Die Kristallkugel

2. Februar 2017 • Qualität & Ethik • von

Hartnäckig werden Umfrageforscher in der Öffentlichkeit in die Rolle von Propheten gedrängt. Doch diese Aufgabe können und wollen sie gar nicht erfüllen.

Wenn Karikaturisten versuchen, die Umfrageforschung darzustellen, kommen sie meistens auf die ungeheuer originelle Idee, eine alte Frau vor einer Kristallkugel zu zeichnen, anscheinend in dem Bestreben, die Forscher als unseriöse Wahrsager bloßzustellen. Ich habe diese Art der Darstellung immer als etwas seltsam empfunden, denn sie beruht auf einem Missverständnis: Mir ist noch nie ein Umfrageforscher begegnet, der für sich in Anspruch genommen hätte, die Zukunft vorherzusagen – zumindest nicht über ein paar Tage oder über sehr allgemeine Bemerkungen hinaus. Gleichzeitig scheint es aber bei Journalisten ein unstillbares Bedürfnis zu geben, Umfrageforscher als Wahrsager zu engagieren. Kein Wunder, dass sie dann rasch von deren Leistungen enttäuscht sind.

Vor etwa zwei Monaten verkündete Bundeskanzlerin Merkel, dass sie bei der Bundestagswahl 2017 noch einmal als Spitzenkandidatin der CDU/CSU antreten wolle. In den folgenden Tagen bestürmten mich Journalisten mit Telefonanrufen: „Was bedeutet das jetzt für die Bundestagswahl?“ „Wird die CDU davon profitieren oder sind die Leute der Kanzlerin überdrüssig?“ „Ist Merkel noch ein gutes Zugpferd?“ (Übrigens ein besonders hässliches Wort – als sei sie ein Ackergaul, den man vor einen beliebigen Wagen spannen könnte, als ginge es nicht um politische Überzeugungen.) Ich konnte nur antworten: „Keine Ahnung, fragen Sie mich in zehn Monaten noch einmal.“

Der Wahlkampf beginnt erst

Vergangene Woche überraschte die SPD die Öffentlichkeit mit der Nachricht, dass Sigmar Gabriel als Vorsitzender zurücktritt und an seiner Stelle Martin Schulz den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur übernehmen wird. Und wieder klingelte bei mir das Telefon: „Was bedeutet das jetzt für die Bundestagswahl?“ „Wird die SPD davon profitieren oder sind die Leute der Partei als Ganzes überdrüssig?“ „Ist Schulz ein gutes Zugpferd?“ Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich bin kein Prophet!

Die Umfrageforschung ist ein mühsames, zähes und wenn sie gründlich betrieben werden soll, auch ein etwas langwieriges Geschäft. Bevor ich schlaue Aussagen über den SPD-Spitzenkandidaten machen kann, brauche ich belastbare Zahlen. Die beruhen auf den Antworten hunderter, wenn nicht tausender Bürger. Die muss ich erst einmal aus der gesamten Bevölkerung auswählen und ihnen Fragen stellen. Dahinter steckt eine nicht ganz unbeträchtliche Logistik. In ein paar Wochen werde ich wahrscheinlich wissen, wie populär Martin Schulz bei der Bevölkerung wirklich ist, welche Qualitäten ihm zugetraut werden und ob er bei den potentiellen SPD-Wählern gut ankommt. Doch auch dann werde ich nicht wissen, ob er die Wahl gewinnen wird, denn der Wahlkampf beginnt ja erst. Bis zum September kann unendlich viel geschehen. Noch ist unklar, welche Themen den Wahlkampf beherrschen werden, wie sich die Kandidaten verhalten werden, ob sich jemand blamiert oder ob, wie im Jahr 2002, eine plötzliche Überschwemmung das ganze politische Klima verändert.

Nichts gegen Wahrsagerei

Die Demoskopie ist bestens geeignet, das Verhalten der Bevölkerung zu beobachten und seine Ursachen zu verstehen. Sie kann die Stimmungslage der Bürger untersuchen, teilweise ihnen selbst unbewusste Verhaltensmotive nachweisen. Sie kann derzeitiges und vergangenes Verhalten verstehen helfen, aber sie kann nicht das Verhalten der Menschen in einer fernen Zukunft messen.

Dabei ist gegen ein wenig Wahrsagerei im Prinzip gar nichts einzuwenden. Es gibt Forscher, die auf diesem Gebiet beträchtliches leisten. Der amerikanische Politikwissenschaftler Helmut Norpoth ist ein Beispiel dafür. Er analysiert seit Jahrzehnten immer zu Beginn der amerikanischen Vorwahlkämpfe die Ergebnisse der ersten „primaries“ und errechnet daraus den wahrscheinlichen Wahlsieger. So sagte er bereits im Sommer 2016 voraus, dass Trump mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Wahl gewinnen werde, zu einem Zeitpunkt, als außer ihm vermutlich noch niemand daran glaubte, möglicherweise Trump selbst nicht. Norpoth fiel mir zum ersten Mal im Jahr 1995 bei einer amerikanischen Fachtagung auf, wo er vor der versammelten Elite der amerikanischen Wahlforscher verkündete, dass Bill Clinton im folgenden Jahr wiedergewählt werden würde. Daraufhin brach der Saal in schallendes Hohngelächter aus. Clinton war zu diesem Zeitpunkt der unbeliebteste Präsident seit Harry Truman. Doch Norpoth behielt Recht.

Nicht unser Job

Gelegentlich werden Umfrageforscher mit solchen Prognosen konfrontiert und aufgefordert zu erläutern, warum sie selbst nicht die gleiche Leistung erbringen. Doch es ist weder die Aufgabe noch der Ehrgeiz der Umfrageforscher, in die Zukunft zu schauen, abgesehen von einer ganz allgemeinen Ebene, wenn es beispielsweise darum geht, den möglichen Kundenkreis eines neuen Produkts grob abzustecken oder zu prüfen, ob ein bestimmter Werbeslogan Erfolg verspricht oder nicht. Kein ernstzunehmender Umfrageforscher würde den Versuch unternehmen, acht Monate vor einer Wahl deren Ausgang vorauszusagen.

Prognosemodelle wie das von Norpoth und Umfragen verhalten sich zueinander so wie Wettervorhersage und Thermometer. Wenn es in der Vorhersage heißt, es werde in den nächsten Tagen kälter werden, dann wird das Thermometer vermutlich in den nächsten Tagen fallen. Tut es dies wider Erwarten nicht, ist in aller Regel nicht das Thermometer kaputt und schon gar nicht überflüssig, sondern die Prognose war falsch. So ist es auch bei Wahlvoraussagen wie denen von Helmut Norpoth: Sind sie korrekt, wird sich dies früher oder später in den Umfragen – und schließlich im Wahlergebnis – zeigen. Falls nicht, hat Helmut Norpoth etwas gelernt und wird sein Modell auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse überarbeiten.

Bisher musste er das nur selten tun, denn seine Prognosen sind seit Jahrzehnten erstaunlich genau. Wenn mir das nächste Mal wieder ein Journalist die Kristallkugel entgegenhält mit der Aufforderung, hineinzuschauen, sollte ich sie vielleicht gleich an ihn weiterreichen.

Dieser Beitrag wurde zuerst auf dem Blog Salonkolumnisten veröffentlicht.

Bildquelle: pixabay.com

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