“Wir wollen neue Perspektiven zeigen”   

5. Dezember 2019 • Qualität & Ethik • von

Spätestens seit der Smartphone-Revolution ist fast jede Geschichte nur noch einen Klick entfernt. Egal, wo auf der Welt etwas passiert, die Story und entsprechende Bilder davon verbreiten sich in Windeseile durch den virtuellen Raum. So tauchen auch Fotos aus Konfliktregionen regelmäßig in unserem Nachrichtenstream auf. Für Medienmacher wird dieser Mix aus dem Publikumswunsch nach permanenter Information, dem steten Konkurrenzdruck der Branche sowie eigenen ethischen Richtlinien zu einer journalistischen Gratwanderung. Über die Bedeutung und den redaktionellen Umgang mit Kriegs- und Konfliktfotografie sprach Florian Sturm mit Michael Pfister, dem Leiter der Bildredaktion von Zeit Online. 

Die junge Afghanin Krishma, hier mit ihrem jüngeren Bruder Payman, ist durch die Flucht nach Deutschland zum Oberhaupt der Familie geworden. Ihre Geschichte war Teil der Serie „Angekommen“, mit der Zeit Online im Jahr 2018 über viele Monate hinweg Geflüchtete in Deutschland porträtiert hat, um einen Einblick in deren neuen Alltag zu gewähren. Foto: Jacobia Dahm. 

 

Florian Sturm: Herr Pfister, welche Rolle spielt die Verwendung von Bildmaterial aus Kriegs- und Krisengebieten auf Zeit Online? 

Michael Pfister: Ich würde eine klare Unterscheidung zwischen Konflikt und Krieg machen. Zeit Online bezieht das aktuelle, journalistische Bildmaterial von den großen Nachrichtenagenturen, unter anderem also von Reuters, dpa und Getty Images. Wir prüfen die Bildlage der unterschiedlichen Quellen und entscheiden uns danach für ein angemessenes Foto, welches die Situation vor Ort möglichst nuanciert darstellt. 

Nach welchen Kriterien wählen Sie und die Kolleg*innen die Fotos aus, die hochgeladen werden? Anders gefragt: Was darf nach Zeit Online Redaktionsrichtlinien gezeigt werden und was nicht? 

Die Fotoredaktion von Zeit Online ist sehr vorsichtig und zurückhaltend mit Fotos roher Gewalt. Wir versuchen mit unserer Bildauswahl ein vielschichtiges Bild der Situation vor Ort zu vermitteln. Wir wollen unsere Leser*innen nicht mit Fotos aus dem Krieg verstören. Bomben, Zerstörung sind nur eine Seite. Wir versuchen, möglichst Bilder zu zeigen, die einen Einblick in den Alltag gewähren, die versuchen, die Situation der Menschen zu schildern. Wir vermeiden es, Leichen, Blut und Opfer von Gewalt direkt abzubilden. In Einzelfällen zeigen wir auch verwundete Menschen, wie z.B. beim Angriff auf Kliniken in Idlib im Mai dieses Jahres.  

Das Abwägen von Information und Sachlichkeit auf der einen und Click-Baiting auf der anderen Seite ist gerade im Online-Journalismus eine schmale Gratwanderung. Wie gehen Sie und die Kollegen damit um? 

Die Leser*innen von Zeit Online wünschen sich Einordnungen und Analysen, die über die reine Information hinausgehen. Und wir versuchen, andere Perspektiven zu vermitteln. Ein Beispiel ist die Reportage des Autoren und Fotografen Ashley Gilbertson über die Kinder in der Ostukraine. In dieser Reportage hat der ehemalige Kriegsfotograf eine Geschichte anhand der Kinder erzählt, die er kurz hinter der Frontlinie des Konfliktes getroffen hat. 

Wie bereitet Ihre Redaktion Fotograf*innen auf Jobs in Kriegs- und Konfliktsituationen vor und wie werden sie gegebenenfalls nach Auftragsende betreut? 

Grundsätzlich beauftragen wir keine Freelancer*innen damit, für uns in Krisengebiete zu fahren. In Einzelfällen reist u.a. unsere Nahost-Expertin Andrea Backhaus in Konfliktgebiete, wie z.B. nach Jordanien. Diese Reisen werden von langer Hand geplant. In diesem Fall wird die Reporterin zusätzlich mit einer Redaktionskamera ausgerüstet und fotografiert selbst. 

Kriege und Konflikte sind stets hochkomplex. Wie, wenn überhaupt, lässt sich dieses Geflecht an Positionen, Dynamiken, Intentionen und Emotionen visuell darstellen? Welche Herausforderungen stellt das an die Fotograf*innen? 

Sie haben Recht, die Abbildung der Realität wird immer komplexer. Heutzutage wird es auch zunehmend schwieriger und gefährlicher, sich als freier Fotojournalist in Konfliktgebiete zu begeben. Ich denke, dass 2017 nach dem Tod des Fotojournalisten Tim Hetherington und Chris Hondros in Misrata ein Wendepunkt stattgefunden hat. Zwei sehr erfahrene Fotojournalisten sind an der Frontline umgekommen. Seither hat ein Umdenken stattgefunden. Einige Konfliktfotojournalist*innen wie Nicole Tung, Lynsey Addario oder Kriegsfotografen einer jüngeren Generation wie Dominic Nahr und Ivor Prickett fokussieren sich immer stärker auf das Aftermath der Konflikte. Beide Fotografen haben etwa den arabischen Frühling dokumentiert. 

Inwieweit sind bloße Fotografien überhaupt in der Lage, dem Leid und den Erfahrungen von Geflüchteten, von Soldat*innen und Hinterbliebenen gerecht zu werden? 

Im Jahr 2018 haben wir über viele Monate hinweg eine Serie unter dem Titel Angekommen publiziert. Wir haben in Berlin und Umgebung Flüchtlings-Familien aus Syrien und Afghanistan besucht und durch unsere Reportagen Einblick in deren Lebenswelten gegeben. Die Fotojournalist*innen und Reporter*innen sind den Flüchtlingen auf Augenhöhe begegnet, haben deren Herausforderungen und Erfolge im neuen Alltag in Deutschland vermittelt. 

Fotografinnen wie Andrea Bruce oder Heidi Levine, die beide mit dem Anja Niedringhaus Award for Courage in Photojournalism ausgezeichnet wurden, verfolgen in ihren Aufnahmen eine leisere Bildsprache als die meisten Kollegen. Brauchen wir eine neue, subtilere Bildsprache, die sich entfernt von tradierten Darstellungsformen, und weit verbreiteten Erzählmustern? 

Bei Zeit Online setzen wir sehr stark auf eine subtile, nuancierte Bildsprache. Fotografinnen wie etwa Lena Mucha, Maria Sturm, Jacobia Dahm, Meiko Herrmann und Ashley Gilbertson haben in den vergangenen Jahren bei uns gezeigt, wie man mit leisen Fotos visuell starke Geschichten erzählen kann. Dabei geht es um Autor*innenschaft und Haltung. 

Bilder zeigen den Ist-Zustand einer Situation. Hat Fotografie trotzdem das Potential, proaktiv statt reaktiv zu fungieren, gerade im Kontext von Krieg und Frieden? 

Die Bedeutung der Bilder im Journalismus wird immer stärker. Fotografie kann eine komplexe Situation vor Ort vielschichtig einfangen. Fotografen können kurze Bewegtbild-Sequenzen mitproduzieren und mit Hilfe von Drohnen völlig neue Perspektiven erschließen. Zudem spüren wir bei Zeit Online, dass Reportagen mit eigens produzierten Fotos länger konsumiert werden. Der Chefredakteur der New York Times hat prognostiziert, dass sein Medienunternehmen 2020 60 Prozent der Inhalte visuell produziert. Diese Aussage markiert einen Wechsel von Text hin zu visuellen, multimedialen Inhalten. Wir werden in Zukunft also noch mehr Fotos konsumieren. Diese müssen natürlich auch produziert, ausgewählt, journalistisch editiert, aufbereitet und in einen Kontext gesetzt werden. 

Vielen Dank Herr Pfister für das Gespräch. 

 

Michael Pfister leitet die Bildredaktion von Zeit Online in Berlin. Seine Laufbahn begann als Reporter für das Schweizer Radio DRS und Printmedien, später arbeitete er im Kulturmanagement. Nach einem Bildredaktionsstudium am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern waren weitere berufliche Stationen der Schweizer Ringier Verlag, die Fotoagentur laif und Bild am Sonntag. 

 

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf der Webseite von FREELENS e.V., dem Verband der Fotograf*innen und Fotojournalist*innen, im Rahmen eines Online-Schwerpunkts zur „Kriegs-, Krisen- und Konfliktfotografie“, mit dem dieser sich im Jahr 2019 intensiv beschäftigt hat. Bei EJO erscheint eine kleine Serie ausgewählter Artikel aus dem Projekt mit einem Schwerpunkt auf berufspraktische Fragen rund um das fotojournalistische Arbeiten in Kriegs- und Krisenregionen.

Diese weiteren Artikel sind in der Serie bei EJO erschienen:

Der Journalismus und die Kriegsfotografie 

Kriegsreporter – Mythos und Wirklichkeit eines Berufsbildes

Auf eigene Rechnung in den Krieg

Eine Kamera ist wie eine Waffe: alle haben Angst

Journalismus machen, der zeigt, was ist

Ausbildung für die Kriegsfotografie?

 

 

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