360 Grad und die journalistische Ethik

25. Oktober 2018 • Qualität & Ethik • von

Wie eine aktuelle Studie der University Stanford zeigt, bieten 360°-Videos im Journalismus nicht nur Chancen, sondern auch Risiken.

Das Publikum emotional besonders stark einbeziehen, Ereignisse dramatisieren, sich abwenden von einigen klassischen und bewährten Praktiken des Journalismus: Dies sind die häufigsten Veränderungen, die  der noch recht neue Trend der 360°-Videos mit sich bringt. Diese Clips mit einer durchschnittlichen Dauer von einer bis zehn Minuten bieten im Vergleich zu traditionellen Videos eine direktere Einsicht in Umgebungen oder Situationen und erlauben den Benutzern mehr Interaktion. Sie sind ein Beispiel für immersive virtuelle Realität, das bedeutet, dass die Nutzer Teil des virtuell dargestellten Geschehens sind. In einer aktuellen Studie, die im Journal New Media & Society veröffentlicht wurde, beschäftigt sich die Medienwissenschaftlerin Tanja Aitamurto von der Stanford University mit diesem Phänomen.

Aitamurto legt dar, dass das technologische Format der 360°-Videos nicht nur Chancen, sondern auch Risiken birgt. So könnten Geschichten ungenauer erzählt und Inhalte zugunsten einer besseren Darstellung verändert werden. Ihre Interviews zeigen, dass Reporter es in 360°-Videos mit der Wahrheit – dem zentralen Begriff der journalistischen Ethik – nicht so genau nehmen und stattdessen ideologische und persönliche Botschaften bevorzugen. Aitamurto warnt auch davor, dass die 360°-Videos sich möglicherweise zu einer  Vermttlungsform entwickeln könnten, die näher an Werbung, Öffentlichkeitsarbeit oder Propaganda liegt als am  klassischen  Journalismus.

Chancen und Risiken gehen Hand in Hand

Die Studie beleuchtet zwei Paradoxe, die immersive Videos charakterisieren: Erstens kann der Betrachter seiner Perspektive selbst wählen und sich eigenständig innerhalb des Videos bewegen. Nach Ansicht vieler Journalisten führt dies zu mehr Transparenz und somit zu einer akkurateren Darstellung der Themen. Andererseits bedeutet die 360°-Ansicht jedoch auf Seiten der Reporter einen Kontrollverlust bezüglich der Repräsentationen, die ihre Videos vermitteln. Dies könnte wiederum zu Realitätsentfremdung und zu weniger genauen Darstellungen der präsentierten Geschichten führen.

Durch diese Art, Inhalte darzustellen, hat jeder Nutzer die Möglichkeit, seine Perspektive selbst zu wählen und so eine eigene, subjektive Version der Geschichte zu erstellen. Daraus ergeben sich – wenn auch ungewollt oder unbemerkt  – zahlreiche ethische Risiken. Um zu gewährleisten, dass die Inhalte nicht verfälscht werden, sind viele Journalisten dazu übergegangen,  in ihre 360°-Videos praktische Orientierungshilfen einzubauen,  z.B. grafische Bewegungen, Animationen oder Audios, die den Blick des Zuschauers leiten. Manchmal wird das „sphärische Sehen“, also die 360°-Sicht, sogar vorübergehend blockiert. All das schränkt die Autonomie der Nutzer innerhalb des virtuellen Raumes ein. Obwohl diese Methoden nach Ansicht von Aitamurto effektiv sind, behindern sie zugleich das „immersive Sehen“ und damit den entscheidenden ethischen Vorteil, der die 360°-Videos ausmacht, nämlich die größere Transparenz.

Das zweite Paradoxon ergibt sich, wenn Journalisten selbst die klassischen Prinzipien der Objektivität außer Acht lassen, indem sie Bilder nachbearbeiten, um sie optisch ansprechender zu gestalten, aber auch, um Inhalte genauer darzustellen. Besonders riskant ist die Verwendung von computergenerierten Bildern (CGI) – einer Technologie, die häufig in Filmen oder Videospielen angewandt wird, um Spezialeffekte zu erzeugen. Videos lassen sich leicht mit dieser Methode nachbearbeiten. Journalisten sollten eigentlich das Ziel verfolgen, Inhalte so objektiv wie möglich darzustellen, die Nutzung von Special Effects aber führt zu weniger Objektivität. Wenn Journalisten in den Videos Änderungen vornehmen, ohne dies den Nutzern mitzuteilen, sind sie bereit, für die ihrer Meinung nach genauere Darstellung der Inhalte auf Transparenz zu verzichten. Damit verstoßen sie gegen den ethischen Kodex des visuellen Journalismus. Wenn Journalisten ihre eigenen Standpunkte, Präferenzen oder Interpretationen in den Videos betonen, werden außerdem mögliche ideologische Botschaften verstärkt.

Neue Sicht auf die Normen der Objektivität und Präzision

Für die Studie hat Aitamurto stichprobenartig Interviews mit 26 Reportern und Redakteuren geführt, die zwischen 2016 und 2017 360°-Videos für die USA Today, die Washington Post, die New York Times, den Guardian, dieBBC und Al Jazeera produzierten. Die Videos, die auf den Websites oder auf den YouTube- und Facebook-Seiten der Medien veröffentlicht wurden, behandelten komplexe Themen wie die Situation in Flüchtlingslagern, Hungersnöte in Afrika, Naturkatastrophen und auch „kleinere“ Themen wie Kunst, Sport oder Stadtplanung. Die Wissenschaftlerin kommt zu dem Schluss, dass bei immersiven journalistischen Darstellungsformen die journalistische Norm der Objektivität gelockert wird: Den Betrachtern wird demnach nicht die konkrete Realität so präsentiert, „wie sie ist“, vielmehr wird ihnen eine Interpretation der Realität durch die Autoren angeboten,  „wie sie sein sollte“ oder „wie sie sein könnte“.

Die beiden beschriebenen Paradoxe können somit dazu führen, dass  die normativen Grenzen des visuellen Journalismus neu verhandelt werden und dass ein Umdenken bezüglich der Verpflichtung zur  Wahrheit und bezüglich der emotionalen Komponenten der angebotenen Themen stattfindet.

Die anfängliche Begeisterung, mit der Redaktionen in die neue Technologie investierten, zielte darauf ab, ihr Content-Angebot zu erweitern und die Nutzer stärker einzubinden, indem sie sie auch emotional ansprechen. Die Forscherin weist darauf hin, dass 360-Grad-Videos für letzteres besonders geeignet sind: Sie räumen den Nutzern mehr Präsenz ein und präsentieren mehr Daten als traditionelle Videos. So können die Rezipienten sich intensiver mit den Inhalten auseinander setzen.

Da die Technik so einfach zu nutzen ist, können Redaktionen sie sowohl für aktuelle Nachrichten als auch für investigative Geschichten einsetzen und dabei die Kosten stabil halten. Dies ist ein Vorteil der 360°-Videos im Vergleich zu anderen Formen des immersiven Journalismus, die komplexere Technologien wie Virtual Reality einsetzen.

Die visuelle Berichterstattung wird journalistische Konventionen, Normen und ethische Grenzen nie so vollständig einhalten können wie der Printjournalismus, betont Aitamurto. Diese Herausforderung, die mit der Entwicklung neuer Technologien einhergeht, wirft die Frage auf, wie die Normen der Objektivität und der Präzision in Bezug auf 360°-Videos definiert werden können und wie diese am besten umgesetzt werden können. Dass Journalisten sich auf diese Weise erneut mit den traditionellen Normen beschäftigen und sie hinterfragen, bietet die Chance, die Umsetzung von Genauigkeit und Objektivität in der journalistischen Praxis zu verbessern.

Da diese Art des visuellen Journalismus gerade erst im Entstehen ist, ist Aitamurtos Forschungsmethodik noch nicht vollständig ausgereift. Die befragten Journalisten mit einer Berufserfahrung von zwischen drei und 20 Jahren haben hauptsächlich Inhalte für den US-amerikanischen Medienmarkt produziert. Die Ergebnisse können nicht unbedingt auf die Situation in anderen Ländern übertragen werden. Darüber hinaus orientiert sich Aitamurto am angelsächsischen Modell des Journalismus; in anderen Systemen und geographischen Kontexten könnte derselbe Forschungsansatz zu ganz anderen Ergebnissen führen.

Die Befragten orientieren sich an den ethischen Normen der National Press Photographer Association und der Society of Professional Journalists. Deren Leitlinien sind nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt, sondern sind auch weder verbindlich noch rechtskräftig. Die Ergebnisse, die die Stichprobe der befragten Reporter geliefert hat, lassen sich daher nicht auf heterogene, internationale Gruppen übertragen. Journalisten in anderen Ländern  folgen möglicherweise anderen journalistischen Normen oder sind aufgrund kultureller, politischer und ökonomischer Faktoren in ihren jeweiligen Ländern bei der Produktion von 360°-Videos eingeschränkt.

Aitamurto, T. (2018). Normative paradoxes in 360° journalism: Contested accuracy and objectivity.  New Media & Society. 

Originalversion auf Italienisch:L’etica del giornalismo a 360 gradi

Übersetzt aus dem Italienischen von Johanna Mack

Zum Thema auf EJO: Alles im Blick? 360°-Videos im Journalismus

 

 

 

 

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