Mythen entzaubern, Kompass richten

5. November 2019 • Qualität & Ethik • von

Ein 27-jähriger Attentäter mordet, angetrieben von Judenhass, und filmt seinen Terror-Feldzug in der ostdeutschen Stadt Halle mit einer Helmkamera. Ein Teil der Medienberichte belegt, wie wieder einmal die Nadel des ethischen Kompasses versagte. Und einmal mehr offenbarte sich, dass die Berichterstattung über „neuen“ Rechtsextremismus dringend professioneller werden muss.

Der Attentäter von Halle streamte seinen Anschlag auf Twitch. Neue Livestream-Regeln zu fordern, lenkt aber vom Kernproblem ab.

Der Täter suchte sich einen Festtag, das jüdische Versöhnungsfest Jom Kippur, als Tattag aus, er wollte möglichst viele Juden töten, hatte ein Arsenal an Sprengkörpern, Gewehren und Pistolen beschafft, einige selber gebastelt, sich eine Kamera auf den Helm montiert, um „seinen Kreisen“ und aller Welt zu zeigen, was er „drauf“ hat. Deshalb sprach er Englisch und bezog sich auf bekannte rassistisch getriebene Massenmörder in Norwegen und Neuseeland. Offenbar gehört er zu jenen „neuen“ Rechtsextremen, die sich im Netz und mit Spielen auskennen; dazu passt, dass er sein Video auf Twitch stellte, eine Streamingplattform für Computerspiele. Eine andere Perspektive als die des Massenmörders sieht er für sein Leben offenbar nicht.

War die Polizei zu langsam? Sind Livestreamregeln zu lasch? Müssen Synagogen an jüdischen Feiertagen systematisch und besser geschützt werden? Wichtige Überlegungen. Doch die zentralen Herausforderungen, die die Morde in Halle offenbaren, gehen deutlich weiter und werden oft verdeckt. Vier Ansatzpunkte.

Erstens: Neue Livestream-Regeln zu fordern, lenkt vom Kernproblem ab.

Manche Medien argumentieren nun, man müsse beim Verbreiten der Livestreams ansetzen; bei Video-Kopien versagen oft die Uploadfilter der Plattformbetreiber, es brauche Regeln, um Streamingfunktionen besser einzuschränken. Solche Einschränkungen wären aber letztlich deshalb fatal, weil sie auch das Live-Verbreiten erlaubter Inhalte erschweren würden oder Live-Streams wie jüngst aus Hongkong, wo Studierende ebenfalls Twitch nutzten, um ihre Proteste gegen Peking zu organisieren und zu dokumentieren. Zudem liegt es keineswegs an den Streaming-Regeln, wenn in Halle wieder einmal den Botschaften und Taten eines Attentäters eine Riesenbühne gegeben wurde.

Zweitens: Beharren auf einem ethischen Kompass ist unabdingbar.

Auf Twitch wurden live angeblich fünf Personen erreicht, durch die Aufzeichnung Tausende. Millionen hingegen sahen das Foto des Täters. Warum zeigten wieder viele (journalistische) Medien das Gesicht des Täters? Warum nannten viele seinen Namen und trugen dazu bei, dass ihm der von ihm erwünschte Platz in der Geschichte des rechten Terrors sicher ist? Warum verharmloste Blick Online in der Schweiz seine Tat, indem er sie als „planlos“ beschrieb sowie als „Amoklauf“ – und nicht als das, was sie war: ein gründlich geplanter Massenmord und ein ausgeführter Mord an zwei Menschen? Ein Teil der Berichterstattung wirkt, als hätten manche Medien aus den vorausgegangenen Fehlleistungen in der Berichterstattung über Terror nichts gelernt. Jeder, der professionellen Journalismus betreibt, muss wissen, dass das Risiko von Nachahmungseffekten steigt, wenn er Tat und Täter viel Raum gibt, also letztlich „Propaganda“ für dessen Tat betreibt und sich zum Handlanger für sein Ziel machen lässt, viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

In der Verantwortung sind alle, die das Tätervideo auf Twitch geteilt haben, vor allen Dingen aber Medien, die eigentlich die Richtlinien des Pressekodex im Kopf haben sollten. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn man es – richtigerweise – unterlässt, das Video des Täters zu veröffentlichen, dann aber dessen Inhalte nicht bloß grob, sondern in extremer Detailtiefe nacherzählt, wie z.b. Zeit Online, die fast jede Kameraeinstellung schilderten. Weniger wäre deutlich verantwortungsbewusster. Allzu genaue Beschreibungen sind nicht mehr relevant, sondern bedienen wiederum vor allen Dingen die Ziele des Täters.

Nährboden für Rechtsterrorismus ist nicht die Livestreamtechnik, sondern der Frust, das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, und ein Verschwörungsmythos, der Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit verknüpft und Projektionsflächen schafft.

Drittens: Journalismus muss noch intensiver populistische Politikpositionen und Zusammenhänge erklären.

Der Verschwörungsmythos vom „Großen Austausch“ besagt, dass es einen geheimen Plan gebe, weiße Mehrheitsgesellschaften gegen muslimische oder zumindest gegen „nicht-weiße“ Einwanderer auszutauschen. Drahtzieher seien Eliten, Wirtschaft, Juden, Europäische Union, Vereinte Nationen etc.. Das Ziel sei der Untergang der „Weißhäutigen“. Mit diesem Mythos begründete der Rechtsterrorist von Christchurch im März 2019 seinen Massenmord in zwei Moscheen. Akteure der sogenannten „Identitären Bewegung“ greifen diese Propaganda auf – und auch Rechtspopulisten in Deutschland und Österreich. Der Chef der „Alternative für Deutschland (AfD), Alexander Gauland, warnte auf einem Parteitag vor einem „Bevölkerungsaustausch“, der ehemalige österreichische Vizekanzler und FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache rief zum „Kampf gegen den Bevölkerungsaustausch“ auf.

Diese Verschwörungstheorie ist brandgefährlich und daher sehr ernst zu nehmen, weil sie so schlicht ist: Damit wird alles, was fremdländisch aussieht – Menschen, Gebäude, Imbissbuden etc. – zum Beleg, dass diese „Untergangsgefahr“ zutrifft. Man muss sich nicht abmühen mit Rechtfertigungen oder der Option, dass ein Zusammenleben mit verschiedenen Kulturen möglich sein könnte, sondern kann sich vereinen in einer globalen Bewegung der Selbstverteidigung und des Widerstands gegen eine vermeintlich existenzielle Bedrohung der „Weißhäutigen“.

Viertens: Den Fokus über das Attentat hinaus richten heißt, Parallelwelten und konfliktreiche Milieus systematisch beobachten.

Rechtsextrem motivierte Gewalt in Deutschland hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Das belegen das Attentat in Halle sowie auch der Mord an dem Kasseler Politiker Walter Lübcke im Mai dieses Jahres. Bei Terror sind stets die akuten Phasen, in der über das Verbrechen als solches berichtet wird, von jenen zu unterscheiden, in denen es darum geht, Milieus zu beobachten, aus denen heraus solche Verbrechen geplant werden oder in denen z.B. deren psychologische und soziale Voraussetzungen entstehen. Dazu gehört auch die Analyse der Gründe für die Art der Radikalisierung.

Taten werden inszeniert wie Reality TV, Täter wirken wie Einzeltäter, sind aber radikalisiert oder „asozialisiert“ z.B. in extremistischen Gamer- und Hater-Kreisen. Sie bewegen sich in einer Parallelwelt mit eigenen Codes und Regeln, die international arbeitet, Argumente und Tipps austauscht und in der neben dem Scoring im Spiel das Scoring im echten Morden einen zum Helden machen kann. Es bedarf dringend bei der Polizei, aber auch in Medien (noch mehr) qualifizierter Kräfte, die in der Lage sind, diese Parallelwelt und die dazugehörigen Alltagsmilieus im Alltag kritisch zu beobachten. Und dies ist auch ein Plädoyer für die Bedeutung eines lebendigen Regional- und Lokaljournalismus.

Erstveröffentlichung: persoenlich.com vom 13. Oktober 2019

Bildquelle: 玄 史生 / Flickr CC: DSCF6114

 

 

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