Frankfurter Rundschau, 27. September 2003
Auch im 22. Jahrhundert wird es noch ein Publikum für guten Journalismus geben
«Langfristig sind wir alle tot», pflegte der Ökonom John Maynard Keynes auf die Frage nach Zukunftsprognosen zu antworten. Sozialwissenschaftler sind keine Propheten – was immer sie an Vorhersagen zu leisten vermögen, leiten sie aus bereits erkennbaren Trends ab, die sie in die Zukunft fortschreiben; und oftmals liegen sie mit ihren Prognosen daneben, weil eben doch alles ganz anders kommt. Dies gilt es voranzuschicken, wenn im Folgenden über die Zukunft überregionaler Tageszeitungen und des Qualitätsjournalismus spekuliert wird.
Seither sind viele Träume zerplatzt. Mehr als andere Branchen leiden die Medien, insbesondere die Tageszeitungen, unter der Wirtschaftskrise – so sehr, dass der Vorstandsvorsitzende der Springer AG, Mathias Döpfner, mittelfristig nur noch Platz für zwei überregionale Tageszeitungen in Deutschland sieht.
Etwa zwei Drittel ihrer Einkünfte beziehen Zeitungen aus dem Anzeigengeschäft. Und das bricht in schlechten Zeiten eben schnell weg – sei es, weil Firmen auf der Suche nach Einsparpotenzial zuerst ihre Werbeetats plündern, sei es, weil kaum noch Stellenanzeigen anfallen und auch niemand mehr für seinen Börsengang wirbt. Unter dem kumulativen Effekt, der so entsteht, haben dann all jene besonders zu leiden, die von der Werbung leben – vor allem überregionale Tageszeitungen.
Ob deren Krise konjunktureller oder struktureller Natur ist, darüber streiten Blattmacher und Medienmanager. Vieles deutet auf ein Strukturproblem hin: Vor allem Jobs, Autos und Immobilien werden immer öfter im Internet angeboten, und damit geht den Zeitungen eine ihrer einträglichsten Einnahmequellen verloren. Aber auch die Mediennutzer ändern sich. Die Generation der unermüdlich-eifrigen Zeitungsleser gelangt allmählich ins Rentenalter. Sofern den heute 20-Jährigen das Fernsehen als Informationsquelle nicht reicht, lesen sie Zeitschriften oder fischen sich ihre Nachrichten aus dem Internet.
Wird die Tageszeitung also allmählich zum Dinosaurier, der sich überlebt hat? So gut wie niemand rechnet mehr damit, dass die guten alten Zeiten wiederkehren, als die Gewinne üppig sprudelten. Manches, was sich Chefredaktionen und Verlagsleitungen damals ausdachten, war indes nicht nur übermütig, sondern auch überflüssig. Denn, Hand aufs Herz: Auch jetzt, mit gekürzten Umfängen, bietet jede überregionale Zeitung noch weit mehr Stoff, als wir Leserinnen und Leser in den täglich 30 Minuten verdauen können, die wir im Schnitt der Zeitungslektüre widmen. So hat die «Financial Times Deutschland» aus der Not eine Tugend gemacht und ihren durch das geringe Anzeigenaufkommen knappen Umfang zum Verkaufsargument geadelt. Die meisten Zeitungen können abspecken, ohne dass dies massiv die Qualität schädigt. Vermutlich merken es die Publika, die ja weniger Zeitungen lesen als die Journalisten, noch nicht einmal so richtig.
Also alles nur Aufgeregtheit und Larmoyanz der Betroffenen, kein Anlass zur Sorge? So einfach liegen die Dinge nicht. Wenn zurückgeschnitten werden muss, besteht immer die Gefahr, dass gesundes Fleisch amputiert wird. Der Qualitätsjournalismus befindet sich fraglos in einem Rückzugsgefecht. Es verschärft sich durch die Krise, hat aber auch viel mit den Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums zu tun. Plaudertaschen und Discjockeys, Talkmaster und Show-Artisten erobern unaufhaltsam Sendeplatz für Sendeplatz, und auf den ersten Zeitungsseiten ersetzen Soft News immer öfter anspruchsvolle Nachrichten. Wir werden schneller, aber womöglich doch weniger gründlich informiert.
Wir sollten uns aber auch klar machen, dass Zeitungs-Umfänge bisher nicht den Publikumswünschen folgen, sondern eben davon abhängen, wie groß der zu verteilende Werbekuchen ist. Ein Teil davon mag wiederkommen, wenn es mit der Konjunktur bergauf geht. Und ein Teil wird unwiderruflich ins Internet abdriften. Wenn somit eine Goldader versiegt, werden die Verlage – kurz- und mittelfristig – entweder weiter ihr redaktionelles Angebot zusammenstreichen oder/und eine andere Finanzierungsquelle anzapfen müssen: Wir Leserinnen und Leser werden für die Zeitung mehr bezahlen müssen, als wir es bisher gewohnt sind. Womöglich sollte uns ja eine «Frankfurter Rundschau» auch mehr wert sein als eine Tasse Cappuccino bei Starbucks.
Über Kosten des Journalismus wird im Übrigen noch weniger öffentlich diskutiert als über seine Qualitätsverluste. Woran es in Deutschland – ebenso wie in den meisten anderen Demokratien – fehlt, ist eine fünfte Gewalt, die die vierte im Zaume hält, ohne deshalb die Pressefreiheit zu gefährden. Diese fünfte Macht könnte der Medienjournalismus sein – die Berichterstattung der Medien über Medien und Journalismus. Doch die ohnehin recht zaghaften Versuche, den Medienjournalismus auszuweiten, werden in Deutschland bereits wieder rückgängig gemacht. So fehlt der Seismograph, der Fehlentwicklungen registriert und in die Redaktionen zurückmeldet. Und es fehlt beim Publikum an Verständnis, warum Journalismus und Medien so funktionieren, wie sie funktionieren.
Der größte Umbruch, der im Zeitungsjournalismus bevorsteht, wird allerdings einmal mehr durch neue Technologie ausgelöst werden: Vielleicht schon in ein paar Jahren werden wir so selbstverständlich mit einem faltbaren Display herumlaufen, wie wir heute in unserer Jackentasche ein Handy stecken haben. Dieses technische Wunderwerk wurde kürzlich auf der Cebit-Computermesse in Hannover vorgestellt. Es wird die immer noch klobigen und schlecht transportablen Laptop-Bildschirme ersetzen – und eben auch die Altpapierberge, die wir entsorgen müssen.
Die «Frankfurter Rundschau» wird uns dann per Knopfdruck jederzeit und allerorten elektronisch zugestellt werden. Wir werden sie im Internet nicht mehr zum Nulltarif erhalten, aber wir müssen voraussichtlich weniger dafür bezahlen als für die jetzige gedruckte Version. Denn die Redaktion ist im Budget eines Zeitungsverlags nur ein «kleiner» Kostenfaktor. Rund 80 Prozent der Ausgaben entstehen durch Papierverbrauch, Druck und Vertrieb. Sie lassen sich drastisch reduzieren, wenn jeder von uns zu Hause und unterwegs sein elektronisches Lesegerät parat hat.
Somit als Fazit zuerst die Bad News: Langfristig ist die Tageszeitung, wie wir sie heute noch kennen, tot. Die Marktfrau wird uns den Fisch nicht mehr in Zeitungspapier verpacken können. Sodann die gute Nachricht: Mitunter leben Totgesagte länger – ob «langfristig» zehn oder zwanzig Jahre heißt, vermögen nur Gurus, aber keine Kommunikationswissenschaftler vorherzusagen. Gewiss wird es indes auch im 22. Jahrhundert noch ein Publikum geben, das anspruchsvoll, neugierig und wissbegierig ist und das deshalb bereit sein wird, für qualitätsvollen Journalismus zu bezahlen, was er nun einmal kostet – mit oder ohne «Quersubventionierung» durch Werbung.
Schlagwörter:Zeitungskrise, Zukunft