„Ich bin gerne bereit, Ihren Artikel (Ihr Radiomanuskript, Ihren Fernsehbeitrag) durchzugehen“ – Gegenlesen klingt wie ein Geschenk, das Medienschaffende vor peinlichen Fehlern schützt. Doch die Faktenkontrolle ist oft das Einfalltor für Begehrlichkeiten bis hin zur versuchten Zensur.
Kollegenhilfe.
Wir müssen zunächst dreierlei unterscheiden. Erstens: Gegenlesende Kollegen oder Chefredaktoren und gegenlesende Protagonisten einer Geschichte. In manchen Redaktionen bestehen freiwillige „Gegenles-Gemeinschaften“, die inhaltlich und stilistisch schlicht Feinschliff bewirken und letztlich Geschmackssache sind: manche finden, an ihrem Texten lässt sich nichts verbessern, andere schätzen solche Anregungen, die zudem ohne Anspruch auf Folgeleistung sind. Bei gegenlesenden Ressortchefs und Chefredaktoren ist das anders. Da kann passieren, dass man einen Kommentar umschreiben muss oder eine Geschichte gar nicht ins Blatt rückt. Vor allem, wenn sie heiss ist. Im Tages-Anzeiger hing damals, im Herbst 1988, viel davon ab, wer Dienst hatte, dass die Verstrickungen des Ehemanns der damaligen Bundesrätin Elisabeth Kopp gedruckt und damit enthüllt wurden. In diesen Fällen ist Gegenlesen eine Sache individueller Redaktionskulturen. Lesen hingegen „Externe“ gegen, trifft das rasch die journalistische Berufsehre.
Zweitens: Wir sollten unterscheiden, mit welchem Ziel gegengelesen wird. Wenn der Wirkstoff eines Schlafpräparats eben Gaboxadol und nicht Gaboxadan heisst, ist jeder für einen Hinweis dankbar. Vor der Veröffentlichung. Viele Wissenschaftsjournalisten schildern, dass sie ihren Text schon wegen der Komplexität der Materie, mit der sie täglich zu tun haben, gerne ihrem Gesprächspartner zum Gegenlesen geben. Auch etliche Wirtschaftsjournalisten schätzen eine solche Rückversicherung und fürchten das Damoklesschwert, durch einen Sachfehler einem Unternehmen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen oder sich selbst einen Prozess einzuhandeln. Es geht um Glaubwürdigkeit: Faktenfehler erwecken bei den Publika fast zwangsläufig das Gefühl, ein Schmierfink und Schreiberling setze ihm eine lausig und schlampig gemachte Geschichte vor: Wer zu blöd ist, den Namen einer Institution richtig wiederzugeben, bringt möglicherweise auch andere „Fakten“ durcheinander…
Drittens: Wir müssen trennen, ob es sich um das Gegenlesen von Wortwörtlichem handelt oder von anderen Texten. Ein krasser, aber folgenreicher Fall, den sich der Schweizer Presserat 1995 vornahm, war ein Interview von Facts mit dem damaligen CVP-Präsidenten Anton Cottier. Es gab mehrere Fassungen, Facts veröffentlichte am Schluss eine Version, die weder dem ursprünglichen Interview entsprach, noch von Cottier abgesegnet worden war, und stellte Cottiers veränderte Antworten seinen ursprünglichen gegenüber. Cottier führte beim Presserat Beschwerde. Was ihm widerfahren sei, widerspreche journalistischer Praxis und Ethik, seinem „Recht auf das eigene Wort" und greife indirekt auch seine Persönlichkeit an. Die Verantwortlichen bei Facts, Jürg Wildberger und Catherine Duttweiler, argumentierten, Cottier habe derart massiv verändert, dass die revidierte Fassung gegenüber den Leserinnen und Lesern nicht zu verantworten war. Der Presserat rügte beide und definierte Grenzen, erläutert die Vizepräsidenten des Presserats, Esther Diener-Morscher. Wortinterviews müssen autorisiert werden, Zitate dürfen auf Wunsch gegengelesen werden. Das gilt auch für indirekt zitierte Aussagen. „Man soll sich da nicht hinaus schleichen können“, aber auch öffentlich machen, was hinter den Kulissen abläuft – beispielsweise, wenn vereinbart wurde, gewisse Fragen nicht zu stellen. Interviewte dürfen den Sinn ihrer Antworten nicht nachträglich ändern, Fragen streichen oder hinzufügen, sondern nur offensichtliche Irrtümer korrigieren. Können sich beide Seiten nicht einigen, steht Medienschaffenden frei, nichts zu veröffentlichen oder auch über das Gerangel im Hintergrund zu berichten.
Politiker.
„Ich gebe alles zum Gegenlesen“, erklärt Georges Wüthrich (Blick) und nennt als Beispiel ein Interview, das er für seine neue Kolumne „Hart gefragt“ führte mit Eugen Haltiner, einem Ex-UBS-Mann, der jetzt die Eidgenössische Bankenkommission präsidiert. „Haltiner machte ein paar kleine Korrekturen, die alle in Ordnung waren. Die meisten entstellen nichts, sie stellen klar.“ Als zunehmend mühsam empfindet er die Rolle der immer professioneller agierenden Pressestellen: „Diese PR-Leute wollen massiv eingreifen. Sie sind fast mächtiger als die Interviewten.“ In den bislang noch seltenen Fällen, wo für seinen Geschmack zuviel verändert wurde, druckt er den Text nicht. Das erfordert Stehsatz oder Flexibilität: Wohl keine Zeitung erscheint im Falle des Falles eher mit Weissraum als mit einem umgeschriebenen Text.
Einige Interviewpartner flüstern einem gerne „off the records“ etwas zu, erzählt Peer Teuwsen (Weltwoche). Er verbiete sich das: „Das macht mich zum Komplizen. Ich will nur wissen, was ich auch verwenden kann.“ Die meisten reden auch unter diesen Bedingungen weiter. „Sie wollen ja etwas loswerden. Die vorgehaltene Hand ist oft nichts als Taktik“. Georges Wüthrich erzählt, wie er nach seinem Interview mit Kofi Annan dessen Pressechef fragte, wann er es gegenlese. „Der hat mich bloss entsetzt angeschaut und gesagt: Das ist doch immer on the records. Auch mir wäre es so am liebsten: Was einer sagt, gilt und kann gedruckt werden. Sofort.“
Porträts.
Bei allem, was über wörtliche Zitate hinausgeht, ist das im Prinzip auch so. „Grundsätzlich werden Texte nicht gegengelesen. Falls dies nach einer Vereinbarung trotzdem der Fall ist, so beschränkt sich der Journalist in der Regel darauf, Inhaltliches, nicht aber Formales zu korrigieren“, schreibt die Schweizer Journalistengewerkschaft „impressum“ in ihrer Broschüre „Mit den Medien kommunizieren“. Doch die Faktenkontrolle wird rasch zum Einfallstor. „Es ist wie auf dem Bazar“, vergleicht ein Lokalredaktor: „Wer einen auf einen Fehler hinweist, verlangt oft als Gegenleistung eigenen Profit: Da soll ich hier ein bisschen streichen, dort etwas hinzufügen…“ Besonders hartnäckig sind Menschen, die sich für ein Porträt zur Verfügung stellten. Weil das sehr persönlich ist, lässt sich mancher Journalist erweichen, schickt sein Manuskript – und kassiert leicht Streit, weil viele Porträtierte sich anders sehen als Dritte. Für Esther Diener-Morscher ist auch dies ein klarer Fall: „Ein Porträt ist eine eigenständige journalistische Leistung. Das würde ich nie vorlegen.“ Die preisgekrönte Porträtistin Margrit Sprecher ergänzt am Beispiel ihres Textes „Der Sonnenkönig“ über den Fifa-Präsidenten Sepp Blatter, dies wäre mit dessen Einwilligung nie zustande gekommen. Weil er sich verweigerte, gab es nicht einmal ein Porträtgespräch. Sie schuf ihr Bild aus dem, was sie an ihm in vielfältigen Situationen beobachtete, und aus Aussagen anderer über ihn.
Besonders dreist sind die Begehrlichkeiten im Lokal- und Regionaljournalismus. Eine Freie Journalistin erzählt von einem Anlass, den die Finanzdirektion im Kanton Zug mitveranstaltete – „ein harmloser Termin. Es ging nur darum, wer wem die Hand schüttelte“. Der Finanzvorsteher nahm sie zur Seite. „Er wollte meinen Text vor der Veröffentlichung gegenlesen. Das sei bei allen kantonalen Behörden so üblich.“ Sie lege ihm nichts vor, es sei denn, er zahle 3000 Franken Honorar, konterte sie. Das sass. Natürlich kam der Deal nicht zustande, es folgte auch kein Protest. Sie folgert: „Die wollten mich nur einschüchtern.“
Manchen reicht das nicht. Eine Bergbahnfirma lud zu einer Medienkonferenz, weil ein Filmteam bei ihr einen Snowboardkrimi drehte. Die damalige Chefredaktorin des Lokalblatts schrieb einen Bericht zur Sache und setzte einen Kommentar voll harscher Kritik daneben. „Die sahen mir mein Missfallen an und versuchten alles, um den Abdruck zu stoppen.“ Bis hin zur diffusen Drohung, sie hätten die „Macht, sie zu ruinieren“. Der Kommentar erschien. Damit begann eine lange Geschichte. Bahnvertreter untergruben systematisch ihr Ansehen. Nach einer Medienkonferenz reichten sie ihr angeblich korrigierte Unternehmensdaten nach, die sie veröffentlichte. Das nahm die Firma als Beleg, sie recherchiere schlecht, Kollegen anderer Medien hätten die richtigen Zahlen. Jede Woche trafen zwei, drei Beschwerden des Unternehmens ein. Der Verlag hielt ihr die Stange. „Ich habe deshalb von anderer Stelle nie Hilfe erbeten oder benötigt“, erzählt sie. Fünfeinhalb Jahre ging das so. Dann war die Geschäftsleitung mürbe und begann, ihr zu misstrauen. Das war zuviel. Nach wenigen Tagen brach sie zusammen. Burn-Out. Monatelang war sie krank, später wechselte sie in die PR und zog ein Fazit: „Journalismus ist ein harter Job.“
Rückgrat.
Journalismus erfordert Rückgrat – aber auch Rückendeckung von Chefredaktion und Verlag. Medienschaffende sind öfter als man annimmt Opfer eines Gezerres mit den Protagonisten ihrer Geschichten, vieles bleibt im Dunkeln. Türöffner ist oft die angebliche „Win-Win-Situation“ der Faktenkontrolle. Das legt nahe, Fachabteilungen in den Verlagen einzurichten, in denen unter dem eigenem Dach die Experten sitzen, die systematisch die Sachprüfung vornehmen. Hier könnte die Medien-Konzentration Synergien ermöglichen, solcherlei „Kollegenhilfe“ liesse sich auch im Verbund organisieren. Eine klare, der eigenen Redaktionskultur angepasste Regelung des Gegenlesens als Richtschnur und Argumentationssicherheit ist notwendig, sowie mehr Offenheit unter Kollegen. Manche, die sich am Pranger fühlen, rätseln, weshalb ausgerechnet sie solche Anfeindungen aushalten müssen… Nach aussen geben Journalisten am liebsten den Helden, der stets unerschütterlich die Fäden in der Hand hält. Oft ist das so. Manchmal nicht.