Breaking News ohne Inhalt, Live-Ticker ohne Nachrichtenwert: Gerade im Online-Journalismus zählt jeder Seitenaufruf. Verschiedene Projekte stellen sich der Entwicklung, Clicks um jeden Preis zu generieren, entgegen – und setzen auf einen entschleunigten Journalismus.
Etwas Gegensätzliches machen zu einem extrem schnellen und billigen Journalismus, das ist das Ziel von Rob Orchard gewesen. 2011 gründete der Brite das Printmagazin Delayed Gratification. Der Name ist Programm, setzt das weltweit wohl erste Magazin des sogenannten Slow Journalism doch auf Entschleunigung. Vierteljährlich berichtet es über Ereignisse des jeweils vergangenen Quartals. Was im hektischen Online-Journalismus, in dem eine Nachricht den Leser möglichst schnell erreichen sollte, ein Fauxpas wäre, ist das Steckenpferd von Delayed Gratification, das die Langsamkeit zu seiner Tugend gemacht hat. Und der „Schnee von gestern“ hat mittlerweile schon 7.000 Abonnenten, knapp 70 Prozent davon aus dem Vereinigten Königreich, überzeugt.
„Wir wollten entschleunigen und den Wert einer Geschichte finden. Die übrige Berichterstattung erzählt, was passiert, aber nicht, was das bedeutet“, erklärte Rob Orchard während des International Journalism Festival in Perugia (Italien). Die Besonderheit des Magazins liege darin, nicht als erster, sondern als letzter Reporter vor Ort zu sein. Wenn die Kameras abgebaut, die Reporter abgezogen und ein Thema von der Agenda verschwunden ist, beginnt die Arbeit von Rob Orchard und seinem Team. Sie interessiert weniger das Ereignis selbst, sondern dessen Hintergründe und Folgen. „Was bleibt von dem Versprechen der Politiker, wenn niemand mehr hinschaut?“, fragte Orchard in Perugia – und berichtet regelmäßig in seinem Magazin darüber. Mit tiefgründigen Recherchen, mit einem zeitlichen Spielraum zum Ereignis und Interviewpartnern, die selbst ein wenig Abstand gefunden haben. Ein Vorteil, so der Brite: „Gerade in emotionalen Situationen wissen die Menschen oft nicht, was sie sagen.“
In den ersten drei Jahren des Magazins, sagt Rob Orchard, sei es schwer gewesen, sich überhaupt auf dem Markt zu etablieren. Drei Jahre lang zahlte er sich kein Gehalt, jobbte stattdessen. Sogar einen Teil seiner Hochzeitsgeschenke habe er verkauft, um das Magazin, das auf Anzeigen verzichtet, zu finanzieren. Seit 2014 habe sich die Investition ausgezahlt. Das Magazin schreibt schwarze Zahlen und könne nun in größere und bessere Geschichten investieren. Heute sagt er: „Nische ist möglich“.
Und trotzdem: Für Rob Orchard sind, wie er sagt, die Tage des Print-Journalismus gezählt, obwohl der Idealist gerade mit seinem Print-Produkt kleine Erfolge feiern kann. „Es gibt viele kostenlose Texte. Dass jemand dann täglich für Nachrichten bezahlt, ist schwierig“, sagt er, „aber man muss die Leute davon überzeugen, dass guter Journalismus kostet“. Den Leser erziehen also, gewissermaßen. Peter Laufer, Journalismus-Professor an der University of Oregon (USA), der zusammen mit Orchard das Panel „Slow news: la rivoluzione lenta“ in Perugia bestritt, nimmt dabei auch die Medien in die Pflicht. „Breaking News werden oft mit nur wenigen Bruchteilen von Informationen angeschoben. Warum verschiebt man diese nicht nach hinten, wenn die Nachrichtenlage klarer ist“, riet Laufer. Außerdem müssten die Relationen wieder stimmen: „5000 Journalisten berichteten über die Beerdigung von Michael Jackson. Das können auch weniger machen, während die anderen in den Rest der Welt gehen“, so der Journalismus-Professor.
Durch den Nachrichten-Dschungel im Netz leiten, das will auch das Münchner Start-up Piqd.de. „Wenn man ins Kino gehen will, liest man sich vorher auch die Kritiken durch“, erklärte Gründer Frederik Fischer ebenfalls während der Journalismus-Konferenz in Italien. Auf seiner Plattform, die Ende vergangenen Jahres startete und von der August Schwingenstein Stiftung finanziert wird, sollen lesenswerte Artikel aber nicht nur gelistet werden. „Es geht vielmehr darum, warum sie lesenswert sind“, sagte Fischer.
Für die Bewertung sind keine Maschinen, keine Algorithmen sozialer Netzwerke verantwortlich, sondern knapp 100 Experten, darunter Journalisten, Politiker und Wissenschaftler. Jeder von ihnen schreibt drei Bewertungen pro Woche. Auf diese Art könne der Durchblick behalten werden. „Es gibt Siegel für biologische Produkte, grüne Energie und Fairtrade. Vielleicht ja irgendwann auch für guten Journalismus“, sagt er. Piqd will nicht nur auf lesenswerte Geschichten der Mainstream-Medien aufmerksam machen. „Gut die Hälfte der Bewertungen bezieht sich auf unabhängige Medien. Hier finden wir hochmotivierte, talentierte Reporter, die aber alle darum kämpfen, ihre Marke zu entwickeln“, so Fischer. Soziale Medien wie Facebook, die ihren Teil zu einem immer schnelleren (und fehlerhaften) Journalismus beitragen, beim Aufbau dieser Marke gänzlich zu ignorieren, sei schwer. “Sie sollten vordergründig aber dazu genutzt werden, um die Leute auf das eigene Projekt aufmerksam zu machen und sie durch Facebook auf dessenWebsite zu bringen”, riet Fischer.
Auch Rob Orchard versucht, die sozialen Medien zu vermeiden. „Vom Twitter-Nonsens haben wir uns verabschiedet“, sagt er. Statt auf Click-Bates setze er auf kostenlose Events für die Abonnenten, auf eine Art Socialising. „Es ist wichtig, Menschen von deiner Idee zu überzeugen und sie um das Projekt zu bauen“, sagt Orchard.
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