Die Illusion von einer europäischen Öffentlichkeit

13. April 2016 • Forschung aus 1. Hand, Qualität & Ethik, Ressorts • von

Wie eine Studie zeigt, konzentrierte sich die Berichterstattung deutscher Print- und Online-Medien über die griechische Staatsschuldenkrise hauptsächlich auf den Konflikt zwischen der deutschen und griechischen Regierung. Andere Akteure kamen selten vor und die europäische Perspektive fehlte.

Varoufakis

Treffen des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis mit Pierre Moscovici, Mitglied der Europäischen Kommission, im März 2015

Kompetente Wirtschaftsberichterstattung – und dabei insbesondere wirtschaftspolitische Berichterstattung – gewinnt in Zeiten globaler Märkte und zunehmender Komplexität in den Wirtschaftssystemen zunehmend an Bedeutung. In der europäischen Staatsschuldenkrise wird diese Komplexität erhöht. Es sind zahlreiche Regierungen und Institutionen an Problemlösungen beteiligt. Wenn immer mehr politische Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden, und europäische Entwicklungen eine hohe Relevanz haben, bedarf es auf dieser Ebene auch der Herstellung einer Öffentlichkeit.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der öffentliche Diskurs über die griechische Staatsschuldenkrise diesen Ansprüchen an Europäisierung im wirtschaftspolitischen Journalismus gerecht wird. Wir haben das Ausmaß einer europäisierten Berichterstattung im Kontext mit der Reformpolitik der Regierung Alexis Tsipras im ersten Halbjahr 2015 am Beispiel der deutschen Tageszeitungen Die Welt, Bild, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und taz sowie der Onlineplattform Spiegel Online untersucht. Mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse der Artikel zur griechischen Staatsschuldenkrise wurden Berichterstattungsintensität, Anlässe, Akteure und Wertungen erfasst. Ziel der Studie war es, Aussagen über die dargestellten europäischen Akteure und somit die Europäisierung der hergestellten Öffentlichkeit zu treffen.

Europäische Treffen häufig Anlässe für Medienberichte

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Anzahl der Artikel pro Tag von Januar bis März 2015. Größere Ansicht durch Klicken des Bildes.

Insgesamt konnten im Untersuchungszeitraum 1442 Artikel mit einem Bezug zur griechischen Staatsschuldenkrise in den untersuchten Medien ermittelt werden. Im zeitlichen Verlauf zeigten sich Phasen mit einer sehr intensiven Berichterstattung mit 20 Artikeln pro Tag, kurz nachdem Alexis Tsipras neuer Regierungschef wurde und anschließend weitere Auszahlungen aus dem zweiten Griechenland-Hilfspaket verhandelt wurden. Danach verlor die Berichterstattung von März bis Mai 2015 an Intensität und steigerte sich mit den erneuten Verhandlungen im Juni 2015 bis zu deren Abbruch am 27. Juni 2015 auf über 50 Artikel pro Tag.

In den meisten Fällen ließen sich Spitzenwerte der Berichterstattungsintensität auf einzelne Ereignisse zurückführen. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Treffen der Eurogruppe, der Euro-Finanzminister oder der Staats- und Regierungschefs der EU. Insbesondere die Treffen vor Auslaufen einer Stufe des Hilfspaketes im Februar und im Juni 2015 zogen große Aufmerksamkeit der Journalisten auf sich und verstärkten die Berichterstattung. Dazu zählten insbesondere Treffen der Euro-Finanzminister. Auch die Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs folgten diesem Muster und waren am 12.2.2015 und am 21.6.2015 Anlass für intensive Berichterstattung. Diese Gipfel standen bei ablaufenden Fristen in engem zeitlichem Zusammenhang mit intensiver Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise.

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Anzahl der Artikel pro Tag von April bis Juni 2015.

Das Scheitern der Verhandlungen über eine letzte Auszahlung aus dem zweiten Hilfspaket und die Ankündigung eines Referendums durch den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras sorgte Ende Juni 2015 für einen massiven Anstieg der Berichterstattungsintensität. Am 30. Juni 2015, dem letzten Tag des Untersuchungszeitraums, wurden in den untersuchten Medien 57 Artikel zur griechischen Staatsschuldenkrise veröffentlicht.

Europäische Akteure spielen kaum eine Rolle in der Berichterstattung

Nahezu alle untersuchten Artikel bezogen sich auf einen oder mehrere individuelle oder kollektive Akteure. In lediglich 404 Artikeln (28 Prozent) konnte kein Akteur als Anlassgeber für den Artikel ermittelt werden. Als Berichterstattungsanlass wurden Akteure ausgewählt, wenn eine Aussage von Ihnen erkennbar Grund des Artikels war. Das gleiche gilt für Besuche, Treffen, Reden und Ereignisse, die auf Akteure zurückzuführen waren.

Anlass für die meisten Artikel waren Aussagen und Aktivitäten der griechischen Regierung, in den meisten Fällen von Finanzminister Yanis Varoufakis und Ministerpräsident Alexis Tsipras. 58,6 Prozent der Artikel mit Akteuren als Berichterstattungsanlass waren erkennbar auf sie zurückzuführen. An zweiter Stelle standen Mitglieder der deutschen Regierung mit 14,9 Prozent der Artikel.

Mitglieder anderer europäischer Regierungen, zu denen z.B. die Euro-Finanzminister gezählt wurden, traten in nur 4,6 Prozent der Artikel als Berichterstattungsanlass auf. Am häufigsten traten in dieser Gruppe der Eurogruppen-Vorsitzende und niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem, der britische Premierminister David Cameron und der französische Präsident François Hollande als Anlassgeber auf. Häufiger schlossen sich Artikel an Aussagen und Aktivitäten von Mitgliedern der EU-Kommission an, dies war in 5,3 Prozent der Artikel der Fall. Am häufigsten genannt wurde hier EU-Kommissionspräsident Jean Cleaude Jucker und mit großem Abstand Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici.

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Berichterstattungsanlässe

Nur 1,8 Prozent aller Beiträge, die auf Akteure als Anlassgeber zurückzuführen sind, bezogen sich auf Mitglieder des Europäischen Parlaments. Das höchste demokratisch gewählte Gremium der Europäischen Union und seine Mitglieder spielten in der Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise erkennbar eine geringe Rolle. Auch die beiden in der griechischen Staatsschuldenkrise neben der EU zentralen Institutionen Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) waren nur äußerst selten Anlass für die Berichterstattung in den untersuchten Medien. 3,3 Prozent der Artikel hatten Aktivitäten oder Äußerungen der EZB als Anlass, nur 2,7 Prozent den IWF.

Dies zeigt, dass die Berichterstattung sehr stark regierungsgeprägt war. 79,9 Prozent der Artikel bezogen sich auf Aussagen und Aktivitäten von Regierungen, nur 8,7 auf parlamentarische Akteure. Europäische Akteure und zentrale Organisationen wie EZB und IWF waren entgegen ihrer Rolle in der griechischen Staatsschuldenkrise stark unterrepräsentiert. Zwei nationale Akteure, die griechische und die deutsche Regierung, standen erkennbar im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Berichterstattung. Die untersuchten Medien stellten durch ihre bi-nationale Berichterstattung einen bi-nationalen Konflikt dar. Von einer europäisierten Öffentlichkeit kann angesichts der von den Medien gewählten Berichterstattungsanlässe kaum gesprochen werden.

Der Anteil internationaler Akteure, insbesondere der EU-Kommission als Anlassgeber, nahm im Untersuchungszeitraum leicht zu bis auf 10 Prozent im Juni 2015. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass sich EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker ab Juni stärker in die Verhandlungen einbrachte, als diese ins Stocken gerieten, und vor dem Sondertreffen der EU Staats- und Regierungschefs im Juni 2015 zu vermitteln versuchte.

Von einer europäischen Öffentlichkeit weit entfernt

Am Beispiel der griechischen Staatsschuldenkrise sind die hohe Anzahl an nationalen, europäischen und internationalen Akteuren, die von der Krise betroffen und an ihrer Lösung beteiligt sind, und damit die Komplexität wirtschaftspolitischer Entscheidungen auf europäischer Ebene erkennbar. Bei diesen Entscheidungen geht es um Milliardenbeträge aus Steuergeldern der europäischen Bevölkerung. Die umfassende Information der Bevölkerung über die Entwicklungen und Entscheidungen in dieser Staatsschuldenkrise ist Aufgabe des wirtschaftspolitischen Journalismus. Eine europäische Perspektive durch die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit ist hier gefordert, damit die komplexen Zusammenhänge, Folgen und Entwicklungen auch sachgerecht dargestellt werden.

Europäische Akteure, insbesondere EU-Kommission, Europäisches Parlament und Europäische Zentralbank, spielten jedoch in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Sie waren selten Anlass der Berichterstattung und kamen auch nur selten zu Wort. Die Berichterstattung konzentrierte sich hauptsächlich auf den Konflikt zwischen deutscher und griechischer Regierung, andere Akteure kamen selten vor. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass bei der Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise kaum von einer europäisierten nationalen Öffentlichkeit in Deutschland gesprochen werden kann.

Otto, Kim/Köhler, Andreas (2016): The lack of a European public sphere in the debate on the European sovereign debt crisis, in: Würzburg Economic Papers, Nr. 96, http://www.wiwi.uni-wuerzburg.de/fileadmin/wifak/Downloadpool/WEP/2016/wep96.pdf

Bildquelle: EU Council Eurozone

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