Bedenken in Brüssel: journalistischer Umgang mit Desinformationen im Vorfeld der Europawahl

8. Mai 2024 • Qualität & Ethik, Top • von

Fake News, Desinformationskampagnen oder KI-generierte Deep Fake Videobotschaften: der Kampf um die öffentliche Meinung wird längst nicht immer mit fairen, demokratischen Mitteln geführt – insbesondere in Zeiten internationaler Spannungen. Gerade bei Ereignissen mit großer politischer Tragweite sollte es die Aufgabe der Journalist:innen sein, als eine Art Schiedsrichter zu agieren. Die bevorstehende Europawahl stellt jedoch wieder einmal die Frage: Wie gut sind wir Journalist:innen wirklich darin, die Öffentlichkeit vor böswilligen Eingriffen in die Meinungssphäre zu warnen und gegebenenfalls sogar zu schützen?

Genau dieser Frage widmet sich eine 2023 veröffentlichte Studie von Sophie Lecheler von der Universität Wien und Katjana Gattermann sowie Loes Aaldering von der Universität Amsterdam. Das Paper „Disinformation and the Brussels bubble: EU correspondents’ concerns and competences in a digital age” ist eine der ersten empirischen Untersuchungen über die Wahrnehmung der „Desinformationskrise“ durch Brüsseler EU-Korrespondent:innen und deren Selbsteinschätzung ihrer Fähigkeiten und Sorgen im Bezug auf ebenjene Krise. Sie beruft sich dabei auf die Angaben von 75 EU-Korrespondent:innen über ihre Erfahrungen aus dem Europawahlkampf 2019 – rund 8 Prozent der 2019 in Brüssel akkreditierten EU-Korrespondent:innen.

Verifikationskrise und Pressefreiheit

Bevor Lechler et al. sich den konkreten Problemen der Brüsseler Korrespondent:innen zuwenden, legen sie den Forschungsstand dar und verorten die Studie im Kontext der Verifikationskrise und der Umstände, die diese Krise befeuern. Denn neben der bereits beschriebenen (Des-)Informationsflut, die die Journalist:innen zu bewältigen haben, üben ökonomische Zwänge, die zunehmende Prekarität des Journalist:innenberufs und die immense Geschwindigkeit des Nachrichtenzyklus massiven Druck auf die Medienschaffenden aus. Um von ihrer Arbeit leben zu können müssen Politjournalist:innen Aussagen und Fakten aus einer hochpolarisierten, zunehmend populistischen Informations- und Meinungssphäre entnehmen, verifizieren und – im Falle selbstständiger Journalist:innen – an möglichst viele Abnehmer:innen verkaufen. Studien zeigen, dass dieser Druck die Anfälligkeit für Desinformationen noch einmal erhöht.

Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, so Lechler et al., braucht es ausreichendes Wissen über den Berichtgegenstand, ausgeprägte Verifikationsfähigkeiten und eine entsprechende Berufsethik. Vor allem am Punkt der Verifikationsfähigkeiten hapert es, den Studien zufolge, jedoch: Vielen Journalist:innen fehlt dieses Wissen über und/oder der Zugang zu den für die Verifikation kritischer Informationen nötigen Quellen und Werkzeugen.

Die Brüsseler Medienblase ist dabei noch einem weiteren Gefahrfaktor ausgesetzt. Da sich die EU-Korrespondent:innen in so einem hochpolitisierten Feld bewegen und die Kommunikation der Politiker:innen zunehmend professionell abläuft, die Berichterstattung also auf Informationen beruht, die den Medien gezielt und mit bestimmten Intentionen aus ebenjenem Feld zugespielt werden und die Journalist:innen sie in die jeweilige politische und ideologische Färbung ihres Heimatpublikums übersetzen müssen, bieten sie eine weitere Angriffsfläche für Desinformationskampagnen.

Um all diese Faktoren miteinzubeziehen, unterteilen Lechler et al. die Angaben der Medienvertreter:innen noch nach den Kategorien des Einstellungsverhältnisses der Journalist:innen, des Typs des Medienhauses, für das sie arbeiten, und dem Grad der Pressefreiheit in ihren Publikationsländern. Vor allem letzterer Punkt beeinflusste die Teilnahmequote der angefragten Journalist:innen an der Studie, sank sie doch mit abnehmender Pressefreiheit. Angesichts dessen räumen die Autor:innen der Studie ein, dass ihre Ergebnisse zwar nicht repräsentativ für das Brüsseler Pressekorps sind, sich aber in ihren Grundzügen mit denen anderer Studien decken.

Bedenken und Kompetenzen

Zunächst sollen die Befragten eine generelle Einschätzung abgeben, was sie für die größte Herausforderung für die EU im Vorfeld der Europawahl 2019 halten. Entgegen der Annahmen der Studienautor:innen setzte nur ein einziger Journalist Desinformationen auf diesen ersten Platz. Die meisten nannten die Zunahme an Populismus in der EU (20 Prozent der Antworten), die Legitimität der EU (19 Prozent) oder geopolitische Spannungen (11 Prozent) als größtes Problem. Der Brexit, Migration und die Funktionalität der EU-Institutionen teilen sich den vierten Platz mit je 9 Prozent.

Hinsichtlich der Bedrohungen für den Journalismus als Beruf schaffte es die Desinformationskrise auch nur auf den zweiten Platz mit fast 25 Prozent. 35,8 Prozent sahen das aktuelle Geschäftsmodell der Medienunternehmen sowie ihren Kampf um finanzielle Mittel und Grundlagen als größte Bedrohung für den Journalismus. In direkter Verbindung mit diesen beiden Punkten stehend, findet sich die Sorge um schwindendes Medienvertrauen mit 14 Prozent auf dem dritten Platz wieder. Ältere Studien stellen dieses schwindende Medienvertrauen in doppelten Zusammenhang mit Desinformationen und Fake News. Zum einen beeinträchtigt die tatsächliche Zunahme falscher Informationen – seien sie nun lediglich Mis- oder doch schadwillig eingesetzte Desinformationen – dieses Vertrauensverhältnis zwischen Medienkonsument:innen und -produzent:innen, zum anderen aber erodiert die Instrumentalisierung des Fake News Labels zur Diskreditierung von Medienunternehmen durch politische und soziale Akteure ebenjenes Verhältnis.

Medienschaffende aus Ländern mit einer ausgeprägten Pressefreiheit zeigen sich eher besorgt über Desinformationen, als solche aus Ländern mit geringerer. Signifikanter ist der Einfluss, den der Typ des Medienhauses auf diese Einschätzung hat: Journalist:innen aus den klassischen Medien sprechen der Bedrohung durch Desinformationen bedeutend mehr Gewicht zu als jene aus den digitalen Medien. Das Einstellungsverhältnis der Journalist:innen hat jedoch keine Auswirkungen auf dieses Ergebnis.

Dass Menschen in Europa im Zuge der Europawahl Desinformationskampagnen ausgesetzt werden, darüber sind sich die Befragten größtenteils einig. Jedoch zeigen sich hier Unterschiede entlang der Pressefreiheit in den verschiedenen Mediensystemen: Während Journalist:innen aus Ländern mit hoher Pressefreiheit eher besorgt um die Menschen in Gesamteuropa sind, machen sich Journalist:innen aus Ländern mit geringerer Pressefreiheit eher Gedanken um die Menschen in ihrem jeweiligen Publikationsland.

Das Bewusstsein über die Existenz, Zunahme und Gefahr von Fake News und Desinformationen sowie über ihre Rolle in der Bekämpfung dieser versetzt die Journalist:innen in die Position, dass sie sich als Beschützer:innen der medienkonsumierenden Gesellschaft sehen. Ihre Fähigkeiten, diese Aufgaben zu erfüllen, schätzen sie laut der Studie, recht selbstbewusst ein. Allerdings steht das Ergebnis im Kontrast zu ihrer Sorge, in welchem Maße die europäische Bevölkerung Desinformationen ausgesetzt sein wird – und von diesen beeinflusst wird. Lechler et al. folgern hieraus, dass unter dem Brüsseler Pressekorps ein Third Person Effect vorherrscht, eine kognitive Verzerrung, die dafür sorgt, dass eine Person ihre eigenen Fähigkeiten stets höher einschätzt als die anderer Menschen. „They trust themselves to detect disinformation, but do not trust their colleagues to do the same”, heißt es dort.

Was tun?

Der Ausblick, den die in den Studien beschriebenen Entwicklungen und Effekte bieten, ist kein rosiger. Ein Abebben der Desinformationskrise ist nicht abzusehen, es hat sich vielmehr gezeigt, dass diese sich seit der Europawahl 2019 verstärkt hat. Auch ein Anstieg im Medienvertrauen in der Bevölkerung ist ausgeblieben. Der Brüsseler Pressekorps hat sich weiter verkleinert und die finanziellen Umstände der Journalist:innen sind weiterhin prekärer geworden. Und auch die grundsätzliche ökonomische Organisierung der Medienunternehmen, als kapitalistisch gewinnorientierte Unternehmen, die nicht nur in Konkurrenz untereinander, sondern auch in doppelter – namentlich in ökonomischer und aufmerksamkeitsorientierter – Konkurrenz zu den großen Plattformgiganten stehen, hat das Ziel der unbeeinflussten Darstellung der Wahrheit weiter erschwert.

Wenig verwundernd ist es also, dass vermehrt nach einem politischen Eingreifen, teils sogar einer Regulierung gerufen wird. Während die EU mit legislativen Mitteln wie dem Digital Service Act und dem European Media Freedom Act bereits erste Schritte für den Schutz vor informationeller Beeinflussung getan hat, fordern Akteure aus der Zivil- und Wissenschaftsgesellschaft weitere Schritte. So sprechen auch Lechler et al. die Empfehlung aus, die EU solle ihren Pressekorps finanziell unterstützen, um so den Publikationsdruck zu senken und mentale Freiräume zu schaffen, die die Journalist:innen zu intensiveren Verifikationsbemühungen nutzen können – eine Empfehlung, die auch von großen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie der European Federation of Journalists geteilt wird. Ein weiteres Mittel, das Lechler et al. ansprechen, sind professionsweite Trainingsprogramme, um flächendeckend sicherzustellen, dass die EU-Korrespondent:innen tatsächlich auch wissen, was zu tun ist, um gegen die Flut der Desinformationen anzukommen.

Ob diese Empfehlungen auf fruchtbaren Boden innerhalb der EU-Institutionen fallen werden und wie ihre mögliche Umsetzung aussieht, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Was jedoch zu bezweifeln ist, ist dass sich eine nennenswerte Änderung noch vor Beginn des Europa-Wahlkampfes im Juni diese Jahres ergeben wird.

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