„Alles steht unter politischem Einfluss“: Gibt es noch unabhängige Berichterstattung in Bosnien und Herzegowina?

5. Oktober 2022 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Im Oktober 2022 stehen in Bosnien und Herzegowina Wahlen an. Judith Brand, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo, erklärt im Interview, welchen Einfluss die politischen Konflikte auf die journalistische Arbeit im Land haben – und warum internationale Unterstützung so dringend gebraucht wird.

Frau Brand, im Mai schrieben Sie in einer Analyse: „Bosnien und Herzegowina befindet sich in der schlimmsten Krise seit dem Ende des Krieges.“ Wie beurteilen Sie die Lage jetzt, einige Monate später?

Ich glaube, das stimmt immer noch. In Bosnien und Herzegowina werden im Oktober 2022 Wahlen sein. Im Vorfeld dieser Wahlen wurden jetzt wieder nationalistische Töne laut und es kommt immer wieder die Frage auf: Was ist Bosnien und Herzegowina? Ist das ein Staat, in dem drei konstituierende Völker leben? Oder ist es ein Staat, in dem Bürger und Bürgerinnen leben? Aus der Republika Srpska gibt es gerade wieder Bestrebungen zur Abspaltung. Es wurde auch immer wieder angekündigt, dass in Zukunft Serben alle in einem Staat leben. Es gibt ganz verschiedene Vorstellungen von dem Zusammenleben und das kocht immer wieder hoch.

Bosnien und Herzegowina ist ein Staat aus drei konstituierenden Völkern, den Bosniaken, Serben und Kroaten, sowie der „Anderen“ [Anmerkung der Redaktion: Laut dem Friedensvertrag von 1995 sollen alle Menschen, die in Bosnien und Herzegowina leben, einem der drei konstituierenden Völker zugeordnet sein. Wer nicht zu den Bosniaken, bosnischen Kroaten oder Serben gehört, zählt zu den “Anderen”] und der Bürgerinnen und Bürger. So steht es im Dayton Friedensvertag, der 1995 den Krieg beendete und in dessen Anhang sich die heute noch gültige Verfassung findet. Politisch hat das Konzept der konstituierenden Völker großes Gewicht, alles ist dreigeteilt: alle Gesetze müssen nicht nur im Abgeordnetenhaus, sondern auch im Haus der Völker verabschiedet werden, es gibt drei Stromunternehmen, drei Postunternehmen und so weiter. Die großen, nationalistisch, ethnisch ausgerichteten Parteien setzen weiter auf Volksgruppen, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen.

Das bringt natürlich keine Ruhe in dieses Land und ist überhaupt nicht konstruktiv. Es geht im aktuellen politischen Diskurs nicht um das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, die in diesem Land leben. Sondern es geht immer nur darum, welches Land Bosnien und Herzegowina ist und ob es überhaupt ein Staat sein soll. Es sieht aktuell nicht danach aus, dass hier morgen gewaltsame Konflikte ausbrechen. Aber die Frage, wie die Zukunft Bosnien und Herzegowinas sein wird, stellt sich immer wieder.

Welche konkreten Auswirkungen haben diese Konflikte auf die Medienlandschaft?

Die Medienlandschaft ist schon lange fragmentiert, unabhängig von der Krisenhaftigkeit des Landes. Sie ist schon immer politisch aufgeteilt gewesen. Es gibt sehr viele Medien, die direkt beeinflusst sind von politischen Parteien oder die sogar einem führenden Politiker oder Parteivorsitzenden gehören.

Die Berichterstattung unterscheidet sich stark zwischen der Republika Srpska, der Föderation und der Herzegowina, also dem Bereich, in dem vor allem kroatische Parteien einflussreich sind. Dort gibt es jeweils ganz unterschiedliche Fokusse in der Berichterstattung. Die Medienlandschaft ist aber auch über diese drei großen Bereiche hinaus kleinteilig fragmentiert. Jeder Ort hat seinen eigenen Fernsehsender und es gibt mehrere hundert Webportale.

Viele Medien in Bosnien und Herzegowina entstanden während des Krieges 1992-1995. Wie würden Sie deren Rolle heute beurteilen?

Es gibt Medien, die schon vor dem Krieg da waren, die heute immer noch eine Berichterstattung für das ganze Land machen. Die werden auch so wahrgenommen, dass sie sich um das ganze Land kümmern. Während des Krieges waren sie wichtig und sie sind es weiterhin. Daneben gibt es eine ganze Reihe Medien, die nach dem Krieg und in den vergangenen Jahren entstanden sind. In letzter Zeit waren das natürlich vor allem Webportale. Außerdem gibt es öffentliche Medien: Einen gemeinsamen Fernseh- und Rundfunksender, und in den beiden Entitäten, in der Republika Srpska und in der Föderation, jeweils einen öffentlichen Fernsehsender. Die wurden aufgrund der Aufteilung im Dayton Friedensvertrag so gestaltet. Der Rest sind alles private Medien.

In Bosnien und Herzegowina stehen im Oktober 2022 Wahlen an. Gibt es in diesem Zusammenhang eine unabhängige Berichterstattung?

Das ist sehr unterschiedlich. Was ein großes Problem ist, hier in Bosnien und Herzegowina – nicht nur rund um die Wahlen – ist der politische Einfluss auf Medien und die Instrumentalisierung von Medien. Das spielt natürlich auch im Wahlkampf eine Rolle.

Es gibt einige unabhängige Medien, die Qualitätsjournalismus betreiben. Laut einer aktuellen Untersuchung genießt der TV-Sender BN aus Bijeljina das höchste Vertrauen in Bezug auf politische Informationen, gefolgt von N1, einem CNN-Partner, und der Fernsehanstalt der Föderation FTV – allerdings rangiert das alles auf relativ niedrigem Niveau von maximal elf Prozent. Außerdem gibt es einige Recherche-Medienportale, die einen kritischen Blick haben und unterschiedliche Blickpunkte einfangen. Insgesamt sind diese Medien aber deutlich in der Minderheit.

Über welche Medien informieren sich die Menschen in Bosnien und Herzegowina?

Interessanterweise ist Fernsehen das wichtigste Informationsmedium, mit Abstand. Das ist in der gesamten Region des Westbalkan ähnlich – über die Hälfte der Bevölkerung informiert sich über Fernsehen.  Darauf folgen Webportale, und danach kommen Zeitungen. Wenn in zwei oder drei Webportalen etwas verbreitet wird, dann ist das quasi viral, dann spricht man hier darüber. Ein Portal, das am meisten genutzt wird, ist das Klix.ba-Webportal. Das hat sehr schnell wechselnden Content.

Welche Rolle spielen demokratische Werte in der medialen Berichterstattung?

Ich glaube, es würden die meisten von sich sagen, dass sie demokratischen Werten verpflichtet sind. Aber das wird immer unterschiedlich auslegt, je nachdem, aus welcher politischen Richtung man kommt. Wenn man sich Berichte zur Medien- und Pressefreiheit anschaut, da schneidet Bosnien und Herzegowina nie wirklich gut ab – auch, was die politische Einflussnahme auf die Berichterstattung angeht. Es werden hier leider auch immer noch Journalistinnen und Journalisten attackiert.

Seit 2000 gibt es in Bosnien und Herzegowina einen Presserat, der allerdings nicht ausreichend finanziert wird. Sehen Sie für die Zukunft eine Möglichkeit, dass der Presserat an Einfluss auf die freie Berichterstattung gewinnen könnte?

In Bosnien und Herzegowina ist es so, dass alles, was auf staatlicher Ebene stattfindet oder was den Gesamtstaat in den Blick nimmt, es wahnsinnig schwer hat – das gilt auch für den Presserat. Das liegt an den Abspaltungstendenzen, an der Fragmentierung und an den nationalistischen Bestrebungen, nur für die eigene Gruppe Politik zu machen. Das öffentliche Fernsehen auf der Staatsebene ist immer hoffnungslos unterfinanziert und steht regelmäßig vor der kompletten Pleite. Bosnien und Herzegowina ist nicht in der Eurovision, weil es dafür kein Geld gibt, und Museen auf Staatsebene werden auch nicht finanziert.

Ähnlich ergeht es dem Presserat. Es ist wahnsinnig schwer, Menschen zu finden, denen es wichtig ist, dass es so etwas auf Staatsebene gibt – und die dann auch noch den entsprechenden Einfluss haben, um sich durchzusetzen. Es gibt hier ein Zwei-Kammern-System: In der einen Kammer sitzen direkt gewählte Abgeordnete und in der anderen sitzen Vertreter des Volkes. Alle Gesetze und Budgetplanungen müssen beide Kammern passieren. Dort hakt es oft an der Unterstützung für alles, was auf Staatsebene stattfindet.

Welche Rolle spielen die internationale Förderung im Rahmen der Medienentwicklung in Bosnien und Herzegowina und die eingereichte Bewerbung für eine EU-Mitgliedschaft?

Die EU-Kommission schreibt in regelmäßigen Abständen Country Reports, in denen Bosnien und Herzegowina in verschiedenen Bereichen analysiert wird – unter anderem, was die Medienfreiheit anbelangt. Also die EU schaut darauf, wie die Berichterstattung aussieht und wie Journalist:innen geschützt werden. Das wird immer sehr kritisch bewertet.

Gleichzeitig gibt es Programme, um Journalist:innen und Medien zu unterstützen. Es ist sehr wichtig, dass man die Lage beobachtet und dass es verschiedene Programme gibt, damit die Journalist:innen in diesem Kampf nicht alleine gelassen werden und vor Angriffen geschützt sind. Und es ist ebenso wichtig, Qualitätsjournalismus zu erkennen und Recherche zu fördern, sodass investigativer Journalismus hier eine Zukunft hat und an Verbreitung gewinnen kann. Dafür braucht es Unterstützung.

In Bosnien und Herzegowina stehen nicht nur die Medien unter politischem Einfluss, sondern alles steht quasi unter politischem Einfluss. Es gibt ein hohes Maß an Korruption. Gerade da bräuchte es natürlich investigative Journalist:innen, die diese Verflechtungen aufdecken. Das geht aber nur, wenn es Arbeitsbedingungen gibt, in denen Journalist:innen sich geschützt und unterstützt fühlen.

Was ist insgesamt die größte Herausforderung für Ihre Arbeit in Bosnien und Herzegowina?

Das ist dieser nationalistische Diskurs. Der nimmt allen, den Bürger:innen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, mit denen wir zusammenarbeiten, sehr viel Energie. Denn man hat ständig das Gefühl, man muss dagegen arbeiten und sich Freiräume schaffen. Man ist ständig in einem Kampf gegen etwas, statt in keinem Kampf für etwas.

Das ist auch der Grund, warum sehr viele, vor allem junge Menschen, das Land verlassen, und zum Beispiel nach Deutschland auswandern. Auch die Geburtenrate ist im weltweiten Vergleich sehr niedrig. Bosnien und Herzegowina ist weltweilt die Nummer eins, was den Rückgang der Einwohnerzahl angeht. Die Menschen sehen hier keine Perspektive mehr, nicht nur wirtschaftlich, wegen der Arbeitsplätze, sondern generell.

Was macht Ihnen trotz dieser negativen Entwicklungen Hoffnung – und was wünschen Sie sich für die kommenden Jahre?

Es gibt weiterhin eine Zivilgesellschaft, es gibt weiterhin gute Medien und es gibt auch weiterhin Journalist:innen, die qualitativen Journalismus betreiben. Sie alle arbeiten daran, dass sich Bosnien und Herzegowina ändert und dass es eine Zukunft für alle Bürger:innen gibt. Es ist wichtig, nicht nur den nationalistischen Diskurs zu hinterfragen und zu dekonstruieren, sondern auch andere Themen zu setzen.

Wir befinden uns schließlich nicht nur in dieser einen, selbstgemachten Krise, sondern gleichzeitig gibt es die Klimakrise, es gibt den Krieg in der Ukraine, es gibt eine Energiekrise, es gibt eine massive Inflation und es gibt weiterhin die Corona-Pandemie. Wir befinden uns inmitten von vielen Krisen und Herausforderungen, die gelöst werden müssen. Ich würde mir wünschen, dass immer wieder daran erinnert wird, dass das die Themen sind, über die wir sprechen und die wir anpacken müssen.

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