerung“ bezichtigt. Wie streng die Regierung vor allem gegen Journalisten vorgeht, wurde offensichtlich, als im Rahmen eines Reformpakets zur Bekämpfung der Ausbreitung des Covid-19-Virus 90.000 Gefängnisinsassen freigelassen wurden – Journalisten und wegen anderer politischer Vergehen angeklagte Inhaftierte aber in Haft blieben.

So wie es auch in anderen Situationen bereits beobachtet wurde, „reproduzieren die Mainstream-Medien zuverlässig die präsidentiellen Narrative (…) und berichten beschwichtigend (…). Drama und Katastrophenmeldungen finden sich eher in Nachrichten über das Ausland. Regelmäßige Updates betonen geradezu mit Genugtun, wie angespannt die Lage in anderen Ländern ist.“ (Salomoni 2020) Diese Kontrolle der Mediennarrative zieht sich durch viele Themen der Berichterstattung, vor allem wenn es um Probleme in der Türkei geht: „Steigen die Benzinpreise, dann sprechen die Mainstream-Medien nicht von einem Anstieg, sondern von einer Anpassung der Preise“, sagt der Journalist Bülent Mumay.

Das präsidentielle System und andere Kontrollmechanismen

Das präsidentielle System, das im Juli 2018 direkt nach dem Putschversuch eingesetzt wurde, verstärkte die Macht des Präsidenten entscheidend, zum Nachteil des Parlaments und anderer staatlicher Institutionen. Wie Mumay betont, bestehe „der wahre Wandel“ darin, „dass alle öffentlichen Institutionen jetzt rechtlich mit dem Präsidenten verbunden sind“. Das heißt zum Beispiel, dass Presseausweise nur noch vom „Präsidium für Kommunikation beim Amt des Staatspräsidenten“ ausgestellt werden. Zuvor konnten Journalistenvereinigungen darüber noch eine gewisse Kontrolle ausüben, erklärt Gökhan Durmuş, Sekretär der Journalistenunion Türk-İş. „Jetzt entscheidet die zentrale Behörde, wer Journalist werden darf“, sagt auch Hatice Kamer und fügt hinzu: „Ohne einen Presseausweis im Feld zu arbeiten ist fast unmöglich.“

„Die Kommunikationsabteilung des Präsidenten steht im direkten Kontakt mit dem Hohen Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜRK) und der Agentur für Werbung in den Medien (BiK)“, erklärt Mumay. Letztere ist dazu verpflichtet, Werbeanzeigen an alle Printzeitungen zu verteilen, die entscheidend für deren wirtschaftliches Einkommen sind. Die Willkür dieser Regelung zeigte sich kürzlich, als die Anzeigen für die Oppositionszeitungen Evrensel und Birgün wegen „Verletzung ethischer Prinzipien“ einbehalten wurden. Auch RTÜRK, der den privaten Rundfunk reguliert, ist eine Regierungsorganisation, die oft als abhängig kritisiert wird und durch Strafen oder Konfiszierungen zensiert. RTÜRK kann auch dafür sorgen, dass Sendungen aus dem Programm gestrichen werden, wenn er sie für „anstößig“ hält – dies geschah vor kurzem bei den Sendern Tele1 und Halk TV, die für fünf Tage aussetzen mussten. Sollte dies noch einmal geschehen, verlören sie sogar ihre Sendelizenz.

Internet: Ein Teil der Lösung oder das nächste Opfer der Zensur?

Online-Fernsehsender und YouTube, Podcasts und Nachrichtenwebsites behaupten sich im Internet und versuchen, alternative Narrative anzubieten. Doch auch das Internet ist zum Ziel von Zensur geworden, vor allem durch das Entfernen von Inhalten und das Blockieren von Websites. So war Wikipedia von April 2017 bis Januar 2020 unzugänglich. Zudem wurde eine Social-Media-Überwachungseinheit gegründet und 2016 brachte die Regierung eine App heraus, mit der die Bürger potenzielle terroristische Propaganda melden sollen. Die Türkei ist außerdem dafür bekannt, regelmäßig Userdaten von Facebook anzufordern, vor allem die Daten solcher User, gegen die gerichtliche Prozesse laufen. In 79 Prozent der Fälle kommt Facebook den Anfragen der türkischen Regierung nach – Plattformen wie Facebook und Twitter, deren Nutzerraten in der Türkei zu den höchsten weltweit gehören, werden sich diesem Druck eher nicht widersetzen, um nicht ihren Zugang zu diesem wichtigen Markt zu gefährden.

Für Online-Radios und Online-Fernsehsender hat RTÜRK 2019 ein Regelwerk herausgegeben, das neue Lizenzregeln beinhaltet. Diese galten zunächst für Dienste wie Netflix, aber wie der Anwalt der Media and Law Studies Association Veysel Ok erläutert, „schließen einige Ergänzungen aus dem Jahr 2020 nun auch YouTube ein und verlangen als Bedingung für eine Lizenz ein Zertifikat, das bestätigt, keinen Kontakt mit Terrororganisationen gehabt zu haben. Dies macht es natürlich vor allem kurdischen Fernseh- und Radioanbietern äußerst schwer, Lizenzen zu bekommen“ – aber auch anderen Anbietern, da die Regierung häufig kritische Organisationen oder Individuen des Terrorismus verdächtigt.

Am 29. Juli verabschiedete das türkische Parlament schließlich ein Gesetz, das Online-Plattformen dazu verpflichtet, Büros und Repräsentanten in der Türkei zu haben, andernfalls drohen eine Blockierung von Werbung und eine Beschränkung der Internetbandbreite. In Zukunft können die Behörden zudem nicht mehr nur den Zugang zu Online-Inhalten blockieren, sondern diese auch löschen.

Die Online-Strategie der Regierung wurde in den vergangenen Jahren ausgebaut. So entstanden zahlreiche neue regierungsfreundliche Accounts in sozialen Netzwerken, „Trolle“, die oppositionelle Nutzer angreifen und melden und die versuchen, „Gegner mit einem Überfluss an Informationen zu überwältigen“. Nachdem Erdoğan Präsident geworden war, wurden die Trolle zu „Agenten der Kultur“, die eine neue, konservative Agenda verbreiten und gegen verschiedene Bewegungen, Frauen, die LGBTQ-Community und andere vorgehen sollen“, sagt Erkan Saka, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft der Bilgi Universität in Istanbul. Im Juni 2020 löschte Twitter 7340 „falsche oder manipulierte Accounts, die dazu verwendet worden waren, die Narrative von Präsident Erdoğans Partei AKP zu verbreiten“. Die Parabel der staatlichen Online-Intervention scheint alle „drei Generationen der Internetkontrolle“ nach Deibert and Rohozinski (2010) durchlaufen zu haben, vom kompletten Blockieren bis hin zur indirekten Intervention in die Produktion von Inhalten. Trotz dieser entmutigenden Entwicklungen zeigen sich einige unserer Interviewpartner optimistisch, was die Rolle digitaler Medien als alternative Informationsquellen betrifft. „Sie können zensiert werden, aber es gibt immer einen Ausweg”, meint der Journalist Mumay.

Vergangenheit und Zukunft

Man muss bedenken, dass Erdoğans AKP seit 2002 an der Macht ist und das türkische Mediensystem seitdem nie frei von Polarisierung und strenger staatlicher Kontrolle gewesen ist. Dennoch erinnert die Journalistin Mehveş Evin daran, dass „es bis vor fünf Jahren unter Journalisten noch als extrem anrüchig galt, etwas zu veröffentlich, das offensichtlich Propaganda war. Inzwischen scheint das hingegen so verbreitet zu sein, dass wir uns wundern, wenn wir mal guten Journalismus sehen.“ Außerdem, so Evin, „löst das Wissen, dass viele Kollegen im Gefängnis oder im Exil sind, unweigerlich einen psychologischen Effekt und auch Selbstzensur aus. In der Folge wird die Qualität des Journalismus Tag für Tag negativ beeinflusst. Ich frage mich, ob man die Würde eines Berufs noch retten kann, sobald eine gewisse Linie überschritten ist.“

 

Übersetzt aus dem Italienischen von Johanna Mack.

Zuerst veröffentlicht auf der italienischen EJO-Seite am 29. Juli in Zusammenarbeit mit dem Osservatorio Balcani Caucasio.

 

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